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Kritisches Alter von 30 bis 80
Kritisches Alter von 30 bis 80, Foto: Margherita Spiluttini
Kritisches Alter von 30 bis 80, Foto: Margherita Spiluttini
Spectrum

Ernst Hiesmayrs Clima Villenhotel in Wien Nußdorf, ein beispielhaftes Bauwerk der sechziger Jahre, wird dieser Tage umgebaut und in seinem architektonischen Ausdruck zerstört: was zwar Rechtens, aber trotzdem ein kultureller Fauxpas ist. Ein Einwurf.

27. März 1999 - Walter Zschokke
An einer landschaftlich empfindlichen Stelle am Siedlungsrand unter den Weinbergen im Norden Wiens Ernst Hiesmayr vor drei Jahrzehnten einige flache Quader gestaffelt in die anspruchsvolle Topographie. Sie versammelten sich um einen ruhigen Gartenhof, in dessen Teich Enten ihre Küken großzogen.

Die klar zugeschnittenen Volumen wiesen eine äußere Schale aus Sichtbeton auf, die seitlichen Sichtschutzlamellen an den Balkonen bestanden aus Holz, alle übrigen Ausbauteile, ob Geländer, Kragrahmen, Bodenplatten oder Treppenstufen, waren aus einem einzigen Material, aus sorgfältig gegossenem Stahlbeton, gefertigt.

Schon nach wenigen Jahren hatte wilder Wein die blockartigen Baukörper überzogen, sodaß zwischen rauhem, felshaftem Untergrund und weichem Blätterpelz –noch in den sechziger Jahren – mit Absicht jenes gleichgewichtige Spannungsverhältnis von Menschenwerk und Natur aufkam, das ein Dutzend Jahre später von vielen eingefordert wurde.

Die Anlage diente als Villenhotel, hätte aber ökonomisch gewinnbringender auch als anspruchsvolle Wohnsiedlung genutzt werden können. Als beispielhafte Architektur einer touristischen Infrastruktur wie als feinfühlige Setzung in landschaftlich empfindlicher Lage fand es von fachlicher Seite Anerkennung. Die reduzierte Formensprache, ein spezifisch knapper Materialeinsatz, das Blockhafte der Mauern, die großflächig verglasten, zur Landschaft sich weitenden Innenräume und zum Verweilen einladende Gartenbereiche – all dies erinnerte irgendwie an Kargheit und Lebenskraft alpiner Landschaften, an die Selbstverständlichkeit des einfachen, auf jahrhundertealten Erfahrungen und Sparsamkeit beruhen-fügte den Bauens in vielen ländlich-gebirgigen Gegenden der Erde.

In den siebziger Jahren kam es dann zur pauschalen Verurteilung der zweiten Moderne an Hand der gravierenden Auswüchse des Bauwirtschaftsfunktionalismus, zur generellen Ablehnung sichtbaren Betons und in der Folge zur selbsternannten Postmoderne mit ihren billigen Rezepten, was zu wenigen interessanten und unzähligen mittelmäßigen und schlechten Bauten führte. Der Publikumsgeschmack driftete mangels gelebter kultureller Führung durch weltoffen-bürgerliche und intellektuelle Schichten zu Hundertwasser und Medienboulevard.

Eine Erneuerung der Architektur formulierte sich vorerst aus gesellschaftlichen Gegensätzen. Die Architektur der fünfziger und sechziger Jahre geriet in Vergessenheit – übrigens in einer Zeit, als die Fachöffentlichkeit sich pionierhaft und kämpferisch um die Erhaltung der Werke Otto Wagners verdient machte!

Irgendwann kam es seitens der Stadt Wien zu einer Aufzonung des Grundstücks, was einer Vergrößerung des potentiellen Bauvolumens an dieser Stelle gleichkam. Bei genauerer Begutachtung des empfindlichen Siedlungsrandes am Fuß des Nußbergs ruft dies heute leichtes Kopfschütteln hervor.

