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Mentale Mobilität
Neue Zürcher Zeitung

Alternativen zur autogerechten Planung der Moderne

Die vom Städtebau der Moderne propagierte Auflösung der kompakten Stadt führte zu einer Verkehrsplanung, die die historischen Städte Europas schwer beeinträchtigte. Auch wenn sich in der Schweiz keine Eingriffe wie in Stockholm, Berlin oder Genua finden, stellt sich auch hier die Frage, wie man die verlorengegangene Urbanität wiederherstellen kann. Ein neues Mobilitätsverständnis muss dabei die Fixierung auf das Automobil ablösen.

9. April 1999 - Philipp Meuser
Kaum eine andere Disziplin versprach den Menschen mehr Modernität als die Verkehrsplanung. Grossen Einfluss übten die beiden Schweizer Modernisten Le Corbusier und Sigfried Giedion aus, die einerseits durch praktische Entwürfe, andererseits durch theoretische Ableitungen ein Lebensgefühl beschrieben, das auf der Dominanz des Automobils basierte. Ihre utopischen Konzepte, in denen das Privatauto als Synonym für Freiheit und Wirtschaftserfolg galt, propagierten die Überwindung von Raum und Zeit. In Europas Städten ist dieses Erbe bis heute in brutalen Strassendurchbrüchen sichtbar.

Als Errungenschaft des neuen Städtebaus wurde der Abschied von den engen Gassen der zum Teil noch mittelalterlichen Stadtkerne und deren Ersatz durch breite Schneisen gefeiert. Während etwa in Zürich auf Grund der direkten Demokratie von all den utopischen Visionen nur die Sihlhochstrasse realisiert werden konnte, schlug Köln für seine Nord-Süd-Fahrt ein für Fussgänger unüberwindbares Trassee durch die Altstadt. Stuttgart trennte seine Staatsgalerie vom Schlossgarten mit einer Autobahn, und Hamburg zerstörte ein historisch einmaliges Ensemble von Kontor-Häusern durch den Bau der Ost-West- Strasse. Die Moderne hatte spätestens 1957 mit der Internationalen Bauausstellung (Interbau) in Berlin ein wichtiges Etappenziel erreicht. Aus einem ehemals hochverdichteten und kompakten Stadtviertel war eine aufgelockerte Siedlung mit breiten Parkways geworden. Legitimiert wurde der autogerechte Ausbau mit der aus heutiger Sicht fast zynischen Bemerkung, der «vollkommen planlos zunehmende Kraftverkehr durchflutet Städte, die ursprünglich für Pferdefuhrwerke geplant waren». Der populäre Ausstellungskatalog der Interbau ging sogar noch einen Schritt weiter: Um die Verkehrsdichte an Automobilen zu verringern, sei die Bebauungsdichte aufzulockern – ein in der heutigen Nachhaltigkeitsdebatte schier unmöglicher Gedanke.

Schneisen statt Gassen

Einer der Väter dieser antiurbanen Ideen war Le Corbusier, der sich bereits 1945 über den Wiederaufbau der zerstörten Städte in seinen «Grundfragen des Städtebaus» geäussert hatte. Fussgänger müssten grundsätzlich vom Fahrzeugverkehr getrennt werden. Als moderne Verkehrsadern pries er Autobahnen. Diesen hatte sich die Bebauungsstruktur zu unterwerfen. Schliesslich erfolgte die Wahrnehmung der Umwelt nicht mehr aus der Fussgängerperspektive sondern vom Steuer des Autos aus. Mit zunehmender Geschwindigkeit verändere sich das Raum-Zeit-Gefühl, wie es Sigfried Giedion 1941 in seinem Standardwerk «Space, Time and Architecture» beschrieb. Vor allem durch eine Fahrt auf der Autobahn – Zeichen für Modernität und Fortschritt – könnten die unterschiedlichen Blicke in die Landschaft simultan erlebt werden: Das Raum-Zeit- Gefühl könne selten so stark erfahren werden, wie am Steuerrad, wenn man hügelauf-hügelab, durch Unterführungen, über Rampen oder über riesige Brücken dahinrolle. Giedion vertrat als Sekretär der Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM) die Ideale des Neuen Bauens und stützte sich in seiner Argumentation auf Le Corbusier, der das Auto längst als untrennbaren Teil von Städtebau und Architektur verstand.

Motorisierungsgrad und Mobilität faszinierten weltweit eine ganze Architekten- und Planergeneration. Der Amerikaner Frank Lloyd Wright sprach gar von einem neuen Raumsinn, der auf dem Automobilwesen beruhe. Raumwerte hätten sich längst in Zeitwerte verwandelt und einen neuen Massstab in den Städtebau eingeführt. Auch seine rhetorische Agitation war schnell durchschaut: Da der Anspruch auf Motorisierung nicht mehr dem verfügbaren Strassenraum entsprach, blieb nur die Verbreiterung von Hauptverkehrsachsen oder die Auflösung der Stadt – eine Strategie, die bis heute in US-amerikanischen Metropolen ihre Gültigkeit behalten hat.

In der Büro-City arbeiten und im vorstädtischen Einfamilienhaus wohnen, lautete das Glaubensbekenntnis einer Ära, in der Schnellstrassen und Autobahnen als Lösung zukünftiger Verkehrsprobleme gesehen wurden. Die Theorie der Moderne war daher eine Kampfansage an die traditionelle Stadt, die von automobilbegeisterten Verkehrspolitikern angeführt und von geschichtslosen Planern legitimiert wurde. Doch an vielen Stellen musste die Stadtplanung vor den aufgeständerten Schnellstrassen und antiurbanen Tunnels in der Innenstadt kapitulieren. Die automobile Übermacht hatte mit baulichen Fakten ihre Spuren in der Stadtstruktur hinterlassen.

Neues Verkehrsverhalten

Die sich seit den achtziger Jahren intensivierende Diskussion über die Bevorzugung des öffentlichen Verkehrs gegenüber dem Auto – die etwa in Zürich schon weit fortgeschritten ist – und über eine Siedlungspolitik und Raumordnung der kurzen Wege hat erst vereinzelt zu Erfolgen geführt. Mobilitätsforschung ergänzt inzwischen die Disziplin Verkehrswissenschaften. Im Vordergrund der Debatte steht dabei nicht mehr der Ausbau neuer Verkehrsnetze, sondern die intelligente Nutzung und Auslastung der vorhandenen Ressourcen. Heute erweist sich als das eigentliche Dilemma im Verkehrsverhalten die bereits früh anerzogene Fixierung auf das Auto. Deshalb soll sich eine neue Definition von Mobilität nicht mehr auf das Auto konzentrieren, sondern auf alle Fortbewegungsmittel ausweiten. Die kombinierte Mobilität – das neue Schlagwort der Verkehrswissenschaften – soll in Deutschland vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) von diesem Frühjahr an im Rahmen eines Car-Sharing-Modells in der Praxis studiert werden. In der Schweiz ist mit «Mobility» ein ähnliches Modell bereits im Gebrauch.

Während sich Verkehrswissenschafter die Umerziehung der Automobilisten zum Ziel gemacht haben, besiegeln Architekten das Ende der modernen Verkehrsplanung mit baulichen Tatsachen. Verkehrsachsen werden nach und nach zurückgebaut. In Berlin etwa orientieren sich die Projekte am alten Strassengrundriss wie etwa beim Bahnhof Friedrichstrasse. Mario Campi und Franco Pessina aus Lugano und Miroslav Volf aus Saarbrücken haben dort der ehemals unwirtlichen Geschäftsstrasse mit dem Dussmann- und dem Boarding-Haus eine «Urbanität durch Dichte» verliehen. Gegenüber hat sich inzwischen das alte Metropol-Hotel nach einem Umbau von Nettbaum aus Berlin in den Strassenraum geschoben. Statt über vier Fahrbahnen verfügt das neue Nadelöhr nur noch über zwei Spuren. DDR- Pläne zur Verbreiterung der Friedrichstrasse auf 70 Meter verschwanden mit der Wende 1990 in den Schubladen.

Dass das Auto aus unseren Städten allerdings nicht ganz verbannt werden kann, scheinen inzwischen auch die Fahrrad- und Fussgängerfraktionen erkannt zu haben. Verkehrsverhalten ist längst zum kulturellen Phänomen avanciert und darf daher nicht zu einer Vorverurteilung bei der Wahl des einen oder anderen Gefährts führen. Möglicherweise wird sich die Stadt der Zukunft am Modell des Potsdamer Platzes in Berlin orientieren müssen, wo oberirdisch eine fussgängerfreundliche Struktur nach dem Modell der europäischen Stadt entstanden ist. Erst der Blick in die Untergeschosse offenbart das wahre Ausmass des Individualverkehrs: 2500 Stellplätze sorgen für eine perfekte Logistik – eine eigene Stadt unter der eigentlichen Stadt. Den Traum vom «simultanen Raum-Zeit-Gefühl» haben die Automobilisten offensichtlich noch nicht ganz ausgeträumt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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