Artikel

Die Funktion im Vordergrund
ORF.at

Die Postsparkasse, die Kirche am Steinhof, das Naschmarkt-Ensemble mit dem Majolikahaus, die Wiener Stadtbahnen und Wiens Gewässerregulierungen. Otto Wagner hat vor gut hundert Jahren das Stadtbild des heutigen Wiens maßgeblich geprägt und wurde neben Gustav Klimt zum wichtigsten Aushängeschild der Wiener Moderne. Wagners Werk wirkt nach wie vor – auch wenn der Umgang nicht immer pfleglich war.

13. Juli 2016 - Johannes Luxner
Das Wien vor 120 Jahren befand sich auf rapidem Expansionskurs. Mit der Eingemeindung der Vororte außerhalb des Gürtels war die Stadt schlagartig über ihre bisherigen Verwaltungsgrenzen hinausgewachsen. Eine strukturelle Einbindung neuer Stadtgebiete wie Währing, Hernals, Gersthof und Döbling war nötig geworden.

Bereits drei Jahrzehnte zuvor hatten sich mit der Errichtung des Prachtboulevards der Ringstraße auf dem Gelände der ehemaligen Verteidigungsanlagen das Erscheinungsbild und die städtebauliche Struktur Wiens stark gewandelt. Die Stadt war im Umbruch wie noch nie zuvor. Der rege Zuzug aus den Kronländern ließ Wiens Einwohnerzahl rapide wachsen.

Generalregulierungsplan für Wien

Um der neuen Herausforderungen Herr zu werden, sah sich die Gemeinde anno 1892 veranlasst, den „Wettbewerb zum Generalregulierungsplan für Wien” auszurufen. Wagner, der seit Mitte der 1860er als Architekt vor allem im Zinshaus- und Villenbau sehr aktiv war und dabei bereits visionäre Ansätze zeigte, bot sich mit dem Wettbewerb endlich die Gelegenheiten sein gesamtheitliches Denken und seine theoretischen Überlegungen, was den Städtebau betraf, in die Praxis umzusetzen. Wagners Beitrag erhielt einen der ersten Preise. Und das hatte seine Gründe.

Der Blick auf das große Ganze

Wagner war ein Verfechter der Funktionalität. Nach der Funktion hätten sich Form und Gestaltung zu richten, formulierte Wagner sinngemäß einen seiner Grundsätze. Louis Sullivan in Chicago und Charles Rennie Mackintosh in Glasgow übten sich zu jener Zeit in ganz ähnlichen Zugängen und galten neben Wagner als wichtigste Vertreter der Moderne in der Architektur des späten 19. Jahrhunderts.

Wagner ging es um das große Ganze, was er beim Wettbewerb eindrücklich demonstrierte. Gegliedert in die Teilbereiche Bauweise, Hygiene, Verkehr sowie als vierten Punkt Donau und Donaukanal erläuterte Wagner die baulichen Herausforderungen und Maßnahmen, die entlang des Gürtels und des Wienflusses sowie im Bereich des Donaukanals notwendig waren.

Planen für das Wachstum

Wagner dachte nicht nur an Verkehrswege und Brücken, sondern bezog in seine Überlegungen auch Markthallen, Parks, Kinderspielplätze, Eislaufplätze, Spitäler, Kanalisierung, aber etwa auch Aspekte der Kehricht- und der Schneeabfuhr ein. Wagner ging von einem kontinuierlichen Wachstum der Stadt aus. Dementsprechend sollte die neue Infrastruktur definieren, wie und wo diese Erweiterungen passieren sollten.

Besonders visionär gaben sich Wagners Schilderungen zum Wachstum Wiens jenseits der Donau. Der Architekt schilderte die städtebauliche Einbindung des linken Donauufers, dort, wo sich heute die UNO-City und die höchsten Häuser Wiens befinden, in etwa so, wie sie später im 20. Jahrhundert tatsächlich erfolgte. Wagner zeigte vor, wie ein fiktiver 22. Gemeindebezirk über der Donau aussehen könnte – Wien war damals in 21 Bezirke gegliedert.

Bruch mit der Tradition

Der 1841 in gut situierten Verhältnissen in Wien-Penzing Geborene verantwortete ab 1894 als Mitglied des künstlerischen Beirats die architektonische Ausgestaltung der Wiener Stadtbahn. Damit begann für Wagner ein Monsterprojekt. Von den Viadukten bis zur Inneneinrichtung der Bahnhofsgebäude ging es um einen gesamtheitlichen Entwurf, dessen Ausführung Wiens heutiges Erscheinungsbild prägt wie keine städtebauliche Maßnahme zuvor.

Damit wurden der heutige Verlauf der U4 und das Erscheinungsbild des Wienflusses ebenso definiert wie weite Teile der U6, die entlang des Gürtels auf Viadukten in Rohziegelbauweise stadtbildprägend wirken und deren Architektur die Menschenmengen nach wie vor gut bewältigen. Wagners theoretische Ansichten erlangten im Jahr 1894 große Aufmerksamkeit, als er in seiner Antrittsrede zum ordentlichen Professor an der Akademie der bildenden Künste mit der zeitgenössischen Architektur mit sehr deutlichen Worten abrechnete.

Bauten, die dem Menschen dienen

„Artis sola domina necessitas”, lautete der von Wagner oft verwendete Leitsatz, der das zu jener Zeit bis zum Exzess betriebene Kopieren alter Stile anprangerte: „Die Kunst kennt nur einen Herrn – das Bedürfnis.” Wagner hielt die historische Formensprache für überkommen und suchte so wie Klimt in der Malerei einen neuen künstlerischen Ausdruck. Das Ergebnis sollte in erster Linie dem Menschen dienen.

Das zeigt sich in der Praxis etwa durch Treppenproportionen, die wenig Kraftanstrengung erfordern, sodass auch hohe Niveauunterschiede leicht zu bewältigen sind, und eine effiziente Umverteilung der Passagierströme in den Bahnhöfen.

Zur Schau gestellte Gleichberechtigung

Der Einsatz neuer Baumaterialien wie Stahl und Eisen sowie der Einbau großer Glasflächen waren ebenso Teil von Wagners Architekturphilosophie, die Rücksicht auf die Ansprüche ihrer Benutzer nahm und den Pomp des Historismus, der allzu oft ein Mittel zum Ausdruck eines gesteigerten bürgerlichen Selbstbewusstseins war, überwand. Zudem erdachte Wagner eine „Demokratisierung“ der Geschoße.

In den Prachtbauten des Historismus befand sich traditionellerweise mit der Beletage im ersten Stock das prächtigste Geschoß, dessen Räume höher waren als die in den darüber liegenden Stockwerken. Der Wert der Geschoße verringerte sich nach oben hin. Es herrschte eine strenge Hierarchie. Jene, die unter dem Dach wohnten, zählten im Gegensatz zu heute zu den ärmsten Schichten.

Diese Wertigkeit der Geschoße kam im Historismus durch die Gestaltung der Fassade offen zum Ausdruck. Wagner setzte auf Gleichwertigkeit. Und es boten sich für ihn ab Mitte der 1890er Jahre etliche Gelegenheiten, um auch das in der baulichen Praxis zu zeigen.

Kreativer Höhenflug

Neben seiner Tätigkeit als Architekt und Stadtplaner war Wagner publizistisch tätig. Im Rahmen seiner Professur brachte er mit dem 1895 erschienen Werk „Moderne Architektur” einen Klassiker der Architekturpublizistik hervor. Die Fachpresse war hingegen gespalten, was die Bewertung von Wagners Werken betraf. Konservative Kreise übten sich in massiven Anfeindungen gegen den Architekturrevoluzzer.

Wagner selbst tauchte kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts in seine kreativste Phase ein. Ab 1898 errichtete er das Gebäudeensemble an der Linken Wienzeile und experimentierte ganz offen mit den Materialien. Die Fassade des Majolikahauses besteht durchgehend aus Keramikfliesen mit bunten Ornamenten. Die Fassaden der Wienzeilenhäuser wurden von Künstlern wie Koloman Moser, Othmar Schimkowitz und Alois Ludwig gestaltet.

Wagner argumentierte die Materialwahl auch mit der leichten Pflege durch einfaches Abwaschen der kleinen Keramikplatten. Hygiene war ein großes Thema und Wagner ein Meister des ökonomischen Bauens, was im Fall der Wienzeilenhäuser auch dem Umstand geschuldet war, dass Wagner nicht nur Planer, sondern auch Bauherr war.

Die Niete als Attrappe

Mit der Postsparkasse am Stubenring, die ab dem Jahr 1903 errichtet wurde, entstand bald darauf ein weiteres Hauptwerk Wagners, das eine bauliche Entsprechung zum neuen Geschäftsmodell der Österreichischen Postsparkasse bringen sollte, die damals in kurzer Zeit ein weit verzweigtes Filialnetz errichtete und das Geldwesen revolutionierte.

Wagner setzte auf ein Raumkonzept, das insbesondere mit der lichtdurchfluteten Schalterhalle gängige Konventionen überwand. Innen wie außen arbeitete er mit dem neuen Werkstoff Aluminium. Und Wagner spielte sich: Die gut sichtbaren Nietenköpfe auf den Marmorplatten der Außenfassade besitzen keine statische Funktion. Wagner wählte sie aus optischen Gründen, was damals eine höchst undogmatische Herangehensweise bedeutete.

Büro mit gestalterischen Nachwirkungen

Wagners Produktivität jener Jahre war aber nicht allein dem Genie des Architekten zu verdanken. Wagners Büro hatte mit den Großaufträgen zu den Regulierungsmaßnahmen stark zu wachsen begonnen und beschäftigte zu Spitzenzeiten 70 Mitarbeiter.

Das Büro bedeutete den personellen Ursprung der Otto-Wagner-Schule, die über Wagners Tod hinaus wirkte und den sozialen Wohnbau in Wien wesentlich mitbestimmte. Wagner setzte auf Kooperation. Er verfolgte die Philosophie der kreativen Arbeitsteilung und eine gewisse Schwarmintelligenz in planerischen wie gestalterischen Fragen. Sein engster Mitarbeiterkreis, den er aus seinen besten Studenten rekrutierte, wurde angesichts der verschworenen Einheit Wagners „zwölf Apostel“ genannt.

Aus der Wagner-Schule gingen Architekten wie Max Fabiani, Jan Kotera, Josef Plecnik und allen voran Josef Hoffmann, der als wesentlicher Protagonist der Wiener Werkstätte Designgeschichte schrieb, hervor. Wagners Mitarbeiter hatten stets ein strenges Auge auf die Entwürfe. So sollte sichergestellt werden, dass die Wagner’schen Qualitätsmarke nicht beschädigt werden. Zudem entwickelten die „Apostel“ das Formenvokabular der Wiener Stadtbahn.

Franz Ferdinand als Widersacher

Gegner hatte Wagner aber nicht nur innerhalb konservativer Kreise. Thronfolger Franz Ferdinand lehnte die technoide Sachlichkeit des Architekten vehement ab. Da half es auch nichts, dass sich Wagner zu Beginn seiner Karriere mit der Gestaltung der Festumzüge anlässlich des silbernen Hochzeitjubiläums des Kaiserpaares und des Empfangs der Kronprinzessin Stephanie von Belgien höchstes Ansehen vonseiten des Kaiserhauses erworben hatte. Hinzu kam, dass Wagner 1899 mit der Gesellschaft des Künstlerhauses brach und sich den progressiven Secessionisten rund um Klimt anschloss.

Franz Ferdinand wusste öffentliche Bauwerke Wagners wie den Neubau des Kriegsministeriums am Stubenring erfolgreich zu verhindern. Statt auf neue Ansätze setzte der Thronfolger lieber auf Neobarock. Ganz generell neigte Franz Ferdinand zu einem malerischen Architekturstil mit heimatlichem Einschlag, der sich insbesondere in den kaiserlichen Jagdgebieten in aller Üppigkeit zeigte.

Im Rahmen der Einweihung der Kirche am Steinhof kam es letztlich zur verbalen Auseinandersetzung zwischen den beiden. Wagner versuchte, dem Thronfolger den Sachverhalt mit einem Kanonenvergleich zu erklären. Eine glatte Kanone, die sehr weit schießt, sei besser als eine verzierte Kanone mit weniger Reichweite aus der Zeit Maria Theresias, so Wagners Worte, der nach dem Vorfall den Verlust von Aufträgen zu beklagen hatte.
Konsequente Sachlichkeit

Der Architekt ließ sich dennoch nicht beirren und übte sich in seinen weiteren Bauten in einer zunehmenden Sachlichkeit, die letztlich in den Häusern Neustiftgasse 40/Döblergasse 2-4 gipfelte, die Wagner sechs Jahre vor seinem Tod finalisierte und wo er im Jahr 1918, ein halbes Jahr vor dem Ende des Ersten Weltkrieges starb. Seine weiteren Pläne für das wachsende Wien wurden mit der politischen Neuordnung in Europa obsolet.

Geblieben ist ein Werk, das den Test der Zeit offensichtlich gut bestanden hat und das trotz eines über lange Zeit sehr unachtsamen Umgangs mit den kreativen Errungenschaften der Wiener Jahrhundertwende in großen Teilen erhalten ist. Allerdings sind zahlreiche Werke Wagners verschwunden oder müssen sich mit wenig sensibel designten Neubauten messen.

Hang zur exzentrischen Körperpflege

Insbesondere von den Innenraumgestaltungen Wagners ist wenig erhalten. Auch nicht von seinem Beitrag zur großen Gewerbeschau anlässlich des 50. Thronjubiläums des Kaisers 1898, für das Wagner eine gesamte Wohnungseinrichtung gestaltete. Adolf Loos schwärmte als Autor von der Jugendstil-Einrichtung in den höchsten Tönen und ergötzte sich an der Schlichtheit und Funktionalität der Einrichtung. Höhepunkt und ein weiterer Beleg für Wagners Wert auf Hygiene und sein Detaildenken war eine an den Kanten in Nickel gefasste gläserne Badewanne.

Die Wanne schaffte es im Anschluss bis zur Weltausstellung nach Paris, und Wagner benutzte die Wanne in seiner Stadtwohnung im Haus Köstlergasse 3 privat selbst – in der Literatur vielfach dokumentiert, gilt das exzentrische Einrichtungsstück heute allerdings als verschollen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: ORF.at

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: