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Ein Schiff wird kommen
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Gibt es das? Ein Konzerthaus, das statt 77 Millionen Euro 860 Millionen kostet. Und statt 2010 (hoffentlich) im Jahr 2017 eröffnet wird. Ja, in Wien! Oh nein, in Hamburg! Nur der Intendant kommt aus Wien. Notizen aus einer schönen und merkwürdigen Stadt.

6. August 2016 - Barbara Petsch
Als Österreicher im Allgemeinenund als Wiener im Besonderen ist man an die Vorurteile Fremder, speziell der deutschen Nachbarn,gewöhnt: der Wiener, ein liebenswürdiger Schlampsack. Doch wovon hier erzählt wird, ist nicht im nachlässigen Wien, sondern im präzisen Hamburg passiert: Die Kosten für die Elbphilharmonie explodierten von 77 auf 860 Millionen Euro. Die Eröffnungwurde immer wieder verschoben: von 2010 auf 2017. Jetzt will man es aber ganz genau wissen. Auf der Homepage steht: 11. Januar. Seit Juni läuft der Vorverkauf. Aber nicht nur unsereins mag sich da ins Fäustchen lachen. Noch mehr amüsieren sich die deutschen Kollegen: „Höhöhö“, resümierte die „Süddeutsche Zeitung“ die Stimmung.

Was ist hier passiert? Wer auf einer Journalistenreise in Hamburg nachfragt, erntet strenge Falten auf ernsten Gesichtern und hernach heiteren Zweckoptimismus: Ja, da sei allerhand schiefgegangen, doch jetzt herrsche eitel Wonne, und die werde immer mehrwachsen bis zur Eröffnung, und zu guter Letzt werde es wie bei vielen bedeutenden Bauten sein: die Menschen glücklich und die Wirtschaft noch glücklicher. Europa ist ein Sehnsuchtsort für Menschen aus aller Welt,zuletzt vor allem aus China, Indien, Russland – mit der Elbphilharmonie gibt es eine weitere Attraktion zu bestaunen.

Aber was wird nun erzählt über das schwierige Werden des Neubaus? Die Schweizer Architekten Herzog & de Meuron hatten die Idee und den zündenden Funken: Was liegt näher, als einem Kulturbau in Hamburg das Aussehen eines Schiffes zu geben? Die Stadtväter waren begeistert und vergaben das Projekt ohne Ausschreibung. Dann kam es zu technischen Problemen und Umplanungen – und die wurden immer teurer und teurer bis zu einem Untersuchungsausschuss. Nach dessen Abschluss wurde die Errichtung fortgesetzt – mit der gleichen Baufirma, Hochtief, einem ebenso namhaften Unternehmen wie das Architektenteam.

Auf der Liste der Gebäude von Herzog & de Meuron findet sich neben dem Olympia-Stadion in Peking eine eindrucksvolle Anzahl von Kulturbauten, vor allem Museen: vom Anbau der Tate Gallery in London bis zum M+ in Hongkong, das sich der visuellen Kultur des 20. und 21. Jahrhunderts widmet und 2019 eröffnet werden soll. Hier sieht man – nicht zum ersten Mal –, wie sich wirtschaftlich aufstrebende Länder mit Kultur und Kunst profilieren. Die Spartenwachsen immer mehr zusammen, aber Hamburg leistet sich eine teure reine Konzerthalle. Ist das zeitgemäß? Alles in allem erinnern die Geschichten über die Elbphilharmonie an den Spruch: „Die große Weltpolitik ist genau so, wie der kleine Maxi sie sich vorstellt.“ Oder an den Oma-Spruch: „Wer viel Geld hat und ist dumm, kauft ein Haus und baut es um.“

Die Elbphilharmonie ruht auf einem alten Backsteinbau. Das Gebäude gegen Erschütterungen (vom Hafen) und vor Lärm (zum Beispiel durch den tutend vorbeiziehenden Luxusliner „Queen Mary“) zu schützen war besonders aufwendig. Ein japanischer Akustikexperte brachte die „weiße Haut“ genannte Verschalung für das Konzerthaus, die, Achtung: symbolhaft!, an Fischschuppen erinnert. Yasuhisa Toyota hat bereits viele Konzerthallen betreut: Er kümmerte sich unter anderem um die 2003 eröffnete Walt Disney Concert Hall in Los Angeles, das Shenzhen Cultural Center in der gleichnamigen chinesischen Wirtschaftsmetropole, um das Konzerthaus in Kopenhagen oder das Musikzentrum „Musiikkitalo“ in Helsinki. Seit 1975 hat Toyota für die ideale Akustik von 17 Gebäuden in aller Welt gesorgt: von Fukushima bis Brisbane, von New York bis Sankt Petersburg.

Wie schaut das Wunderwerk Elbphilharmonie denn nun aus? Ist es schön? Es wirkt in natura viel kleiner als auf den geschickt „geschossenen“ und geschnittenen Fotos. Es erinnert eher an ein altmodisches Piratenschiff als an ein neumodisches Kreuzfahrtschiff. Angesichts des Backsteins unten, des blinkenden Oberkörpers und der Welle oben denkt man an eine Paraphrase auf große, knatternde Segel und, wie passend, an den Blockbuster „Fluch der Karibik“. Insgesamt scheint die Elbphilharmonie, wie übrigens auch das x-mal umgeplante Wiener Museumsquartier, mehr Möchtegern als gelungen, obgleich die Kompromisse optischwohl geringer waren als in Wien. Innen wandelt man über eine imposante Betonrampe, die eine gewaltige technische Herausforderung gewesen ist. Das Konzerthaus bietet einen grandiosen Ausblick aufs Wasser, eine Terrasse, auf der sich auch das Publikum tummeln wird, dasnicht ins Konzert geht. Die Konzertsäle nehmen in ihren Materialien das Thema Schiff (Holz, Bullaugen) auf. Der Große Konzertsaal mit Arena-Podium führt steil nach oben. Die Elbphilharmonie hat eine Tiefgarage. Der Komplex bietet ein Hotel und Wohnungen, die in den oberen Etagen für angeblich 35.000 Euro pro Quadratmeter verkauft werden sollen. Die Lage ist allerdings phänomenal. Fast wie auf dem Bug der „Titanic“.

Hamburg ist keineswegs allein mit Baukosten-Überschreitungen. Früher waren sie an der Tagesordnung, inzwischen gibt es eigene Firmen, die sich ausschließlich mit der Einhaltung von Kosten am Bau beschäftigen. Natürlich werden auch die vorgegebenen Budgets von Universitäten, Kliniken oder Flughäfen oft kräftig überschritten, aber bei Kulturbauten liegt manchem schneller die Frage auf der Zunge: Wozu brauchen wir das?In den Nullerjahren sind trotzdem viele neue Opern- und Konzerthäuser entstanden: Die Elbphilharmonie hätte auch dazugehören können, der Vertragsabschluss über die Errichtung erfolgte bereits 2007. In der Expansion von Musiktheatern, Ausstellungshäusern, Museen spiegelt sich wohl auch eine Umstrukturierung der Nachfrage: Musik und bildende Kunst bescheren in einer vielsprachigen Welt weniger Kommunikationsprobleme als das eher regional wirksame Schauspiel – auch wenn sich dieses seinerseits ins Multimediale erweitert hat.

Die „Frankfurter Allgemeine“ zählte die vergangenen Jahre 16 neue Opernhäuser in Europa, darunter freilich auch solche, die renoviert wurden, und sogar das von Musical auf Klassik umgewidmete Theater an der Wien. Einige relativ neue Musiktheater: Valencia rühmt sich, mit dem Palau de les Arts Reina Sofía das größte Opernhaus Europas zu haben, der Bau des Architekten Santiago Calatrava wurde 2005 eröffnet, 2007 ein Neubau in Bratislava und 2011 einer in Florenz. Einen wagemutigen Schritt setzte Linz mit seinem 2013 eröffneten Neuen Musiktheater. Muss Wien, die Welthauptstadt der Musik, um seinen Ruf fürchten – oder Salzburg? Wohl kaum, wenn weiterhin entsprechend investiert wird. Sicher ist, dass der Wettbewerbsvorteil, den eine attraktive kulturelle Infrastruktur der Wirtschaft beschert, inzwischen allgemein anerkannt ist. 100 bis 150 Millionen Euro sind übrigens für die meisten Musiktheater, die ja durch ihre technische Ausstattung kostspieliger sind als Konzerthallen, wohlfeil. Die Elbphilharmonie ist also teurer als viele Opernhäuser. Halbwegs im Rahmen blieb die wie das Hamburger Konzerthaus technologisch innovative Philharmonie Luxemburg mit 113 Millionen Euro – die 2005 eröffnet wurde.

Die Luxemburger Konzerthalle leitete der heutige Intendant des Wiener Konzerthauses, Matthias Naske, ein gebürtiger Wiener wie der jetzige Intendant der Elbphilharmonie, Christoph Lieben-Seutter. Naske und Lieben-Seutter sind fast gleich alt. Naske lockte das Publikum in Luxemburg mit einem ähnlich breit aufgestellten Programm vom Kind bis zum Senior, von der Klassik bis zu Entertainment, wie das jetzt Lieben-Seutter in Hamburg plant.

Davon später. Bleiben wir noch einen Moment beim Baulichen beziehungsweiseden Baukosten-Überschreitungen, die vom Steuerzahler finanzierte Kultur-Neubauten indie Nähe der privaten Projekte der Herrscher und Aristokraten des alten Europa rücken. 2011 wurde in der isländischen Hauptstadt Reykjavík das Konzerthaus Harpa (Harfe) eröffnet, die Investorengruppe ging infolge der Finanzkrise 2008 pleite, die involvierten Banken wurden verstaatlicht. 2011 wurde das inzwischen von der öffentlichen Hand übernommene Bauwerk dennoch eröffnet, es kostete 160 Millionen Euro, die Isländer waren entsetzt. Aber: Reykjavík hat jetzt ein Wahrzeichen. Darauf hoffen auch die Hamburger. Und wir mit ihnen, wissen wir doch, dass auch unser berühmtes Wiener Freilichtmuseum seine Zeit brauchte, bis es vollendet war.

Manchmal setzen Kulturbauten eine Stadt überhaupt erst auf die Landkarte. Ein leuchtendes Beispiel dafür ist Frank Gehrys Guggenheim-Museum Bilbao, das in nur vier Jahren errichtet wurde, 85 Millionen Euro kostete und 1997 eröffnet wurde. Wie die Elbphilharmonie sieht auch das Guggenheim Bilbao aus wie ein Schiff – womit nichts gegen den Einfallsreichtum berühmter Architekten im Zusammenhang mit Häfen, Gewässern und Städten gesagt werden soll. Als Bilbao-Effekt bezeichnet man heute die gezielte Aufwertung eines Ortes durch spektakuläre Bauten.

Lyon hat das ebenso wenig wie Wien oder Hamburg nötig, trotzdem leistete sich die französische Stadt einen 2014 eröffnetenKulturtempel mit dem auf den ersten Blick rätselhaften Namen „Musée des Confluences“, er bezieht sich auf den Zusammenfluss von Rhone und Saône. Das scheint auch ein Problem gewesen zu sein bei der Errichtung: der sumpfige Untergrund. Die österreichischen Architekten Coop Himmelblau, ihres Zeichens Dekonstruktivisten, errichteten das spektakuläre Gebäude, das in der Tat Dimensionen sprengt, nicht nur ästhetisch. Die Bauzeit dauerte statt vier Jahren 14 Jahre, die Kosten betrugen statt 60 Millionen 300 Millionen Euro. Und das Museum hat eine disparate, aus vielen Elementen zusammengewürfelte Sammlung. Die Franzosen, die bereits ihre als kolonialistisches Raubgut kritisierten ethnologischen Sammlungen in einem Neubau unter dem eleganten Titel „Musée du Quai Branly“ eben am Pariser Quai Branly versammelten und dort nun ein tolles Museum für Kunst und außereuropäische Zivilisationen haben, wussten auch beim Lyoner Haus Rat: Dieses widmet sich dem „globalen Wissen mit Schwerpunkt Naturwissenschaften“. Der Kantönligeist, mit dem österreichische Kunstmuseen ihre Schätze separatistisch hüten (Beispiel: Moderne im Leopold Museum und im Belvedere), mag angesichts solcher unbekümmert „großer“ Lösungen skurril anmuten.

Womit wir wieder in Hamburg wären: In der Musik wird seit Jahren munter fusioniert – stilistisch, chronologisch, instrumental sowieso und oft auch Wort und Bild, sprich: Film. Und das ist auch das Konzept der Elbphilharmonie. Erfindungsgeist wird wohl nötig sein: Die Elbphilharmonie hat 2800 Plätze, die bestehende Laeiszhalle, das traditionelle Konzerthaus Hamburgs, fast 2900. Lieben-Seutter ist der Generalintendant beider Institutionen. Wiewird nun dieses gewaltige Platzangebot an Mann und Frau gebracht? Dazu kommt noch die Hamburgische Staatsoper: mit rund 1700 Plätzen.

Was bietet Lieben-Seutter ab 2017? Da gibt es zum Beispiel ein Silvesterkonzert mit den Hamburger Philharmonikern unter Kent Nagano; Martha Argerich, Julian Rachlin, Anne-Sophie Mutter, Rudolf Buchbinder sind geladen. Aber auch Al Jarreau, Brian Eno (Roxy Music), Jason Moran – oder Paolo Conte. Gegen den nasskalten Winter („Schietwedder“) hilftein Festival namens „Lux aeterna“, das an verschiedenen Orten Sinnlichkeit, Spiritualität und Trost verbreiten soll: mit Musik von Arvo Pärt, einer vierstündigen Achtsamkeitsoper, Folk-, Elektro-, Orgelmusik und dem berühmten Stummfilm über die letzten Stunden von Jeanne d'Arc (Live-Begleitung). Überhaupt jagt ein Festival das andere: Auf „Salam Syria“ folgt „Viva Beethoven“ mit den jungen Musikern von „El Sistema“, „New York Stories“, „MaximalMinimal“ und so fort. Auch Mitmachen ist gefragt, speziell von Kindern, die etwa Instrumente ausprobieren dürfen, auch aus der weiten Welt, zum Beispiel vom indonesischen Gamelan-Orchester.

