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Ein Fall für die Blaue Lagune?
Spectrum

Goethes Weimarer Gartenhaus gibt es jetzt doppelt: Der Urahn bürgerlicher Wohnkultur wurde Im Park an der Ilm originalgetreu nachgebaut. Aber warum nur einmal? Warum nicht in einer kostensenkenden größeren Serie als Fertighaus?

17. April 1999 - Walter Zschokke
Gutbürgerliche Sparsamkeit legte schon immer Wert darauf, von einem guten Stück deren zwei zu haben. Und was bei Schuhen recht ist, erscheint bei Gartenhäusern billig. Das leuchtet jedem ein.

Doch gehen wir erst einmal zu den Wurzeln: Obwohl vor 223 Jahren von Herzog Carl August gesponsert, der das bereits damals bejahrte Weinberg- und Gartenhaus seinem 27jährigen Erzieher grundüberholt und mit einigen Möbeln eigener Wahl zur Verfügung stellte, gilt das als „Goethes Gartenhaus“in die Architekturgeschichte eingegangene Gebäude als Urahn bürgerlicher Wohnkultur.

An ihm orientierten sich die Sehnsüchte der Reformer von Architektur und Handwerk, die zu Beginn unseres Jahrhunderts im frühbürgerlichen Klassizismus das Vorbild für die künftig zu schaffende Architektur sehen wollten. Paul Mebes betonte dies mit seiner 1907 erschienenen Publikation „um 1800“ und ebenso Paul Schultze-Naumburg in seinen „Kulturarbeiten“, auch wenn die beiden Paule um das wirkliche Vorbild einen Bogen machten wie die Katze um den heißen Brei, setzten sie dafür umso mehr vergleichbare Beispiele ins Gefolge der als selbstverständlich bekannt vorausgesetzten Ikone des Bildungsbürgertums.

Aber worin liegt das Prototypische des Hauses, in dem Goethe zuerst allein und dann, nachdem der an der deutschen Provinz Verzweifelnde 1786 nach Italien ausgewichen war, einige Jahre mit seiner Geliebten, Christiane, wohnte? Dank der vorausschauenden Vorarbeit der Kollegen von der Zeitschrift „arch+“ sind wir seit Oktober 1982 (ein Goethejahr!) bestens dokumentiert: 11,90 Meter lang, 8,00 Meter breit, so die Außenmaße. Ein massiver Baukörper in leichter Hanglage, überragt von einem nahezu gleich hohen Zeltdach mit knappem Überstand. Drei Fensterachsen auf der Längsseite, deren zwei an der Schmalseite.

Die Grundrisse sind ohne viel Überraschung konzipiert. Im Erdgeschoß betritt man durch die rundbogige Haustür einen Flur, von dem die Treppe in eineinhalb geraden Läufen nach oben führt. Geradeaus geht es ins Speisezimmer, das zwei Fenster der Gartenseite beansprucht. Daran schließt linkerhand die Küche an, die vom Flur nur über einen Vorraum zugänglich ist. Die Kammer daneben in der Hausecke diente wohl dem Personal. Küche und Kammer sind massiv überwölbt, da sie offenbar Feuerstellen enthielten.

Im Obergeschoß erfolgt die Raumtrennung durch ausgefachte hölzerne Ständerwände; wieder ein Flur bei der Treppe oder eher eine Diele; daran reihen sich über Eck vier Zimmer: Empfangszimmer, Arbeitszimmer, Bibliothekszimmer, Schlafzimmer. Arbeits- und Schlafzimmer weisen keine Tür zur Diele auf, sind daher nur über das Empfangszimmer oder die Bibliothek zugänglich. Ein Bad suchen wir vergebens, den Abtritt finden wir unten im Vorraum neben der Kammer.

Der gedrungene Quader wird von einem großzügigen Dachraum überspannt, einem klassischen Kaltdach mit stehendem Stuhl. Der Kamin mußte leicht schräg verzogen werden, damit er am First mündete. Mehrere Schleppgaupen mit Fenstern, über deren Lage und Zahl die Dokumente widersprüchliche Angaben enthalten, sind in den Dachflächen verteilt.

Über niedrige Deckenbalken braucht man sich nicht zu ärgern: Eine großzügige Raumhöhe von 3,44 Meter im Erd- und immer noch stattliche 2,75 Meter im Obergeschoß weisen das Haus als Oberschichtbehausung aus. Die Nettowohnfläche ohne Flur und Treppe liegt knapp unter 130 Quadratmeter. Wenn man berücksichtigt, daß das Haus ohne Kinder bewohnt wurde, sind das üppige 65 Quadratmeter Wohnfläche pro Person. Das kann mit heutigen Ansprüchen durchaus mithalten.

Aber alle diese Nützlichkeiten können nicht der Grund sein, warum die Kargheit so anmutig wirkt, die sparsame Bescheidenheit spätere Generationen derart verzückte und noch heutige Besucher in Rührung versetzt. Daher zu den Feinheiten: Bei genauer Betrachtung fällt auf, daß die Mauern leicht geböscht sind, was das Bauwerk turmartiger, ja wehrhafter, aber gleichzeitig auch stärker mit dem Boden verhaftet wirken läßt. An der Gartenseite ist zudem das Fenster links oben, hinter dem das Schlafzimmer liegt, zugemauert und bloß aufgemalt.

Hier liegt sicher eine Schwäche, indem Dichtung und Wahrheit in Konflikt geraten. Die Ergänzung als blindes Trompel’œil ist weniger stark als eine leicht irritierte Symmetrie, wie jeder weiß, der sich mit bürgerlichem Klassizismus befaßt. Denn ein leichter Silberblick macht sympathisch. Jedenfalls sind die übrigen drei Fassaden freier und mit viel Maueranteil komponiert.

