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Kühnes städtisches Versatzstück
Neue Zürcher Zeitung

Neuer Stadtraum dank einer Geleiseüberbauung in Genf

5. Februar 1999 - Ursula Rellstab
Seit 1987 fahren die Intercityzüge bis zum Flughafen Genf Cointrin. Um die Lärmimmissionen auf die umliegenden Wohnquartiere zu vermindern, beschlossen die Behörden, die Geleise zu überdachen. Nach dem Abschluss der Arbeiten im Jahre 1994 begann man die 825 Meter lange Betonnarbe zu bebauen. Die gelungene Intervention dürfte ähnliche Diskussionen in anderen Städten beflügeln: in Zürich etwa jene um die Rosengartenstrasse.

Tagsüber fuhren die Züge, nachts wurde gebaut: Mit Argusaugen verfolgten die Quartierbewohner, wie die bis zu 35 Meter langen und 40 Tonnen schweren Betonbalken durch die Quartierstrassen balanciert und bei Scheinwerferlicht per Krahn quer über den Bahneinschnitt gelegt wurden. Den Baulärm nahmen die Bewohner in Kauf, denn im Gegenzug verhallte der Bahnlärm Meter um Meter unter einem Betondeckel.

Nach der Überdachung der Wettbewerb

In den achtziger Jahren waren in Genf verschiedene Studien zur Überdachung der Gleisanlagen durchgeführt worden. Schliesslich wurde der Baukredit von 70 Millionen Franken für den Tunnel gesprochen (Stadt Genf: 53 Millionen, Kanton Genf: 15 Millionen, SBB: rund 2 Millionen). Das war selbst im Boomjahr 1988 kein Pappenstiel. Dafür gewann die Stadt rund 20 000 Quadratmeter Land, auf dem sie dereinst, wie die Politiker hofften, 14 500 Quadratmeter Bruttogeschossfläche für lukrative «activités» vermieten wollte. Daraus ist nichts geworden: Denn «die Überdachung wurde in der Hochkonjunktur bewilligt und wird heute, in einer Zeit der Armut, überbaut». Visionen für dieses ungewöhnliche Grundstück von 825 Metern Länge und rund 25 Metern Breite gab es erstaunlicherweise nicht. Erst ein paar Tage nachdem der erste Betonbalken über den Graben gelegt worden war, im Mai 1992, wurde der öffentliche Projektwettbewerb abgeschlossen. Ihn gewannen die jungen Architekten Pierre Bonnet, Pierre Bosson und Alain Vaucher aus Carouge.

Als 1858 die Bahnlinie gebaut wurde, bestanden die Quartiere Saint-Jean und Charmilles noch nicht. In der damals noch idyllischen Landschaft standen Villen und dazugehörige Bauernhöfe. Das Gebiet nördlich und südlich der Geleise wurde, ein paar Grünräume ausgenommen, um 1900 und dann vor allem in den zwanziger und sechziger Jahren mit meist sieben- und achtstöckigen Wohnburgen überbaut. Wegen des Gleiseinschnitts entwickelte jedes der Quartiere seine eigene Identität. Charmilles bekam ein grosses Shopping-Center. «Es waren nicht die Planer, es war die Migros, welche bestimmte, wo das Quartierzentrum stehen sollte», meinte ein Bewohner. Die nun mit einem Betondeckel geschlossene Schneise wird also kaum zum Quartierzentrum aufsteigen, obschon sie zentral zwischen den Quartieren liegt und die Gebäude, die bereits stehen oder gebaut werden sollen, Publikum anlocken werden. Bei diesen handelt es sich um ein Quartierhaus, eine Bibliothek, «Familienateliers» und professionelle Ateliers, Bauten für Kinderkrippen und verschiedene Sozialdienste, eine riesige Dachkonstruktion für den Markt sowie einen Aussenraum zum Flanieren. Die geplante Post hingegen wurde anderswo errichtet, und für die Brasserie fanden sich keine Investoren.

Die beteiligten Behörden und Architekten vertraten zwei unterschiedliche städtebauliche Ideologien. Die einen waren der Ansicht, «die Geleiseüberbauung solle die beiden Quartiere zusammenschweissen und so den Eingriff des letzten Jahrhunderts verwischen». Die anderen wollten, dass «die Geschichte ablesbar bleibe». Diese Ansicht setzte sich schliesslich durch. Sie erhielt Sukkurs durch einen Sachzwang: Die Geleise konnten nicht abgesenkt werden, weil das Terrain sonst für die Bahn zu steil geworden wäre. Dadurch liess es sich nicht verhindern, dass das Tunneldach höher zu liegen kam als das Niveau der angrenzenden Quartierstrassen. Auch das Fehlen von Vorstellungen für die Zukunft der «couverture» generierte einen Sachzwang: die gewählte Konstruktion der Überdachung erlaubt nur leichte Bauten. Häuser der Dimension, wie wir sie in den angrenzenden Quartieren fast ausschliesslich finden, wären hier nicht möglich.

