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Farnesische Antike im Habichtswald
Neue Zürcher Zeitung

Das auf den Herkules ausgerichtete Architekturtheater von Kassel

Der Bergpark Wilhelmshöhe in Kassel ist ein Architekturtheater, das in einer auf spitzer Pyramide stehenden Herkules-Statue kulminiert. Sie ist das Zentrum eines landschaftgestalterischen Gesamtwerks.

16. Januar 2016 - Bernt von Hagen
Kein noch so grosser Park kann mit dem Bergpark auf der Wilhelmshöhe am Westrand des Kasseler Beckens konkurrieren. Über 240 Hektaren erstreckt sich der seit 2013 als Unesco-Weltkulturerbe festgehaltene Landschaftspark als grösster Bergpark Europas, dessen fünf Kilometer lange Chaussée-Achse die Residenzstadt mit dem «Zielbild» (Erich Hubala) des ursprünglich in Sandstein geplanten, aber dann aus Kupferblechen getriebenen Farnesischen Herkules auf dem Habichtswald verbindet.

Aufwendig gestaltete Wasserspiele von Kaskaden und Fontänen, Grotten, Krypten und ein erst später gebautes Bergschloss – in Anlehnung an kaiserzeitliche Paläste in Rom – begleiten in «unverdorbener Natur» den Blick auf das abschliessende, über einem oktogonalen Grundriss aus Basalttuffsteinen errichtete, mit Freitreppen erreichbare Phantasiebauwerk auf dem topografisch höchsten Punkt. Es ist engstens mit Raum und Natur verbunden und ohne den Einfluss von Filippo Juvarras spätbarockem Klassizismus nicht denkbar.

Architektur und Landschaft

Als Vollender dieser Architekturphantasien gilt Johann Bernhard Fischer von Erlach, der wie kein anderer das Verhältnis von Natur und Architektur in effektvoller megalomaner Architekturgesinnung versinnbildlichte. Hans Sedlmayr (1956) erklärt die «Schau» so, dass sie «aus einer Resignation der Wirklichkeit» erzeugt wird. Kritisch äusserte sich Goethe, der alle Willkürlichkeiten hasste, in seiner «Italienischen Reise» 1786 auf dem Weg nach Rom, als er über die römische Wasserleitung in Spoleto berichtete: Während er in dieser einen grossen Sinn sieht, empfindet er den Winterkasten auf dem Weissenstein – wie man das Kasseler Projekt nannte – als ein «Nichts um nichts, ein ungeheurer Konfektaufsatz, und so mit tausend andern Dingen. Da steht nun alles tot geboren da, denn was nicht eine wahre innere Existenz hat, hat kein Leben und kann nicht gross sein und nicht gross werden.»

Über dem als Oktogon bezeichneten, idealtypischen basteiartigen Bau – mit seinen «Blicktoren» einem Belvedere ähnlich – ragt auf der Frontseite ein 10 Meter hoher pyramidaler Aufbau (treffender sollten wir von einem Obelisk sprechen) in die Höhe, der von der 8,3 Meter hohen kolossalen Herkules-Statue bekrönt wird. Sie ist das Herzstück des Architekturtheaters, das sich selbst zur Gigantomachie steigert, wobei der pyramidale Aufbau in den michelangeloesken Katafalken, Trauergerüsten und Wandgräbern des 16. Jahrhunderts wurzelt.

Den Auftrag zur Ausführung des monumentalen Gesamtkunstwerks, das Georg Dehio als «vielleicht das Grandioseste, was irgendwo der Barockstil in Verbindung von Architektur und Landschaft gewagt hat», bezeichnete und welches in Lage, Gestalt und Bestimmung singulär ist, erteilte 1701 Landgraf Carl von Hessen-Kassel (1654–1730) dem aus Rom stammenden Stuckateur und Architekten Giovanni Francesco Guerniero (1665–1745), der bereits mit Andrea Pozzo an den monumentalen Figurengruppen in den beiden römischen Kirchen Il Gesù (Ignatius-Altar 1695) und San Ignazio (Gonzaga-Altar 1697) tätig war.