Doch zurück zur Gartenseite, die als Hauptwohnseite wohl die wichtigste ist: Hier sind die drei Erdgeschoßfenster etwas breiter und vor allem höher als jene im Obergeschoß. Der Maueranteil nimmt nach oben zu, das Gewicht verlagert sich nach oben. Außerdem sind die Obergeschoßfenster von oben her aus der Mauer ausgeschnitten und stoßen bis unter das Dachgesims.

Sie werden zwischen Mauermasse und Dach gleichsam eingeklemmt, was dem trennenden Strich der Traufe mehr Gewicht gibt und vor allem den bergenden Charakter des Dachs mit mehr Bedeutung hervorhebt.

Das Dach wird zu einem dem Mauersockel gleichwertigen Teil des Bauwerks, kein Wunder, daß die Flachdächer der Moderne so lange ohne Chance auf dem Markt blieben. Daß der dünne Raster der Spalierstangen als Gitter aus horizontalen Rechtecken vor die Fassaden gelegt ist, gibt dem Haus sein besonderes Flair und macht es erst richtig zum Gartenhaus im Sinne einer barocken Folie, die als Kulisse für die tägliche Selbstinszenierung dient.

Ein Leben in diesem Haus, in dem üppigen, halbverwilderten Garten, hinter den kräftigen, schutzbietenden Mauern und unter dem hohen schirmenden Dach muß für die nahen Kleinstädter, die in ihren dichtgedrängten schmalen Häusern mit den niedrigen Kammern hinter zugezogenen Gardinen wohnten, mit einer Aura von Freiheit umwoben gewesen seien. Wer in diesem Gartenhaus wohnte, unterlag nicht den gesellschaftlichen Zwängen der biederen Bürger, sondern genoß den arkadischen Freiraum, den man damals Hirten, Räubern und eben auch Gärtnern zuschrieb.

Diese gesellschaftlichen Projektionen machten „das Gärtnerhaus“ zur besonderen Bauaufgabe, die an Architekturschulen im Einführungsjahr beliebt war. Und so ist eben dieses Häuschen in Weimar mit seinem raunenden Bedeutungshintergund zu viel mehr als einer Dichterwohnstatt geworden.

Oftmalige Restaurierungen haben immer wieder zu leichten Veränderungen geführt, die heute anhand einer Dokumentation nachvollzogen werden können. Doch zusätzlich zum Original wurde nun gleichsam als haptische Sicherstellung in minutiöser Detailarbeit ein Gleiches errichtet. Die Kulturstadt Weimar verfügt daher über zwei Gartenhäuser, die beide besichtigt werden können und die den Bürgern bereits gleichermaßen ans Herz gewachsen sind.

Über die Gründe für diese Verdoppelung läßt sich nur orakeln: Soll die Abnutzung des Originals durch Besucher auf die Hälfte reduziert werden, oder ist die wundersame Verdoppelung eine verspätete Interpretation des kurzzeitigen Direktors der kubanischen Nationalbank, der vor bald vier Jahrzehnten dazu aufrief, zwei, drei, viele Gartenhäuser zu schaffen – wahrscheinlich als staatliche Geldbeschaffungsmaßnahme.

Für den kleinen Geldbeutel gibt’s das Haus immerhin als Ausschneidebogen; die blockhafte Konfiguration stellt kaum Anforderungen an Bastler, sie ist in wenigen Minuten aufgestellt. Doch kann eine derartige Miniaturisierung die Sehnsüchte befriedigen, die über zwei Jahrhunderte, und mehrmals befeuert, in kulturbürgerlich gebildeten Busen schmachteten? Scheute man sich wieder einmal, den Weg zum wirklichen Volksmodell zu beschreiten und das Häuschen als Wahlmodell einer gehobenen Fertighauspalette anzubieten? Die paar notwendigen Adaptierungen hätte das Bauwerk doch ausgehalten.

Da läßt man von Stararchitekten leicht verkrampft wirkende Fertighaustypen entwerfen, um auch in diesem Bereich„ das Volk“ an den neuesten Errungenschaften der Kultur teilhaben zu lassen; aber das Sehnsuchtsmotiv jeder neuklassizistischen Besinnung wird nicht neu aufgelegt, sondern, viel schlimmer, nur einmal exakt kopiert, um den Leuten vorzuspielen, worauf sie schon wieder verzichten müssen.

Die Kosten des handgeschnitzten Modells von 1,5 Millionen Mark (10,5 Millionen Schilling, 760.000 Euro) sollten sich bei entsprechenden Stückzahlen doch senken lassen, besonders wenn auf eine vorgängige Abnutzung von Stiegen und Türschwellen verzichtet werden kann. Ist es die Ehrfurcht vor der deutschen Klassik, die das Unternehmen auf halbem Weg haltmachen ließ und die bisher verhinderte, daß das Haus an der Blauen Lagune angeboten wird? Oder ist es einfach zu karg in seiner Anmutung, löst es zuwenig Kaufreize aus, weil es keinen Erker aufweist, keinen Wintergarten und keinen Turm? Wie konnte es Goethe bloß in dieser kläglichen Hütte ohne Geschirrspüler aushalten? Ach ja, er verfügte noch über Hauspersonal.

Wir werden also auf unserer Fertighausidee sitzenbleiben, niemand will mehr leben wie der große Dichter vor seiner Italienreise, denn nichts ist enttäuschender als peinlich genau eingelöste Sehnsüchte.

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