Nach einer Handänderung sieht der neue Eigentümer sich legitimiert, den möglichen höheren Ertrag auch zu realisieren. Marktwirtschaftlich und rechtlich ist das Urteil schon gesprochen. – Zu diesem Zeitpunkt rufen besorgte Bürger in der Regel nach dem Denkmalamt. Doch dafür ist es historisch gesprochen zu früh, denn auf ein wissenschaftlich nachweisbares „öffentliches Interesse“ hat sich die Zivilgesellschaft noch nicht geeinigt. Denn es mangelt in Mitteleuropa an einer Kultur des sorgenden Umgangs mit Werken der jeweiligen Vätergeneration. Erst die Enkel sind bereit, in den Arbeiten der Großväter Beispielhaftes zu erkennen.

Es ist heute ein leichtes, für die Bewahrung eines beliebigen Gründerzeithauses breite und emotional gestützte Zustimmung zu erhalten. Daß dabei die Qualitätsfrage außer acht gelassen wird, stört nur wenige. Es reichen hundert Jahre Baualter, um die Gemüter zu rühren. Das Denkmalamt seinerseits verfügt für diese Zeitabschnitte über gesicherte wissenschaftliche Beurteilungskriterien. Alterswert und architektonischer Wert lassen sich diskutieren und bestimmen.

Daß in spezifischen Ausnahmefällen wie beim Museumsquartier die Gehsteigzeitungen von ihren Einflußmöglichkeiten demagogisch Gebrauch machen, wissen wir. Sie tun es aber nicht in hundert anderen Fällen, weil diese für ihre täglichen Zwecke uninteressant sind. Dagegen ist die knapp eine Generation zurückliegende Zeit gleichsam eine Terra incognita. Vieles ist vergessen, und das Feld wird beherrscht von subjektiven Erinnerungen, die jeweils individuell als richtig verteidigt werden, für die aber noch kein (Architektur-)Historiker das objektivierende Bezugsfeld erarbeitet hat.

Die nachfolgende Generation ist mit ihrer eigenen Entwicklung befaßt, wird sich daher kaum um eine Würdigung der Bauten ihrer direkten Vorgänger kümmern, umso mehr, als deren Exponenten gar nicht selten ihren Einfluß auf das Tagesgeschehen noch geltend machen können: Wir haben es hier auf dem Feld der Architektur mit einem Phänomen, vergleichbar dem der späten Hofübergabe, zu tun – mit allen Begleiterscheinungen.

Doch vielleicht braucht es dieses glättende Vergessen, bevor wieder Werte gesetzt werden können. Es wäre daher im individuell konkreten Fall Sache der Zivilgesellschaft, Aufgabe ihrer mündigen Bürger, ihre Rolle eigenverantwortlich im Wechselspiel zivilisatorischer Entwicklung wahrzunehmen. Eine gesetzliche Verpflichtung gibt es nicht, nur eine kulturelle. Fachleute stehen zur Verfügung, man muß die entsprechenden Forscherpioniere nur beiziehen.

Die Verantwortung liegt daher in der Phase unklarer offizieller Bewertung bei den Besitzern und Eigentümern, auch bei den Käufern und Verkäufern. Ein Marktgeschehen, gespickt mit Zufällen, befindet darüber, ob ein Bauwerk den unsicheren Lebensabschnitt im Alter zwischen drei und acht Jahrzehnten auch bezüglich seines architektonischen Charakters unbeschadet übersteht.

Dabei können wir uns heute nicht mehr auf Weltkriege und gebrochene Biographien der Exponenten ausreden. Es hängt schlicht davon ab, ob die mit einer Liegenschaft befaßten Leute: Eigentümer, Architekten, Beamte, über das entsprechende Kulturverhalten verfügen, ob sie „Kultur haben“, wie man im Alltag sagt. Ob also dieser Markt unter einigermaßen kultivierten Bedingungen abläuft.

Dann läßt sich nach bestem Wissen und Gewissen bewahren und/oder weiterbauen und/oder erneuern. Und dann wird das Urteil der Geschichte auch ein positives oder zumindest ein mildes sein.

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