Dagegen hat sich Guerniero als Architekt erst nach seiner Berufung 1701 nach Kassel mit dem weitverbreiteten, ab 1706 viersprachigen Planwerk «Delineatio montis» (Erstausgabe 1705 in Rom), das er dem Landgrafen Carl von Hessen widmete, einen Namen gemacht. Es besteht aus einem Konvolut von Stichen – der Titel weist bereits auf Skizzen, Umrisse und Grundrisse des Berges hin – und zeigt den Beginn des letzten, oberen Drittels der gesamten geplanten Bauausführung jedoch ohne Hinweis einer Kolossalstatue. Guerniero selbst sieht sich bescheiden als «geringes Instrument dieses grossen Werks», und zwar nach seinem Motto: «Damit die Gedanken von ferne sich einbilden können, was das Auge in der Nähe nicht sehen kann.»

Erst die 1713 datierte und von Guerniero signierte Zeichnung gibt zwei Obelisken mit den bekrönenden Figuren des Herkules und des heiligen Christophorus wieder, die ursprünglich geplant waren. Was die Monumentalität der freistehenden Herkules-Figur betrifft, wird zu Recht auf die über zwanzig Meter hohe, aus getriebenen Kupferteilen erstellte Kolossalstatue mit gemauertem Kern des hl. Karl Borromeo aus Arona am Langensee verwiesen. Anlässlich eines Besuchs des Landgrafen Carl bei dem Grafen Borromeo auf der Isola Bella lernte er die kurz vorher, 1696, fertiggestellte Statue kennen.

Wasser und Garten

Nach seiner Rückkehr nach Rom 1715 spielte Guerniero nachweisbar – wie sich neuerdings durch die grundlegende Arbeit von Antje Scherner (2011) herausstellte – eine grosse Rolle als Spezialist auf dem Gebiet der Hydraulik, als Architekt in Zusammenarbeit mit dem führenden Tessiner Baumeister Carlo Fontana sowie als Präfekt und Superintendent der Acqua Felice, einer der drei wichtigsten antiken Anlagen zur Wasserversorgung Roms.

Landgraf Carl liess sich auf seiner römischen Reise, die ihn zwischen 1699 und 1700 auch nach Frascati zur Villa Aldobrandini und nach Tivoli zur Villa d'Este führte, erstmals von den Landschaftsgärten und dem antiken Skulpturenschmuck beeinflussen. Als seine wohl wichtigste Inspiration der antiken Bildhauerkunst gilt die 1546 entdeckte, anfangs fragmentierte Skulptur des über drei Meter hohen Herkules der bis in das 5. Jahrhundert benutzten Caracalla-Thermen, welcher zum Inbegriff der farnesischen Antike wurde. Ihm stand damals, wie Antonio da Sangallo berichtet, als Pendant der Herkules Typus Caserta gegenüber, und zwar in einer Interkolumnie des Zugangs zum Frigidarium. Als Reisedokumentation erster Güte ist der Kupferstich des Herkules Farnese als Rückenansicht von Hendrick Goltzius, 1617, anzusehen, auf dem die beiden Reisebegleiter wohl als Grössenvergleich porträtiert sind.

In welchem Zustand fand Landgraf Carl den Herkules (der erst 1787 in die königliche Residenz nach Neapel überstellt wurde) im Hof des Palazzo Farnese in Rom vor? Auf jeden Fall zeigte der antike Herkules noch die von Guglielmo della Porta ergänzten Unterschenkel vom Knie bis zum Knöchel, die erst 1787 durch die Originalfunde aus dem am Ende der Via Appia Antica gelegenen Ort Frattocchie durch den Restaurator Carlo Albacini ersetzt wurden.

