Artikel

Zukunftsorientierte Architektur in der Aquitaine
Neue Zürcher Zeitung

Ausstellung Jacques Hondelatte in Bordeaux

23. März 1999 - Hans Hartje
Der Träger des französischen Staatspreises für Architektur 1998, der 56jährige Jacques Hondelatte, lässt sich gegenwärtig mit einer Retrospektive im Architekturzentrum Arc en rêve von Bordeaux feiern. Hondelatte ist hier zu Hause, und die Mehrzahl der von ihm realisierten Gebäude stehen in der Region Aquitaine: extravagante Landhäuser wie die Maison Fargues bei Dax (1969–71) oder die Maisons Artiguebielle (1973) und Sécherre (1989) im Weinbaugebiet Médoc, aber auch Stadthäuser wie die Maison Cotlenko (1988–91) im Herzen von Bordeaux. In der Weinmetropole hat Hondelatte ausserdem Anfang der neunziger Jahre das Internat des Lycée Gustave- Eiffel in einer Art Leitplankenästhetik vertikal ins Strassenbild eingepasst. Auf ein ebenso unkonventionelles Gebäude wird man sich im Jahre 2000 gefasst machen müssen, wenn das Wein- Kulturzentrum eröffnet wird. Die betont geometrischen Flächen und Linien des Projekts heben sich gewollt futuristisch von der umgebenden Fassadenlandschaft ab. In dieser Hinsicht ähnelt die architektonische Vorgehensweise Hondelattes der seiner Zeitgenossen Bernard Tschumi, Peter Cook (Archigram) oder Massimiliano Fuksas, auf die er sich im Gespräch auch selbst gern beruft.

Architektur ist für Hondelatte bedingungsloser Dienst an der Funktion. Ausgehend von diesem Ansatz modelliert er am Computer seine Bauten. Hondelattes Entwürfe zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich dem flüchtigen Blick entziehen. Die Grundrisse, Schnitte und Ansichten erschliessen sich – ähnlich wie durchkomponierte Texte oder Musikstücke – erst allmählich dem Betrachter. Als durchaus überzeugende Beispiele für diese Art kompromissloser Konzeption, auf deren kybernetischer Natur als unabdingbarem Spezifikum heutiger Architektur Hondelatte mit allem Nachdruck besteht, bietet die Ausstellung Dokumentationen mehrerer Ausschreibungen, deren fehlende Realisierung nur allzu oft die mangelnde Risikofreudigkeit der Bauherren unterstreicht.

Als sein wichtigstes Projekt erachtet Hondelatte die Konzeption des weltlängsten Autobahnviadukts, das im Süden des Massif central bei Millau ein 3 Kilometer breites Tal in 300 Metern Höhe überspannen soll. Wer das auf farbigen Bildschirmausdrucken simulierte Ergebnis an herkömmlichen, weniger technologischen denn «ästhetischen» Massstäben misst, wird seine Skepsis kaum verbergen können. Denn die Fahrspuren kommen höchst unkonventionell in einem Hohlprofil aus Stahl übereinander zu liegen. Ähnlich reserviert zeigten sich die Jurymitglieder, die 1991 Hondelattes Projekt einer flugzeugträgerartigen Parkplatzbrücke am Fuss des von Touristen- und Treibsandströmen bedrohten Mont Saint-Michel in letzter Instanz verworfen haben. Dabei dürfte hier letztlich wohl jede Lösung auf Widerstand stossen. Bleibt die Frage, ob es den idealen Kompromiss in Sachen Stadtplanung bzw. Landschaftsgestaltung überhaupt gibt. Nicht zuletzt wegen seines entschlossenen Widerstands gegen vorschnelle Kompromisse hat Hondelatte den Nationalpreis verdient. Davon zeugt auch die Ausstellung in Bordeaux, die anschliessend noch in London, Berlin, Houston und Mexiko zu sehen sein soll.

[Bis 2. Mai]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: