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Wohnen im Betonturm in Prag und anderswo
Neue Zürcher Zeitung

Plattenbauten - ein internationalistisches Erbe in Osteuropa

29. Januar 1999
Der Aufbau einer klassenlosen und internationalistischen Gesellschaft ist den sozialistischen Ideologen und Machtpolitikern, wie die Geschichte inzwischen gezeigt hat, gründlich misslungen. Mindestens ein internationalistisches Erbe aber haben sie der Nachwelt trotzdem hinterlassen: die Plattenbauten. Ob in Berlin oder Warschau, Prag oder Budapest, ob in Gross- oder Kleinstädten: überall stehen die grauen, an überdimensionierte Schuhschachteln gemahnenden Blöcke. Im besseren Fall, wie etwa in Prag, wenigstens nur an der Peripherie, andernorts aber auch mitten im Stadtzentrum.

Dringende Sanierungsaufgaben

Das Wohnen im «Panelak», wie die Wohnblöcke auf tschechisch genannt werden, ist in Böhmen und Mähren für ein volles Drittel der Bevölkerung Realität. Das Verhältnis dürfte in den anderen ostmitteleuropäischen Ländern ähnlich sein, denn wie in allen Lebensbereichen wurde der sozialistische Fortschritt auch beim Wohnen primär von Moskau und dann von den einzelnen Landeshauptstädten im «sozialistischen Lager» aus zentral geplant. Wie ein tschechischer Architekt in einer Fernsehreportage bemerkte, war diese Planung so total, dass sie die Häuserblocks bis zu den kleinsten Details wie Türklinken und Halterrollen für WC-Papier vorzeichnete. Viel Gestaltungsspielraum habe es da für die Architekten nicht mehr gegeben. Der Planungszentralismus führte bisweilen auch zu Absurditäten der Art, dass etwa Balkone an Häuser ohne Balkontüren montiert wurden, weil den Planern etwas entgangen oder bei der Lieferung der Module sich jemand geirrt hatte, der Plan aber eingehalten werden musste.

Vom Vorzeigeprojekt des sozialistischen Wohnungsbaus sind die Plattenbausiedlungen inzwischen zu einem ernsthaften Problem geworden. Ein Aspekt ist die vielfach bedenkliche Bauqualität, die früher hinter Quantität und zeitliche Planerfüllung zurückzustehen hatte. Jetzt indessen stellt sich die Frage, was mit den vom Zahn der Zeit angenagten grauen Ungetümen an den Peripherien der Städte geschehen soll. Denn die ersten Plattenbausiedlungen aus den sechziger Jahren sehen laut Fachleuten dem baldigen Ende ihrer Lebensdauer entgegen, wenn nicht in nächster Zukunft etwas unternommen wird. Die Demontage der Wohnblöcke und die Lieferung der Betonelemente nach Holland zum Bau von Deichen, wie sie ein Witzbold anregte, sind allerdings keine Option, denn die Kosten dafür wären pro Einheit grösser als jene für eine Sanierung. Ein Professor für Bauwesen der Prager Technischen Hochschule CVUT hält die «Panelaky» grundsätzlich für erneuerbar, wobei die Kosten pro Wohnung nach heutigen Preisen 200 000 bis 300 000 Kronen (10 000 bis 15 000 Franken) ausmachen würden; rund ein Viertel des Preises, zu welchem solche Wohnungen derzeit auf dem Markt gehandelt werden.

Der Sanierungsaufwand übersteigt allerdings sowohl hinsichtlich der Finanzkraft als auch der Anforderungen an die Koordination die Möglichkeiten der Genossenschaften oder der privaten Besitzer einzelner Wohnungen. In der schon erwähnten Fernsehreportage wurde kritisiert, der Staat versuche sich der Verantwortung zu entledigen, indem er Wohnungen in Blöcken beschleunigt zu verkaufen suche und damit das Problem auf die Besitzer abwälze. Diese müssten sich dann untereinander auf so anspruchsvolle und kostspielige Vorhaben wie Dach- oder Fassadenrenovationen, Sanierung des Heizsystems und ähnliches einigen.

Gefahr sozialer Ghettos

Nicht minder problematisch als die bautechnische Seite der alternden Wohnsiedlungen ist jedoch auch der gesellschaftliche und psychologische Aspekt. Hier tickt laut Sozialexperten eine gefährliche Zeitbombe. Die Vorgabe der sozialistischen Planer lautete, für möglichst wenig Geld möglichst viel Wohnraum zu schaffen. Das Ergebnis sieht entsprechend aus. Die grossen Wohnsiedlungen werden von riesenhaften Blöcken dominiert, zwölf Stockwerke hoch und bis mehr als hundert Meter lang, Wohnung neben Wohnung über Wohnung ohne jegliche Gliederung. Da erstaunt es nicht, dass sich im Volksmund der Terminus «Kaninchenstall» eingebürgert hat. Der grössten derartigen Betonwüste rühmte sich in der ehemaligen Tschechoslowakei Bratislava mit dem Viertel Petrzalka, wo rund 50 000 Personen in solchen Blöcken wohnen.

Doch auch Aussenviertel von Prag wie die Satellitenstädte im Süden und Norden stehen nicht wesentlich zurück. Jetzt räche sich, so ein Architekt, dass früher der Gliederung der Siedlungen und der Gestaltung von Grünflächen viel zu wenig Beachtung geschenkt worden sei. Anregungen in dieser Richtung seien von den Technokraten mit den Worten abgetan worden, man solle sie doch nicht mit diesem «Spinat» belästigen.

Die Zeit hat zwischen den einzelnen Häusern jetzt zwar allenthalben im wahrsten Sinne des Wortes Gras über das Baugelände wachsen lassen, und kleinere, in Ordnung gehaltene Siedlungen können gar einen Anflug von Wohnlichkeit haben. Doch wer es sich heute leisten kann, zieht aus dem «Panelak» weg. Damit besteht die Gefahr, dass die soziale Durchmischung abnimmt und die Wohnsiedlungen zu Ghettos der unteren Gesellschaftsschichten werden. Jugendkriminalität und Drogenmissbrauch sind in diesen Betonburgen schon heute ein ernsthaftes Problem. Doch der schieren Masse von Wohnungen wegen, die in den Vorstädten stehen, kann sich Tschechien einen Verzicht auf dieses Potential nicht leisten, wie die Beamte Grabmüllerova vom tschechischen Ministerium für Wohnen und Regionalentwicklung meint. Deshalb bleibe gar nichts anderes übrig, als diesen Wohnraum durch Renovationen aufzuwerten und zu erhalten.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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