Dieser massige, muskulöse Koloss, dessen Stärke nach Wilhelm Heinses dionysischem Kunstroman «Ardinghello» von 1787 «zentnermässig über das Gefühl eines heutigen schwachen Römers» fällt, mit ausladend schwellendem Brustbogen, schweren Lenden und fleischigem Unterbauch. Er entspricht einem in der römischen Kaiserzeit weitverbreiteten Typus. Am Sockel trägt er die Signatur des Atheners Glycon (1. Jh. v. Chr.) und soll abhängig sein von dem nicht mehr erhaltenen bronzenen Vorbild des sikyonischen Bildhauers Lysipp (um 320 v. Chr.). Er wurde wohl unter dem Eindruck des Alexander-Erlebnisses geschaffen. Bis zu 91 Darstellungen dieses Typus zählt Dietheim Krull in seiner Dissertation (1985) auf, die auch in verkleinerter Form bis in die Bauplastik Eingang fand. Auch in Kassel, hier jedoch in Metallarbeit, wird der Held nach Vollendung seiner Taten in der berühmten Ruhepose dargestellt: gekennzeichnet durch die auf den Glutaeus gelegte rechte Hand mit den drei goldenen Äpfeln aus dem Garten der Hesperiden. Diese letzte der zwölf Taten des Herkules für den König Eurystheus war vergeblich, da die Äpfel wieder dorthin zurückkehrten, wo sie zuvor waren. Diese «nutzlose» Tat birgt jedoch eine hohe Symbolkraft, da sie die Unsterblichkeit des Helden vorwegnimmt.

Cesare Ripas «Iconologia» erkennt in den drei Äpfeln «die Überwindung des Zorns, die Mässigung der Habgier und die Verachtung von Wollust und Vergnügen». Die Äpfel gelten aber auch als Zeichen der Vergöttlichung und Sieghaftigkeit. Der linke, schlaff herunterhängende Arm stützt sich bei horizontaler Schulterlage auf die vom nemeischen Löwenskalp bedeckte Keule. Der massige, in Kassel weniger geneigte Rumpf, dessen stark übersteigerte, aus dem Innern hervorgehende Muskulatur in der Wissenschaft als «Alexanderbarock» einhergeht, ruht auf dem nicht mehr realen, sondern «scheinbaren» Kontrapost von Stand- und Spielbein, der die Gesamtdarstellung noch komplizierter macht. Es herrscht demnach ein «transitorisches Moment» vor, das nach Dietheim Krull im «Ringen um die erfahrbare Räumlichkeit» zu erklären ist. Betont wird dieser unentschiedene Eindruck durch das keilartig vorstossende linke Bein, das die Last des Körpers aufnimmt. Die Beinstellung vergleicht Jacob Burckhardt in seinem «Cicerone» mit der «Leichtigkeit eines Hirsches».

Licht- und schattenwirksam umspülen flockige Haar- und Bartlocken, die im Duktus gleichförmig, aber dadurch nicht minder wirksam sind, den hier entsprechend riesigen Kopf. Dessen leichte Neigung vermittelt erneut den Erschöpfungszustand und hebt damit die menschliche Natur des Herkules in Verbindung mit den übermenschlichen, kraftzehrenden Leistungen hervor. Der im Original zu klein ausgefallene, später in einem Brunnen in Trastevere gefundene Kopf veranlasste Johann Joachim Winckelmann (1764) zu einer spöttischen Bemerkung über Kunstfreunde, die immer «zuerst die Mängel vor dem Schönen erkennen wollen».

Landgraf Carl konnte schliesslich im Jahr des Friedens von Utrecht 1713 den aus einer berühmten Augsburger Goldschmiedefamilie stammenden, in Berlin ansässigen, späteren Hofgoldschmied zu Kassel, Johann Jacob Anthoni d. J. (1674 bis 1725), gewinnen, der in barocker Gesinnung zwischen 1714 und 1717 den über acht Meter grossen Herkules auf Fernwirkung – erfahrbar nur in Verbindung mit der Natur – schuf.

In gewisser Hinsicht sind wir hier dem Auftraggeber Landgraf Carl nähergekommen, der sich durchaus als Tugendheld nach gewonnenen Schlachten auf der Seite der alliierten Truppen gegen Frankreich im Spanischen Erbfolgekrieg (1701–1714) wiedererkennen wollte. Davon zeugte das zum grössten Teil nicht mehr erhaltene Skulpturenprogramm, das bildlich von der herrlichen, grossformatigen Prospektserie des Haarlemer Künstlers Jan van Nickelen und seines Sohns Rymer festgehalten und zuletzt ikonografisch ausreichend von Agnes Tieze (2010) gewürdigt wurde.

Die Haltung des Herkules, die dem Prinzip Leonardos entspricht, stehende Gestalten so zu disponieren, dass ihre Masse sich «zu gleichen, einander gegenüberstehenden Theilen um das ‹centro del suo sostentacolo› verteile, d. h. um ein senkrechtes Mittellot, das in der Ruhelage durch den Standfuss und die Halsgrube führen sollte» (E. Panofsky, Nachlass 2014), reizt immer wieder zu neuen Interpretationen, so z. B. in der von dem George-Schüler Berthold Vallentin verfassten Napoleon-Biografie (1926): «Gerade das Gleichgewicht anscheinend widerstreitender Lebenselemente Kraft im Zustand der Ruhe und Grösse im Ausdruck der Verhaltenheit macht die erhabene Wirkung des vollendeten Menschentums aus, das wir in den Statuen des klassischen Altertums bewundern.»

Für Anthoni, dessen getriebene Inschrift anlässlich einer 1900 durchgeführten Reparatur in der Schädeldecke des Herkules entdeckt wurde, diente als Grundlage ein Holzmodell, das er mit einzelnen grossformatigen, ausgeschnittenen und getriebenen, zwei bis drei Millimeter starken, aus heimischem Bergbau stammenden Kupferblechsegmenten (insgesamt 21 Teile) versah. Diese Einzelteile, die teils mit geradem Stoss und teils geschränkten Nähten verbunden sind, wurden von unten nach oben vernietet und anschliessend verlötet. Ein aus Eisenstangen bestehendes, begehbares Innengerüst, das zum Schutz vor Korrosion mit bleimennighaltiger Ölfarbe gestrichen wurde und bis in den Sockel reichte, sorgte für eine Versteifung und Stabilisierung der Statik (Astrid Schlegel, 2011). Kleine Röhrchen und Öffnungen gewährleisten die Belüftung und Entwässerung.

Skulptur als Architektur

Die ganze technisch ausgeklügelte Methodik von Herstellung und Stabilisierung der Herkules-Statue war für die Restauratoren (Haber & Brandner, Regensburg), die im Rahmen einer grossangelegten Instandsetzungsmassnahme unter Leitung des Hessischen Landesamtes für Denkmalpflege zwischen 2006 und 2008 eine umfangreiche Konservierung vornahmen, immer wieder überraschend. So konnte festgestellt werden, dass nicht nur die exakt 300 Jahre alte Kupferhaut mit ihrer flächendeckenden hellgrünen Patina in einem guten Zustand war, sondern dass auch das statische System, das extremer Witterung und Windlasten bis zu 180 Kilometern pro Stunde ausgesetzt ist, bis heute im Prinzip funktioniert, auch wenn zur Ertüchtigung das Eisengerüst grösstenteils durch Edelstahl ersetzt werden musste. Zu beklagen waren dagegen schwere Schäden im Tuffstein-Mauerwerk des Oktogons und des Obelisken.

Verschweigen darf man nicht die Tatsache, dass gerade durch die historische Begehbarkeit der Kolossalstatue eine erforderliche Wartung immer möglich war und weiterhin eine solche auch gewährleistet sein muss. Nur so kann der in das Architekturtheater fest eingebundene Herkules als «Zielbild» des einzigartigen Gesamtwerks von Architektur, Kunst und Technik des europäischen Absolutismus, das sich im Bergpark von Kassel-Wilhelmshöhe so eindrucksvoll manifestiert, erhalten bleiben.
[ Dr. Bernt von Hagen ist Kunsthistoriker und Ortskurator Augsburg der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. ]

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