Heute stehen 70 Prozent der Bauten, der Rest wird im Frühjahr in Angriff genommen. Der Aussenraum ist weit gediehen und soll im März bepflanzt sein. Die Übergänge von der Gleisüberdachung zum Umraum sind noch nicht ganz fertiggestellt. Keine der neuen Bauten ist höher als drei Stockwerke, und alle Fassaden sind aus ungehobeltem Lärchenholz, das sich heute - je nach Behandlung - bald gelblich, bald orange gibt. In wenigen Jahren aber wird es grau sein und sich dannzumal mindestens farblich der Umgebung anpassen. Gleichwohl fragt man sich, warum in dieser ausgesprochen städtischen und steinernen Umgebung ausgerechnet mit Holz gebaut wurde. Bonnet, Bosson und Vaucher, als Preisträger verantwortlich nicht nur für die städtebauliche Lösung, sondern auch für das architektonische Grundkonzept, beispielsweise für Volumen und Fassadenverkleidung, suchten nach einem leichten Material, um zu dokumentieren, dass hier leicht gebaut werden musste. Ausserdem inspirierten sie sich an den Holzbauten, etwa den Güterschuppen, wie wir sie in der Nähe von alten Bahnhöfen finden. Den Vorwurf, unkritisch dem ökologischen Modetrend Holz gefolgt zu sein, weisen die Architekten zurück. Im Zusammenhang mit dem Ziel, «Geschichte nicht zu vertuschen», verweisen sie auf das Grün des ehemaligen Bahneinschnittes und auf den Wunsch der Bewohner nach etwas Natur.

Warum sie diesen Wunsch bei den Fassaden einzulösen versuchten, ihn aber bei der Aussenraumgestaltung kaum berücksichtigten, fragt man sich beim Spaziergang über die Betonplatte zwischen den Bauten. Genf habe eine Tradition, seine Trottoirs mit länglichen Betonplatten zu belegen. Ein Augenschein im Zentrum bestätigt dies hier und dort. Und doch: es macht einen Unterschied, ob Trottoirs so bedeckt sind oder eine doch zuweilen 25 Meter breite Fläche. Es gibt allerdings Unterbrüche und Einschnitte in dieser hellgrauen Platte. Da sind nicht nur die Bauten, sondern auch die ehemaligen Brücken zu nennen, die dank der Überdachung zu Strassen avancierten. Da wären auch die rechteckigen Ausschnitte und jenes 1200 Quadratmeter grosse Dreieck, das sich der sanften Kurve des nunmehr unterirdischen Gleiskörpers anschmiegt, zu erwähnen. Diese sind mit Bäumen bepflanzt worden.

Halle und Quartierhaus

Am Ostende der Platte, dort, wo die Brasserie hätte gebaut werden sollen, könnte - so eine der kursierenden Ideen - bereits im Frühling ein kleiner Wald aus Riesenbambus stehen. Alle diese Teile des Aussenraumes geben sich städtisch. Die Holzhäuser stehen also keineswegs auf einer ländlichen Enklave. An einer Stelle allerdings soll die Natur sich entfalten dürfen: am Westende der Stadtschneise, dort, wo sich der Blick in Richtung Jura öffnet, wird - vorbehältlich der Zustimmung im Stadtparlament - ein «jardin urbain» entstehen mit Pionierpflanzen und Weiden. Daneben ist ein Teil des Areals für Stadtsportarten wie Streetball und Skateboarden reserviert. Das hat Sinn, weil es neben der Markthalle und dem Quartierhaus liegt. Die Holzhalle überdeckt eine Fläche von 1250 Quadratmetern, ist 7,5 Meter hoch und auf dreieinhalb Seiten offen. Der weite und wenig definierte öffentliche Raum unter ihr lässt aufatmen in diesem dicht bebauten Quartier. Hier soll der Quartiermarkt abgehalten werden, es sollen aber auch Festveranstaltungen des angrenzenden Quartierhauses stattfinden. Ausserdem dürfen hier die Krippenkinder spielen.

Halle und Quartierhaus wurden von den Architekten Bonnet, Bosson und Vaucher gebaut. Beide sind mit viel Detailliebe ausgeführt. Die 6,7 Meter langen Bretter aus Tessiner Lärchenholz, mit denen die Fassade des Quartierhauses verkleidet ist, wurden sorgfältig verarbeitet. Dadurch wirkt das Gebäude überhaupt nicht rustikal. Das Quartierhaus mit dem Mehrzwecksaal und den Ausstellungs-, Spiel- und Klubräumen wurde in enger Zusammenarbeit mit Vorstand und Mitarbeitern konzipiert und ist von den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gut angenommen worden. Die Quartierhaus-Equipe hat bei Bewohnern und Behörden einen guten Ruf. Sie hat sich stets für bewohnerfreundliche Lösungen der Geleiseüberbauung eingesetzt, zum Beispiel indem sie eine Koordination der verschiedenen Vereine des Quartiers zustande brachte. Leider ist sie nicht in allen Teilen durchgedrungen.