Wer bei diesem Feuerwerk auch einmal so recht besinnliche Stunden verbringen will, wähle das „KomponistenQuartier“ im Stadtzentrum, das sich jenen Komponisten widmet, die aus Hamburg stammen oder hier tätig waren, darunter Carl Philipp Emanuel Bach, Johann Adolf Hasse, Fanny und Felix Mendelssohn, Brahms und Mahler. Das Verhältnis zwischen den Künstlern war nicht immer friedlich: Der junge Georg Friedrich Händel wurde 1703 als Violine- und Cembalo-Spieler im Opernorchester am Gänsemarkt engagiert und freundete sich mit Johann Mattheson an, einem Multitalent, auch musikalisch, und Sohn eines reichen Hamburger Kaufmanns. Mattheson nahm Händel einen Schüler weg, bei einer Opernvorstellung ohrfeigten die beiden einander, beim Duell zerbrach zum Glück die Klinge von Matthesons Waffe. Das rettete Händel das Leben. Seine Oper „Almira“ erhielt in Hamburg viel Beifall, aber nach drei Jahren wechselte er in die wichtigere Geldmetropole London.

Ein prägender Musiker für Hamburg war Carl Philipp Emanuel Bach, Sohn des Johann Sebastian. Er wurde 1768 Nachfolger Telemanns als städtischer Musikdirektor von Hamburg, mit der Verpflichtung, jährlich 200 Aufführungen in den fünf Hamburger Hauptkirchen zu bestreiten. Angesichts dieses Arbeitsdrucks schrieb er bei sich selber ab wie auch bei Kollegen. Außer für die Kirchenmusik hatte er auch noch für das Hamburger Konzertlebenzu sorgen – mit eigenen Werken. Zwischen 1769 und 1788 schrieb er mehr als 20 Passionsvertonungen und sechs Bände Sonaten für Kenner und Liebhaber. Er war mit Lessing befreundet, der sein Theaterreform-Werk „Hamburgische Dramaturgie“ nannte, und korrespondierte mit einem weiteren Aufklärer, Denis Diderot. Carl Philipp EmanuelBach, über den Mozart befand: „Er ist der Vater, wir sind die Buben“, kannte aber auch Bürgermeister, Theologen, Wissenschaftler, kurz, er war bestens vernetzt, wie man heute sagen würde. Hamburg war für Musiker oft das Sprungbrett nach Wien. Doch wer in Hamburg landen wollte, musste begabt, erfinderisch, schlau und immens emsig sein. Das war anscheinend schon immer so. Klotzen, nicht kleckern, auch an dieses Lebensprinzip der Handels-und Kulturstadt Hamburg erinnert die Elbphilharmonie.

Der durchschnittliche Hamburg-Besucher verbringt dort nur zwei Tage, was angesichts des riesigen kulturellen Angebots schade ist. Besonders witzig sind die kundigen und schauspielerisch begabten Führer in den Hop-on-Hop-off-Bussen. Monotones „Geratsche“ vom Band gibt es in Hamburg nicht. Den besten Reiseführer über die Hansestadt hat der 1977 in Nürnberg geborene Literaturwissenschaftler und Journalist Matthias Kröner geschrieben. Sein Buch, erschienen im Michael Müller Verlag, handelt nicht nur von Sehenswürdigkeiten, von schicken Herbergen und Lokalen, sondern ist eine richtige Kulturgeschichte Hamburgs, die von vielem erzählt, was uns in Europa heutigentags beschäftigt. Da ist eine Hafen- und damit Grenzstadt, eine Hochburg für technische und wirtschaftliche Innovation, aber auch Profit, Gier, Ausbeutung, die Stadt erlebte Ein-und Auswanderung und deren rigorose Kontrolle.

Kröner erzählt von Piraterie (KlausStörtebeker), weit reichenden Schutzbünden gegen fremde Mächte und Konkurrenten, von Menschenhandel, Sklaverei und vom Hamburger Kaufmann Johann Rabe, der nach Peking übersiedelte. Als die Japaner 1931 Nanking überfielen, errichtete Rabe eine vier Quadratkilometer große Schutzzone, in die 220.000 Menschen flohen, manche campierten auf seinem Grundstück, über dem die Hakenkreuzfahne wehte, denn Rabe war bekennender Nationalsozialist. Trotzdem nannte ihn die „New York Times“ den „Schindler Chinas“. Hamburg ist immer gut für Entdeckungen.

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