Geht man vom Quartierhaus in Richtung See, so stösst man auf weitere Bauten. Da sind zunächst zwei Baukörper, die einen begehbaren, nur gerade 3,3 Meter breiten Zwischenraum bilden. Diese eigenwillige Anordnung, die sich mehrmals wiederholt, suggeriert ein Gässchen. In den ersten beiden Bauten ist ein städtisches Sozialzentrum untergebracht, in das sich verschiedene Organisationen eingemietet haben: das Rote Kreuz Genf, eine Hilfe für bedrängte Personen und eine Haushalthilfe für Kranke. Für diese Gebäude haben die Wettbewerbsgewinner nur Volumen, Holzfassade und die Dachgestaltung mit blaugrünen Glasscherben festgelegt. Das gilt auch für die Ateliers. Sowohl beim Sozialzentrum als auch bei den Ateliers wurden architektonische Kompromisse in Kauf genommen, die sich begründen lassen.

Ateliers für Familien und Künstler

Der Stadt Genf gelang es nicht, Investoren für diese Bauten zu finden. Nur ein Möbelhändler meldete sich, und so war denn die Stadt an einem Angebot der Genfer Architektengruppe CDM, zu der Herminio Carro, Benoît Dubesset und Wojciech Mucha gehören, interessiert. Dieser war nicht verborgen geblieben, dass Künstler gerne billige Garagen oder alte Fabrikräume mieteten, um sie als Ateliers zu nutzen. Die CDM-Architekten führten eine Umfrage durch und schlugen daraufhin der Stadt vor, ihnen diese schwierigen Gebäude im Baurecht zu überlassen. Eine Genossenschaft wurde gegründet; mit von der Partie war das Comptoir Genevois Immobilier. Der Kantonalbank gefiel der soziale und innovative Aspekt des Projektes, und sie ging das Risiko der Finanzierung ein.

Die Mieten für die Familienateliers und die «ateliers professionnels», in denen die Mieter einem vollen Erwerb nachgehen dürfen, sind tief, weil die Stadt, die sich das Terrain von den SBB im Baurecht gesichert hat, bei ihren Baurechtnehmern vorderhand auf einen Zins verzichtet und weil die Kantonalbank besonders günstige Bedingungen anbietet. Dazu kommt der minimale Standard der Innenräume: Zementboden und Wasseranschluss in jedem Raum, Toiletten auf den Etagen. Einzelne Fassadenelemente geben den Ateliers einen Anflug von Gewerbebauten. Da sind zum Beispiel die Fenster und Türen, die auf Grund des Preises und nicht des Aussehens wegen ausgewählt wurden. Die ursprünglich im Gebäudeinnern geplante Erschliessung wurde durch Aussentreppen und Balkone aus Eisengittern an den Fassaden ersetzt. Dazu mussten Kompromisse ausgehandelt werden zwischen den für die Volumen und Fassaden verantwortlichen Architekten Bonnet, Bosson, Vaucher und den CDM-Architekten, die die Ateliers bauten.

Für Bonnet, Bosson, Vaucher, die puristisch denkenden Gewinner des Wettbewerbes, ist diese Entwicklung schmerzlich, für die beiden Quartiere aber ist sie durchaus positiv. Im Nu waren 95 der 100 Ateliers vermietet. Die Vielfalt an Nutzungen, die man hier antrifft, erstaunt. Sie reicht von der Buchhandlung über ein Puppentheater, eine Bäckerei mit Tea-Room, eine Tanz- und eine Englischschule für Kinder bis zu Vereinssekretariaten. Hier arbeiten aber auch ein Modellbauer, ein Schriftsteller und ein Multimedia-Künstler. Die Anwohner hoffen, dass dieses bunte Innenleben bald auch den Aussenraum beleben wird. Gespannt sind sie auch auf die noch zu errichtenden Bauten: Der «lieu de l'enfance» mit drei verschieden geführten Kinderkrippen wird von den Wettbewerbsgewinnern zusammen mit Christoph Roiron gebaut. Das 65 Meter lange Gebäude wird sich ebenfalls an die leichte Kurve des unterirdischen Bahntrassees halten. Die Kinderkrippen kommen in eine architektonisch anspruchsvolle Nachbarschaft zu stehen, nämlich neben die legendäre Maison Ronde, den 1928/30 gebauten Wohnblock von Maurice Braillard. Die zukünftige Quartierbibliothek, ebenfalls in der Nähe von Braillards Bau, wird nach Plänen von Daniel Baillif und Roger Loponte aus Carouge realisiert.

Nicht befriedigend gelöst sind die beiden 825 Meter langen Übergänge zwischen der «couverture» und den angrenzenden Quartieren. Das Tunneldach überragt aus ingenieurtechnischen Gründen das Niveau der Quartierstrassen um 0,4 bis 1,6 Meter. Anstatt dieses Handicap mit städtebaulichem Know-how zu meistern, hielt man sich allzu sklavisch an die Ideologien des «Ehrlichseins» und des «Ablesens von Geschichte», spielte wenig attraktive Mauern zu erwünschten städtischen Elementen hoch und erschwerte so den Zugang und das Überqueren der Platte: Dies ist wohl aber die einzige Schattenseite dieses städtischen Versatzstückes, das sich sonst durch erfrischende Kühnheit auszeichnet.

Ursula Rellstab

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