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30. August 1999 Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Erinnerungen an die Juden von Hohenems

Das Schtetl am Alpenrhein

In anderen alemannischen Landjudengemeinden - etwa in Endingen und Lengnau - lebten mehr jüdische Einwohner als im vorarlbergischen Hohenems. Doch bildete sich dort neben dem Marktstädtchen ein urbanistisch einzigartiges, in seinen Strukturen fast schon an ein Ghetto erinnerndes Stadtdorf, das heute noch von einer bewegten, aber weltoffenen Vergangenheit kündet.

Hohenems ist anders. Historisch, kulturell und urbanistisch unterscheidet sich die Kleinstadt von den übrigen Gemeinden Vorarlbergs. Vom kosmopolitischen Geist, der hier einst wehte, zeugen noch immer das Renaissanceschloss, die dichtbebaute Markt- oder Christengasse und die platzartig sich weitende Schweizerstrasse. Die früher Judengasse genannte Strasse war einst Zentrum einer Landjudengemeinde, deren Bewohner bald mit Hausieren, bald mit Handel ihr Brot verdienten. Enge Beziehungen zur Schweiz führten zum Aufbau der Textilindustrie, aber auch zum Entstehen einer jüdischen Gemeinde in St. Gallen. Diese musste den Gottesdienst anfangs noch in der Hohenemser Synagoge feiern, die 1864 vom St. Galler Architekten Felix Wilhelm Kubly für den liberalen Ritus umgestaltete wurde. Nach dem Bau der St. Galler Synagoge durch die Zürcher Chiodera und Tschudy erhielten diese dann den Auftrag zur Erweiterung der palastartigen Villa Iwan Rosenthal in Hohenems.


Geschichtsträchtige Bauten

Im Schatten des 1562 von Martino Longo errichteten Schlosses, das bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts Sitz der Reichsgrafen von Hohenems war, wuchsen allmählich zwei urbanistische Modelle zusammen: das christliche Marktstädtchen mit den kleinen, traufseitig aneinandergebauten Häusern und die jüdische Dorfstadt mit ihren mehrgeschossigen, dicht zusammengerückten Solitären. Deren spätbarocke Prägung geht zurück auf den Grossbrand von 1777, als Teile des ghettoartig engen Viertels im Stil der Zeit wiederaufgebaut wurden. Da in den letzten Jahren einige Häuser abgerissen wurden, ist die Enge kaum mehr spürbar. Geblieben ist die architektonische, urbanistische und soziale Vielfalt. Doch täuscht diese Idylle, denn die im 17. Jahrhundert herbeigerufenen Juden waren hier nur geduldet.

Reichsgraf Kaspar von Hohenems, der den «markt Embs gern geöffnet und befördert» sehen wollte, fasste 1617 den Beschluss, an seiner Residenz Juden anzusiedeln. Im damals ausgestellten Schutzbrief gewährte er ihnen gegen Schutzgelder und Steuern Glaubens-, Bildungs- und Handelsfreiheit. Juden aus Rheineck, Langenargen und aus dem bayerisch-schwäbischen Raum bildeten die erste prosperierende Gemeinde. Obwohl die Plünderungen und Vertreibungen von 1647, 1663 und 1676 zur Gründung einer zweiten jüdischen Siedlung in Sulz führten, lebte in Hohenems um 1700 schon eine sechzigköpfige Gemeinde, die den Bau einer Holzsynagoge erwog. Doch zwang sie das Veto des Landesherrn, den Gottesdienst wie bis anhin in privaten Räumen zu feiern.

Als sich nach der Vertreibung der Sulzer Juden die Hohenemser Gemeinde verdoppelt hatte, wurde deren Handelstätigkeit auf Druck der Vorarlberger Landstände beschränkt, doch warnte das Bregenzer Oberamt 1768 von einer Ausweisung der Juden, da «Ems sonst völlig veröden» würde. Denn dank den von Triest bis Augsburg und Frankfurt reichenden Beziehungen der Händler und Unternehmer - etwa des 1753 mit dem kaiserlichen Hoffaktorpatent ausgestattete Jonathan Uffenheimer - hatte sich der bäuerlich geprägte Marktort in ein Handelsstädtchen verwandelt, von dessen 2000 Einwohnern um 1770 rund 220 jüdisch waren. Nach Schweizer Vorbild eröffnete Benjamin Löwengard in jenen Tagen die erste Baumwollspinnerei, die von Philipp und Josef Rosenthal erworben und zu einem weltweit tätigen Unternehmen ausgebaut wurde. Die zunehmende Toleranz der Obrigkeit erlaubte es der Gemeinde damals, den Vorarlberger Barockbaumeister Peter Bein mit dem Bau einer Synagoge zu betrauen. Der 1770-72 errichtete, von einer Flachtonne mit Deckengemälde überwölbte und durch Bogenfenster und Okuli erhellte Saalbau mit Empore überstand den Grossbrand von 1777 und bildete danach zusammen mit den im ländlich-vorarlbergischen Spätbarock wiedererrichteten Häusern eine stilistische und urbanistische Einheit - ein jüdisches Stadtdorf, das bald über alle wichtigen religiösen und sozialen Einrichtungen verfügte: vom jahrhundertealten Friedhof über die 1829 neuerbaute Mikwe bis zum Armenhaus, das 1872 im ehemaligen Burgauerhaus im Judenwinkel eingerichtet werden konnte.


Frühe Weltoffenheit

Das 1781 von Kaiser Joseph II. unterzeichnete Toleranzpatent und die anschliessende bayrische Verwaltung brachten den jüdischen Bürgern mehr Rechte, aber 1813 auch die berüchtigte «Normalzahl», mit der das Wachstum der Gemeinden beschränkt werden sollte. Die neuen Freiheiten spiegeln sich nicht nur in den damals entstandenen Stadtpalästen der reichen Familien, sondern auch in drei bescheideneren Bauten, die den kleinen Synagogenplatz fassen: Das heute zerstörte Rabbinerhaus war früh schon Wirkungsstätte weitherum bekannter liberaler Rabbiner. Im Sulzerhaus wurde der in Endingen ausgebildete, seit 1826 am Wiener Stadttempel tätige und mit «Schir Zion» zum Erneuerer des Synagogalgesangs gewordene Kantor Salomon Sulzer geboren (1804-90); und das 1832 für Simon Brettauer, den Begründer des gleichnamigen Bankhauses errichtete Brettauer-Haus fand Eingang ins literarische Schaffen von Stefan Zweig, der mütterlicherseits aus dieser Familie stammte.

Die wirtschaftliche Macht lag in den Händen weniger Familien, etwa der Löwengard, Rosenthal, Hirschfeld oder Brentano. Die Mehrheit verdiente ihren Lebensunterhalt als Kleinhändler, von denen einige - etwa die Familie Schwarz - sich im vorigen Jahrhundert zu Bankiers hinaufarbeiten konnten. Solcher Erfolg nährte den Wunsch nach Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft. Da diese nur über Bildung zu erreichen war, wurde kurz nach dem Toleranzedikt die jüdische «Normalschule» gegründet, die dank Lehrkräften aus Wien und Prag bald schon als eine der besten galt und zwischen 1861 und 1896 auch viele christliche Schüler anzog. Parallel zum Wechsel von der Rabbiner- zur Normalschule ging die Reformierung des Gottesdienstes, für die sich schon um 1830 Rabbiner Abraham Kohn stark machte. Kohns Nachfolger Daniel Ehrmann und Simon Popper führten die Liturgiereform fort und beauftragen Felix Wilhelm Kubly 1864 mit dem Umbau der Synagoge: Neben dem neu entworfenen Thoraschrein installierte er die Bima und auf der ehemaligen Frauenempore ein von Salomon Sulzer gestiftetes Harmonium.

Die Säkularisierung förderte das Entstehen des Vereinslebens: 1837 wurde ein Synagogenchor und kurz danach der Museums-Verein für Vorarlberg gegründet. Das bereits 1819 von Jakob Kitzinger aus Pfersee bei Augsburg als «Kaffeeausschank nebst Billard» eröffnete Kaffeehaus Kitzinger, das erste in Vorarlberg, wurde Treffpunkt des sich der Literatur, Kunst und Wissenschaft widmenden Vereins Concordia. Versammlungsort der Sozialdemokraten hingegen war das Gasthaus «Zur frohen Aussicht» der Familie Landauer; und die weitverzweigte Industriellenfamilie Rosenthal pflegte den gesellschaftlichen Kontakt zum liberalen Hohenemser Bürgertum.


Schneller Niedergang

Die Öffnung begünstigte aber auch die Abwanderung. Sie veranlasste den letzten grossen Rabbiner von Hohenems, Aron Tänzer, um 1900 die Geschichte der Gemeinde festzuhalten. Der demographische Aderlass führte 1913 zur Schliessung der Schule und ein Jahr später zur Verlegung des Rabbinats für Vorarlberg und Tirol nach Innsbruck. 1931 bezeichnete dann Theodor Elkan, der letzte Vorsteher der Kultusgemeinde, diese als eine, «die nur noch von den Erinnerungen lebt». Nicht ohne Einfluss auf diese Entwicklung war der im 19. Jahrhundert an die Stelle des christlichen Antijudaismus getretene christlichsoziale und deutschnationale Antisemitismus, der sich gezielt gegen das liberale Lager und die «Judensozis» wandte. Als dann die Nazis 1938 in Österreich die Macht ergriffen, zählte die jüdische Gemeinde Hohenems nur noch 27 Mitglieder.

Die «Reichskristallnacht» überstand die Hohenemser Synagoge als eine der wenigen Österreichs unbeschädigt. 1940 wurde die Jüdische Gemeinde aufgelöst: Synagoge, Rabbinerhaus und Friedhof wurden enteignet, das Silber konfisziert und die zurückgebliebenen Juden nach Wien und anschliessend in die Todeslager deportiert. Um die «Erinnerungsstätten ehemaliger jüdischer Herrschaft in Hohenems» ganz auszulöschen, sollte die Synagoge in eine Schule, ein Kino oder in ein Zeughaus umgewandelt werden. Doch kam es anders, denn nach dem Krieg durfte sie als Synagoge der Displaced Persons genannten jüdischen Überlebenden der Konzentrationslager, die die Franzosen von 1945 bis 1954 in Hohenems betreuten, nochmals eine kurze Blüte erleben. Danach aber baute man die diesmal legal von der neuen Besitzerin, der Israelitischen Kultusgemeinde Innsbruck, erworbene Synagoge - als sollte nun die jüdische Vergangenheit für immer ausradiert werden - wirklich in ein Feuerwehrhaus um und versah sie in einem Akt gezielter Geschichtsfälschung mit einer Tafel, die 1954/55 als Baujahr nennt. Ja, man ging noch weiter und riss - urbanistisch völlig widersinnig - das Rabbinerhaus und zwei andere, das Ensemble prägende Bauten an der Schweizerstrasse ab sowie eines der Rosenthal-Häuser am Eingang zum Judenwinkel, dieses um Platz für die Jakob-Hannibal-Strasse zu schaffen.

Trotz dieser Abbruchwut ist noch immer viel Substanz erhalten: die bescheidenen Rheintalerhäuser ebenso wie die Rosenthalvillen. Sie künden gleich wie der romantische Friedhof oder das ehemalige Bankhaus Schwarz am Schlossplatz von einer Vergangenheit, die immer mehr Menschen, nicht nur die Nachkommen von «Vorarlbergs vergessenen Juden», fasziniert. Auf diese Hohenemser, an die nur noch Bezeichnungen wie Judenviertel, Judenschule oder Judenhäuser erinnerten, wurden die Einheimischen erst wieder 1973 wegen eines Streits um die Zukunft der jüdischen Schule aufmerksam. Drei Jahre später signalisierte dann der Entscheid, mit einer Tafel am Sulzerhaus des grossen Kantors zu gedenken, die endgültige Abwendung von der Politik der «stillschweigenden Vergangenheitsbewältigung».

Die inzwischen zur Stadt gewordene Gemeinde erwarb dann 1984 die arg verwahrloste, 1864 wohl von Kubly für den Baumwollfabrikanten Anton Rosenthal errichtete Villa Heimann- Rosenthal, um sie nach kurzem Hin und Her zum Sitz des Jüdischen Museums Hohenems umzubauen. Das von Roland Gnaiger vorbildlich renovierte und von Elsa Prochazka eingerichtete Haus wurde nach der Eröffnung im April 1991 mit dem Österreichischen Museumspreis ausgezeichnet. Das hier so erfolgreiche Zusammenspiel von historischer und zeitgenössischer Architektur liesse sich auf das ganze jüdische Viertel übertragen, das ebenfalls nach Restaurierung und Erneuerung ruft. Um dies zu erreichen, muss allerdings noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. Wurde doch noch 1994 das einst als bürgerliches Gegenstück zum Schloss erbaute Bernheimerhaus nach einem Brand auf Befehl des damaligen Bürgermeisters abgerissen, obwohl es unter Denkmalschutz stand. Dies führte dazu, dass das Museum im Rahmen des Projekts «Ein Viertel Stadt» vor Ort auf die urbanistische Bedeutung des schutzwürdigen Quartiers aufmerksam machte.

Daraus erwuchs eine von der Architektin Beate Nadler geleitete Arbeitsgruppe, die 1998 im Auftrag der Stadt ein Leitbild zur kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Belebung des zum Sanierungsgebiet erklärten Viertels vorlegte. Neben der Erarbeitung eines Verkehrskonzepts regte sie einen städtebaulichen Ideenwettbewerb an. Die drei geladenen Architekten - Hermann Czech aus Wien, Peter Märkli aus Zürich und Gerold Wiederin aus Feldkirch - verdichteten ihre Vorschläge gemeinsam mit den Juroren Gnaiger aus Bregenz und Marcel Meili aus Zürich zu einem Modell, das das Areal rund um die Villa Iwan Rosenthal als «Vorstadtgarten» erhalten, das jüdische Viertel sanieren und die Baulücken ergänzen will. Hervorgehoben wird sodann das Entwicklungspotential der Zone zwischen dem jüdischen Viertel und dem Schlossplatz, wo neue Wohn- und Geschäftsbauten, ein Einkaufszentrum und - wenn immer möglich - am Kirchplatz ein neues Rathaus entstehen sollen.


Rosige Zukunftsvisionen

Die Arbeitsgruppe wünscht sich das jüdische Viertel als ein attraktiv gemischtes Wohnquartier mit sozialen Einrichtungen, Arztpraxen, Büros und Geschäften, das dereinst mit seinen Museen, Veranstaltungslokalen und Restaurants im ehemaligen Café Kitzinger, in der Schule oder in der Synagoge zu einem kulturellen Zentrum der Region würde. Der Bürgermeister träumt hingegen lieber von einer «Märchenstadt Hohenems». Im Gegensatz zu diesem rein touristisch ausgerichteten Projekt böte ein restrukturiertes jüdisches Viertel eine kulturgeschichtliche und architektonische Besonderheit, die Hohenems - ähnlich wie bereits Bregenz - im Rahmen der international beachteten Vorarlberger Architektur zu einem grossen Auftritt verhelfen könnte.

Voraussetzung ist allerdings, dass das jüdische Viertel nicht weiter vernachlässigt, dass es aber auch nicht zu Tode saniert wird und dass die Disneyfizierung, wie sie mit einem anpasserischen Neubau am Eingang zum Judenwinkel bereits Form angenommen hat, nicht weiter vorangetrieben wird. Wie man völlig abgetakelte Bauten in eigentliche Juwelen verwandelt, hat Gerhard Lacha, ein engagierter Privatmann, mit der vorbildlichen Restaurierung des barocken Elkan- Hauses und eines Gebäudes im Judenwinkel gezeigt. Hausbesitzer sollten aber nicht nur motiviert werden, das Bauerbe sorgsam zu erneuern, sondern auch die durch Abbruch entstandenen Lücken mit wegweisenden Neubauten zu füllen. Dies dürfte in einer Gegend mit einer derart hochstehenden zeitgenössischen Baukultur, wie Vorarlberg sie besitzt, kaum Schwierigkeiten bereiten. Die Pfarrei St. Karl jedenfalls hat mit dem von den Dornbirner Architekten Elmar Nägele und Ernst Waibel gleich hinter dem Jüdischen Museum erbauten Pfarrheim einen wichtigen Schritt gewagt.

Nun läge es an der Stadt, mit einem intelligenten Neubau anstelle des vor über dreissig Jahren abgebrochenen Rabbinerhauses ein Zeichen zu setzen. Weiter müsste diese dringend die ihr gehörenden Bauten restaurieren: Neben der jüdischen Schule, die wieder erzieherische Aufgaben erfüllen sollte, handelt es sich dabei vor allem um die Synagoge. Bereits jetzt - ein Jahr von dem Auszug der Feuerwehr - wird ihre Zukunft heftig debattiert: Soll das fast ganz entkernte Gebäude in seine ursprüngliche Form zurückgeführt, sollen nur die Fassaden rekonstruiert oder soll der Istzustand konserviert werden? Auf Grund der Forschungsergebnisse von Reinhard und Ada Rinderer wäre eine Rekonstruktion durchaus möglich. Doch wozu sollte eine Synagoge ohne Gemeinde dienen? Man könnte daher auch den Bereich der drei Garagentore um eine gläserne Eingangshalle zum Synagogenplatz hin erweitern und den freigelegten Innenraum des einstigen Tempels künftig als Veranstaltungssaal nutzen und dafür - wie früher einmal - im hinteren Teil einen kleinen Gebetsraum einrichten.

Schliesslich sollte das Land Vorarlberg zwei Schlüsselbauten, die heute noch in Privatbesitz sind, erwerben, sanieren und neuen Aufgaben zuführen: die 1890 von Chiodera & Tschudy erweiterte und samt Inneneinrichtung, Bowlingbahn und Kutscherhaus erhaltene Villa Iwan Rosenthal könnte als Sitz der geplanten jüdischen Sommerakademie, das Armenhaus - seiner einstigen Funktion ähnlich - als Studentenheim oder Jugendherberge genutzt werden. Vielleicht wären dann auch die jetzt noch eher skeptischen Hausbesitzer bereit, ihren Teil zum ambitiösen urbanistischen Projekt beizutragen. Doch dieses muss im September erst einmal die Instanzen passieren. Zu hoffen bleibt, dass bald politischer Wille den Traum von der Neubelebung des Schtetls am Alpenrhein beflügeln wird.

6. August 1999 Neue Zürcher Zeitung

Wachsender Musentempel

Wer in diesen Tagen die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel besucht, ist betört von der arkadischen Stimmung des kleinen Parks, aus dessen Seerosenteich das Ausstellungsgebäude wie ein Tempel sich erhebt. Der selten glückliche Zusammenklang von meisterhafter Architektur, intimem Garten und bedeutenden Kunstwerken verwandelte das Museum in kurzer Zeit in eine Attraktion. Doch bald schon werden Bagger diese kulturtouristische Idylle stören. Denn bereits im September soll im versteckten Teil der Grünanlage am Nordende des Museums eine bauliche Erweiterung in Angriff genommen werden. Es waren der über Erwarten grosse Besucherandrang und der Platzanspruch der Sonderausstellungen, die Ernst Beyeler veranlassten, über mehr Raum nachzudenken. Da der durch parallele Wandsysteme geprägte Bau von Renzo Piano gleichsam als Musée à croissance illimitée konzipiert wurde, verursachte der Wunsch nach einer Raumvermehrung dem Meister wenig Kopfzerbrechen. Im Nu lieferte er denn auch ein logisch aus dem Istzustand hervorgewachsenes Erweiterungsprojekt, das gegenwärtig in einem Kabinett am Eingang zur «Face to Face»-Schau zusammen mit Modellen des heutigen Gebäudes präsentiert wird. Piano verlängert die Museumsmauern und das transparente Dach aus Glas und Stahl um 12 Meter nach Norden und schafft so neu drei frei unterteilbare Raumeinheiten von insgesamt 280 Quadratmeter Grundfläche. Damit können im Erd- und im Untergeschoss voneinander unabhängige Ausstellungen gezeigt werden. Zudem wird ein weiterer Raum für allfällige Neuerwerbungen gewonnen. Im Untergeschoss finden neu Seminarräume und eine Bibliothek Platz. Vom Erscheinungsbild her dürfte sich das erweiterte und in seinen Proportionen etwas gestreckte Museumsgebäude nicht nachteilig verändern. Da gleichzeitig die nordseitige Parkfläche vergrössert werden soll, wird sich auch für den zum Regenwasserteich hin steiler werdenden Abhang eine landschaftsgestalterische Lösung finden lassen. Die Erweiterungsarbeiten, die ohne Einschränkung des Museumsbetriebs durchgeführt werden, sollen im März 2000 abgeschlossen sein, so dass im nächsten Frühjahr neben einem flächenmässig gewachsenen Haus auch eine grössere Parkanlage die Besucher der Fondation Beyeler empfangen werden.

Fondation Beyeler in Riehen, bis 12. September.

3. August 1999 Neue Zürcher Zeitung

Im Süden nichts Neues

Ein Blick auf die Tessiner Architektur in Monte Carasso

Die Tessiner Baukunst - einst international bewundert - ist in die Jahre gekommen. Obwohl noch immer attraktive Bauten entstehen, hat eine Rückbesinnung die architektonischen Debatten abgelöst. Längst schon Geschichte ist die legendäre «Tendenzen»-Ausstellung in Zürich, die 1975 das Bauen im Südkanton erstmals zur Diskussion stellte. Kurz darauf erhob dann Kenneth Frampton die «Tessiner Schule» zum Musterbeispiel eines «kritischen Regionalismus». Seither ist sie Gegenstand zahlloser Zeitungsartikel, Aufsätze, Bücher und Ausstellungen. Diese Hinwendung gipfelt nun in einer Analyse des Bauens der letzten vier Dezennien im Tessin aus italienischer Perspektive. Es handelt sich dabei um eine von der Architekturabteilung der Universität Venedig unter Roberto Masiero konzipierte Wanderausstellung, zu der soeben die lang erwartete Begleitpublikation erschienen ist. Sie unterscheidet sich von früheren Katalogen und Übersichtswerken - etwa der 1996 von Peter Disch veröffentlichten «Neueren Architektur im Tessin», die leider auch viel Banales präsentierte - durch ihre Konzentration auf qualitätvolle Bauten.


Erinnerung an grosse Zeiten

Die Schau, die gegenwärtig in Monte Carasso bei Bellinzona im ehemaligen Convento delle Agostiniane gastiert, ist bis auf die kritische Einleitung mit dem Buch identisch. Grosse Schautafeln vermitteln einen thematisch-typologisch geordneten Überblick über rund sechshundert Bauten und Projekte, von denen hundert mit Abbildungen, Plänen und Kurztexten näher vorgestellt werden. Dass dabei den Einfamilienhäusern eine zentrale Stelle zukommt, überrascht kaum. Waren doch die ersten Bauten, mit denen sich um 1960 eine neue Generation aus dem Dunstkreis des Übervaters Rino Tami und der Wrightianer Brivio und Ponti löste, Einfamilienhäuser. Damals konnte Aurelio Galfetti mit seiner Casa Rotalinti noch ein markantes Zeichen in die Landschaft setzen, und Mario Botta war der Überzeugung, mit seinen Villen die Landschaft erst zu bauen. Diese Haltung, die sich kaum um das Ambiente kümmerte, trug das Ihre bei zur Verwandlung einer der schönsten Gegenden Europas in eine halbstädtische Agglomeration.

Der Städtebau hat in dieser suburbanen Welt, in der das Auto Mass aller Dinge ist, eine schwierige Position. So wird in diesen Tagen in Locarno Galfettis gigantische «Megarotonda» vor dem Castello Visconti dem Verkehr übergeben; und auf der Piazza del Sole in Bellinzona erinnern seit kurzem monumentale Betonkeile an die darunter sich befindende Tiefgarage. Von solch brutalem Umgang mit der Stadt heben sich Raffaele Cavadinis subtile Eingriffe in die verwinkelte Dorfstruktur von Iragna und der von Luigi Snozzi mit viel städtebaulicher Intelligenz vorangetriebene Umbau von Monte Carasso wohltuend ab. Neben dem urbanistischen Defizit machen Katalog und Wanderschau zudem deutlich, dass die Tessiner Architektur im Schulhausbau der sechziger und siebziger Jahre ihre hohe Zeit erlebte. Im Zusammenhang mit dem gegenwärtigen Revival dieser Epoche erhalten auch andere Frühwerke von Botta, Snozzi oder Vacchini eine Aura. Während Bottas individueller Stil schliesslich eine Schar uninspirierter Nachfolger auf den Plan rief, die von den Ausstellungsmachern zu Recht ignoriert wurden, hat die Snozzi-Schule mit ihren strengen Betonbauten dem Tessin eine neue Einfachheit beschert, die nicht zuletzt das Zentrum von Monte Carasso mit vielen guten Beispielen prägt.

Ausführlicher als die älteren Bauten werden die «jüngsten Recherchen» vorgestellt. Weil die jedoch den Stand von 1995 belegen und weil zudem die 18 wichtigsten Architekten mit je einem Beispiel gewürdigt werden, erfährt man hier kaum Neues. Von den - mit Ausnahme der beiden Mittfünfziger Botta und Ivano Gianola - heute bereits im Pensionsalter stehenden Tessiner Meistern ist in den letzten Jahren einzig Livio Vacchini zu neuen Ufern aufgebrochen. Sein klassizistisch gestraffter Rationalismus kreist um aktuelle Themen wie Fassadenhaut oder Entmaterialisierung und führt zu so provozierenden Bauten wie der Post von Locarno, so seltsamen Monumenten wie der Turnhalle von Losone oder so formvollendeten Bauplastiken wie dem Mehrfamilienhaus in Lugano. Vacchini ist sicher der schwierigste, vielleicht aber auch der bedeutendste Exponent der Tessiner Architektur der neunziger Jahre. Neben ihm wecken vor allem die Snozzi-Schüler Cavadini und Michele Arnaboldi Interesse sowie Roberto Briccola, dessen rigorose Haltung man gleich vor Ort im kleinen «Turmhaus» oder in der Casa Roggero überprüfen kann.


Hoffen auf innovative Ideen

Gewinnt die Ausstellung in Monte Carasso, dem bedeutendsten «Freilichtmuseum» für Tessiner Architektur und Städtebau, ganz entschieden von den Originalen gleich vor der Türe, so setzt das Buch auf Vertiefung. Dabei sieht es den architektonischen Diskurs gleichermassen von italienischer Rationalität und helvetischer Detailliebe bestimmt und sucht die Tessiner Eigenart in der Verschmelzung lombardischer Kultur mit einer vom Geist Le Corbusiers geprägten Deutschschweizer Ausbildung zu ergründen. Allerdings besitzt das Tessin inzwischen - vorab dank Bottas Initiative - eine eigene Architekturakademie in Mendrisio. Gleichwohl ist von baukünstlerischer Aufbruchstimmung kaum etwas zu spüren. Der Entfaltung der jüngeren Generation stehen allerdings weniger die arrivierten Meister als vielmehr die Seilschaften von Politikern und Investoren im Weg. Dabei verlangt das heutige Tessin nach innovativen Ideen und neuen Lösungen. Da kommt Luganos Bürgermeister Giorgio Giudici, von Haus aus selber Architekt, eher ungelegen, wenn er in dieser Krisensituation ein Kongresszentrum auf dem Campo Marzio an Botta vergeben und das verfallende Palace einem kommerziellen Neubau opfern möchte, statt es im Zusammenklang mit aktueller Architektur zu neuem Leben zu erwecken.


[ Die Ausstellung in Monte Carasso ist bis zum 29. August von Mittwoch bis Sonntag von 17 bis 20 Uhr geöffnet. - Begleitbuch: Architettura in Ticino. Hrsg. Roberto Masiero. Skira editore, Mailand 1999. 317 S., Fr. 84.-. ]

1. August 1999 NZZ-Folio

Die Fassade als Spiegel der Stadt

Die Auseinandersetzung mit dem Ort, seiner Geschichte und Kultur ist Ausgangspunkt von Rafael Moneos baukünstlerischer Recherche. Deshalb lassen sich die meist von einem spannungsvollen Dualismus bestimmten Bauten des 62jährigen Pritzker-Preis-Trägers - die vom Atocha-Bahnhof in Madrid über das Miró-Museum auf Mallorca bis zum gläsernen Kursaal von San Sebastian die unterschiedlichsten Erscheinungsbilder zeigen - weder stilistisch noch formal leicht schubladisieren. In ihnen vereinigen sich Anklänge an den italienischen Rationalismus mit einem Formgefühl, das Moneo seinem Lehrmeister Jørn Utzon verdankt. Dieser nordische Akzent, der sich in den Proportionen und der Materialwahl manifestiert, trug ihm 1991 den Auftrag für das Moderna Museet in Stockholm ein. In diesem Meisterwerk der zeitgenössischen Museumsarchitektur führte er das Bauen im geschichtlichen Umfeld, mit dem er sich seit dem Archäologischen Museum in Mérida intensiv befasste, zu einem neuen Höhepunkt.

Nun durfte der Grossmeister der Einfühlung an einem der stimmigsten Plätze Iberiens, der Plaza Cardenal Belluga in Murcia, auf das «Geflüster des Ortes» antworten. Die räumlich enge, architektonisch aber prachtvolle Anlage im Herzen der südspanischen Provinzhauptstadt, an der es einen Erweiterungsbau des klassizistischen Rathauses zu errichten galt, wird bestimmt durch die vor 250 Jahren von Jaime Bort errichtete Barockfassade der Kathedrale und den erzbischöflichen Palast. Schon als Moneo 1993 seinen Entwurf erarbeitete, klaffte an der Stelle des geplanten Neubaus ein Loch, das vom spekulativen Abbruch eines Stadthauses herrührte.

Fasziniert vom urbanistischen Potential des geschundenen und zum Verkehrskreisel degradierten Stadtraums, schlug Moneo neben dem Neubau auch eine Umgestaltung der Plaza vor, die wieder zum Zentrum der Altstadt werden sollte. Für Moneo ist daher der Platz der Schlüssel zum Entwurf. War doch im eleganten Kreis der Barockbauten ein Gebäude gefragt, das sich weder aufspielt noch duckt, weder mit High-Tech-Spielereien vordrängt noch mit postmodernen Maskeraden anbiedert, das aber gleichwohl seine Position diskret und mit Bestimmtheit zu behaupten weiss.

Nicht nur diese anspruchsvollen Voraussetzungen erfüllte Moneo. Er ermöglichte der rückwärtigen Erweiterung des auf den Segura-Fluss ausgerichteten Rathauses zudem einen würdigen Auftritt am bisher ganz von der klerikalen Macht geprägten Cardenal-Belluga-Platz. Dem barocken Pomp antwortete er mit einer zur Plaza hin rational gestrafften Bauplastik und hielt mit der ihr wie ein riesiges Bild vorgesetzten Hauptfassade dem Gotteshaus einen Spiegel vor.

Der Anbau wächst aus einem gekurvten Graben empor. Der zeichnet den Grundriss des einstigen Stadtpalais nach und distanziert das neue Haus ein wenig von der historischen Umgebung. Die massiven, mit rosafarbenem Muschelkalk aus Cavila verkleideten Mauern geben sich unten burgartig, öffnen sich im Piano nobile jedoch zu einem diaphanen Wandsystem. Moneo deutete dabei die Säulen und Skulpturen der Kathedrale geschickt in kantige Pfeiler um, die die Stirnwand musikalisch rhythmisieren. Hinter ihnen glänzen blaue Fensterbänder, während eine Öffnung im Belvedere ein Stück Himmel rahmt.

Auch wenn Moneo gerne auf die Verwandtschaft seiner Schaufassade mit dem gigantischen neugotischen Retabel der Kathedrale hinweist, gibt es für sie in Murcia noch ein anderes Vorbild: den unter Franco errichteten Palast der Provinzabgeordneten am Segura. Das Fassadenraster und der zum Himmel hin transparente Belvedere gemahnen ausserdem an Terragnis Casa del Fascio in Como. Das heisst nun aber nicht, dass der Rathausanbau mit herrischer Geste weltliche Macht am kirchlich geprägten Platz zur Schau stellen wollte. Vielmehr vermeidet der asymmetrische Rhythmus alles Monumentale und verleiht der Fassade jene individuelle Note, dank deren sie sich abhebt von den neutralen Seitenfluchten, die in ihrer kubistischen Plastizität an Moneos Barceloneser Bürohaus erinnern.

Die Dynamik des trapezförmigen, von Moneo mit einer dunklen Pflästerung aus Piedra gris, hellen Travertinstreifen und einer Reihe Orangenbäume gestalteten Platzes fand Eingang im Grundriss des Neubaus. Aus dessen unregelmässigem Baukörper ist die Fassade so herausgedreht, dass sie der Kirche die Stirn bieten kann. Dadurch entsteht eine tief ins Gebäude eingekerbte Bruchzone, an der sich der Haupteingang befindet. Der führt in eine kleine Halle, die ebenerdig den Vortragssaal und über eine enge Treppe die vier Obergeschosse mit je einem sich nach Norden öffnenden Grossraum- und mehreren nach Süden orientierten Einzelbüros erschliesst. Im zweiten Stock befindet sich - dem Piano nobile des Bischofspalastes entsprechend - der doppelgeschossige Empfangssaal mit dem grossen, auf den Platz und die Kathedrale ausgerichteten Fenster. Der spektakuläre Blick von hier auf das barocke Architekturtheater bleibt der Bevölkerung verborgen, und auch der Belvedere ganz zuoberst ist unzugänglich, obwohl dort der ideale Platz für jene Bar gewesen wäre, die sich nun im gekurvten Graben versteckt. Doch viel entscheidender als dieses Detail ist, dass Moneo mit seinem Bau die schönste Platzanlage Murcias wiederbelebt hat.

30. Juli 1999 Neue Zürcher Zeitung

Neues Leben blüht aus den Ruinen

Eine Ausstellung zur Synagogenarchitektur in Dresden

Dresden besass einst mit dem 1840 vollendeten Semper-Bau ein Hauptwerk der Synagogenarchitektur. Doch die Barbarei der Nazis löschte nicht nur die jüdische Gemeinde aus, ihr fiel auch Sempers Meisterwerk zum Opfer. Heute ist die ehemals blühende Gemeinde dank Zuwanderung aus dem Osten wieder auf 200 Mitglieder angewachsen. Für diese soll nun am früheren Standort der Semper-Synagoge auf den Brühlschen Terrassen ein neues Gotteshaus entstehen. Doch anders als die kriegszerstörte Frauenkirche wird die in der «Reichskristallnacht» abgebrannte gebrandschatzte und dann geschleifte Synagoge nicht rekonstruiert. Das mag man bedauern angesichts des historischen und baukünstlerischen Wertes dieses einzigen von Gottfried Semper realisierten Sakralbaus. Doch lässt ein vom jungen Saarbrücker Architekturbüro Wandel, Hoefer, Lorch zusammen mit Nikolaus Hirsch aus Frankfurt a. M. erarbeitetes Projekt auf einen innovativen Neubau hoffen. Dieser dürfte das mit guter zeitgenössischer Architektur nicht eben verwöhnte Dresden mit einem starken Akzent beleben und gleichzeitig die Synagogenarchitektur um ein wichtiges Beispiel bereichern.


Canaletto-Panorama mit Neubau

Die Pläne, Entwürfe und Maquetten des geplanten Gotteshauses bilden gegenwärtig zusammen mit Bildern, Urkunden und einem Modell des berühmten Vorgängerbaus das Herzstück einer der Synagogenarchitektur gewidmeten, von einem attraktiven Katalogbuch begleiteten Ausstellung im Japanischen Palais des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden. Sie rollt die Geschichte der Synagoge am Beispiel von Dresden und seinen zwölf Partnerstädten (von Brazzaville über Columbus und Florenz bis Skopje) auf und erläutert an ihnen neben religiösen und kulturellen Aspekten auch baugeschichtliche Fragen und das Problem einer Rekonstruktion des Semper-Baus. Dadurch entstehen interessante Querverbindungen und werden bisher kaum beachtete Synagogenbauten ins Licht gestellt. Allerdings führt die auf Dresdens Partnerstädte beschränkte Optik zu einer gewissen Einseitigkeit, kommen doch die beiden bedeutendsten erhaltenen Nachfolgebauten der Semper-Synagoge, die von Chiodera & Tschudy errichteten Synagogen in St. Gallen und an der Zürcher Löwenstrasse, ebenso- wenig zur Sprache wie die reiche, von manch wegweisenden, aber auch eigenwilligen Lösungen geprägte amerikanische Synagogenkultur dieses Jahrhunderts. Gleichzeitig wird die zeitgenössische Entwicklung in Deutschland, die jüngst in Zvi Heckers Neubau von Synagoge und Gemeindehaus in Duisburg (NZZ 26. 6. 99) kulminierte, auf diese Weise leider ausgeklammert.

Der Entscheid für einen Neubau anstelle der im wiederaufbauwütigen Dresden naheliegenden Rekonstruktion des Semper-Baus war nicht unangefochten. Denn dieser kommt nicht irgendwo zu stehen. Vielmehr wird er den markanten Abschluss des stolz Canaletto-Blick genannten Elbpanoramas bilden. Daher wurde der Wettbewerb für eine Synagoge mit Gemeindezentrum sowie Räumen für religiöse Erziehung, Bibliothek und Verwaltung sorgfältig vorbereitet und 1997 europaweit ausgeschrieben. Die Vorschläge von Livio Vacchini und Heinz Tesar erhielten zwar je einen ersten Preis, doch fiel die Wahl der jüdischen Gemeinde nicht zuletzt aus funktionellen und städtebaulichen Erwägungen auf das drittplacierte Projekt. Synagoge und Gemeindehaus sind hier in zwei getrennten Betonkuben auf einem langen, schmalen Podest angeordnet und durch einen Hof getrennt. In dessen baumbestandener Hälfte befindet sich die Mikwe, während auf dem freien Platz der Grundriss der Semper-Synagoge eingelassen ist und so die verlustreiche Geschichte mit einbeziehen soll.

Zur rekonstruierten Altstadt hin wird sich das Gemeindehaus erheben, zum Fluss hin die Synagoge. Deren nach oben leicht verdrehter Betonkubus wird durch ein Oberlicht erhellt und ist im Innern - in Anspielung auf Sempers Prinzip der Bekleidung - mit einem nach Osten gerichteten, durchsichtigen Metallgewebe ausgekleidet. In diesen zeltartigen Raum werden Thoraschrein, Bima, Bänke und Empore wie Möbel hineingestellt. Verweist der massive Aussenbau auf den Tempel in Jerusalem, so gemahnt das textile Innere an das biblische Stiftszelt. Auf derart eigenwillige Weise ist das die jüdische Tradition prägende Gegensatzpaar des Dauerhaften und des Provisorischen wohl noch in keinem anderen Synagogenbau zum Ausdruck gebracht worden. Darüber hinaus erinnert die doppelte Codierung erneut an die Semper-Synagoge mit ihren aussen deutsch- romanisch, innen aber maurisch-orientalisch inspirierten Formen.


Finanzierungsprobleme


Obwohl bereits im letzten Herbst der Grundstein der neuen Synagoge gelegt wurde und gegenwärtig bauvorbereitende Massnahmen vonstatten gehen, ist die Realisierung dieses für Deutschland architektonisch und kulturpolitisch gleichermassen bedeutenden Baus noch nicht völlig gesichert. Denn obwohl die Dresdner 1938 die Synagoge mutwillig zerstörten und die jüdischen Bürger danach auch noch das Abtragen der Ruine bezahlen mussten, kommt die Bundesrepublik nicht für den Neubau auf. Gemäss einem in Westdeutschland schon vor 1989 gültigen Schlüssel beteiligen sich das Land, also der Freistaat Sachsen, und die Stadt Dresden zu je einem Viertel an den auf 20 Millionen Mark veranschlagten Baukosten. Der Rest muss von der kleinen jüdischen Gemeinde und durch Spendengelder aufgebracht werden. Die Ausstellung im Japanischen Palais will daher nicht nur möglichst weiten Kreisen jüdische Religion, Kultur und Tradition näherbringen, sondern sie auch motivieren, sich finanziell für den Synagogenneubau stark zu machen. Denn wer weiss: vielleicht wird der ambitiöse Neubau einmal ebenso stilbildend werden, wie es einst sein berühmter Vorgänger war. (Bis 26. September)


[ Annegret Nippa und Peter Herbstreuth: Eine kleine Geschichte der Synagoge aus dreizehn Städten. Verlag Dölling und Galitz, Hamburg 1999. 342 S., Fr. 46.-. Förderverein «Bau der Synagoge Dresden», Bautzner Strasse 20, D-01099 Dresden. ]

2. Juli 1999 Neue Zürcher Zeitung

Wegweisende Architektur am Innenhafen

Duisburg setzt neue Massstäbe für das Ruhrgebiet

Die Auswirkungen der IBA Emscher Park sind im nördlichen Ruhrgebiet allenthalben auszumachen. Symbol dieser Erneuerung ist die von Norman Foster zum Design Center Nordrhein- Westfalen umgebaute Zeche Zollverein in Essen. Nirgends aber trifft man auf ein gelungeneres Bauensemble als an dem vor 106 Jahren in Betrieb genommenen und nach seinem dramatischen Niedergang jüngst zum Denkmal der Industriekultur avancierten Duisburger Innenhafen. Auch wenn die Transformation des 89 Hektaren grossen Areals noch lange nicht abgeschlossen ist, nimmt man hier nun das offizielle IBA-Finale als Anlass zur Präsentation einer informativen Dokumentation der bisherigen Wandlungen. Anhand von Photographien und Plänen wird in den ehemaligen Petershallen am Philosophenweg vis-à- vis der von Herzog & de Meuron zum Museum Grothe umgestalteten Küppersmühle die Geschichte dieses Ortes nachgezeichnet, der sich in kürzester Zeit vom «verbotenen» Gebiet zum spannendsten Quartier der sonst eher etwas bieder anmutenden Stadt Duisburg gemausert hat.

Die Ausstellung holt weit aus: Malerische Rheinkähne und rauchende Hochkamine beschwören die grosse Zeit, als der 1600 Meter lange Innenhafen zwischen der 1909 entstandenen Küppersmühle und dem 1913 vollendeten «Kontorhaus» noch der Brotsack des Ruhrgebiets war. Nicht verschwiegen wird der dramatische Niedergang: Nach der Schliessung der letzten Mühlen in den siebziger Jahren vermoderten die Industriedenkmäler zusehends. Doch kurz vor deren endgültiger Zerstörung setzte ein Umdenken ein, das durch die 1989 eröffnete IBA Emscher Park noch gefördert wurde.

Einen 1991 ausgeschriebenen Wettbewerb für die Umgestaltung des Innenhafenareals konnte der zum eigentlichen Allesmacher im Ruhrgebiet aufgestiegene Norman Foster für sich entscheiden. Der dadurch ausgelöste Strukturwandel wird mit euphorisch stimmenden Bildern dokumentiert. Die alten Kolosse wurden in Büro- und Kulturbauten, der östliche Innenhafen in ein seeartiges Gewässer umgewandelt und neue Wohnzonen durch Grachten erschlossen. Insgesamt 500 Wohnungen und der von Dani Karavan gestaltete «Altstadtpark» sollen auf dem von weniger wertvollen Lagerhallen bis auf einige denkmalhafte Rudimente befreiten Land entstehen. Die im vergangenen Jahr fertiggestellten Wohnbauten von Auer und Weber haben sich ebenso bewährt wie das Seniorenzentrum und das 1996 von Foster umgebaute Hafenforum. Weitere 66 Eigentumswohnungen von Ingenhoven, Overdiek & Kahlen, 32 Sozialwohnungen von Steidle & Schmitz sowie 68 Mietwohnungen von Foster sind im Bau. Dieser soll auch das bumerangförmige Geschäftshaus Eurogate am Nordufer des Innenhafens erbauen, eine strahlende Lichtvision, der in der Schau ein eigener Bereich vorbehalten ist.

Die architektonischen Höhepunkte des Quartiers und wohl des ganzen Ruhrgebiets aber sind das urbanistisch präzis zwischen Stadt und Altstadtpark gesetzte Jüdische Gemeindezentrum von Zvi Hecker, ein expressiver Baukomplex von hohem künstlerischem Interesse (NZZ 26. 6. 99), und die Küppersmühle. In dieser kann sich die mit deutscher Kunst von Baselitz bis Trockel aufwartende Sammlung Grothe dank dem ebenso überzeugenden wie zurückhaltenden Umbau von Herzog & de Meuron hervorragend in Szene setzen. Nach Süden behält das gigantische Gebäude wegen der diaphanen Wandstruktur sein altes Aussehen, nach Norden hin wurden die Fenster aber zugemauert, doch bringen schmale Fensterschlitze Licht in die doppelgeschossigen Ausstellungssäle. Die Forderung von Künstlerseite nach neutralen Räumen ist hier optimal erfüllt. Einzig in dem sich über einem trapezoiden Grundriss erhebenden neuen Treppenhaus aus rot gefärbtem Beton erlaubten sich die Basler spektakuläre Raumeffekte und fanden so zu einer höchst ungewohnten Formensprache.


[ Die Küppersmühle ist täglich ausser montags am Nachmittag geöffnet. Die Photoausstellung in den ehemaligen Petershallen ist bis zum 1. August ebenfalls täglich ausser montags von 14 bis 20 Uhr geöffnet. Der Katalog kostet DM 12.-. ]

29. Juni 1999 Neue Zürcher Zeitung

Schlossruinen und Stadtpaläste

Der Klassizist Heinrich Christoph Jussow in Kassel

Man kennt ihn von der Documenta: den diskreten Charme der fünfziger Jahre von Kassels Innenstadt. Auch wenn sich die «Treppenstrasse» und das AOK-Gebäude am Friedrichsplatz sehen lassen dürfen, so erinnert doch nur wenig an die vergangene Pracht der nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs schnell wiederaufgebauten Stadt: Hier herrschten einst ebenso kunstsinnige wie architekturbegeisterte Landgrafen. Sie liessen im Barock und Klassizismus die ursprünglich von Hugenotten bewohnte Oberneustadt bauen, die zusammen mit dem Schlosspark Wilhelmshöhe den Ruhm Kassels als eine der schönsten Städte weit und breit begründete. Doch was davon im Krieg nicht unterging, wurde in den Wirtschaftswunderjahren mutwillig vernichtet. Als prominentes Beispiel darf die Unterneustädter Kirche des Kasseler Meisterarchitekten Heinrich Christoph Jussow (1754-1825) gelten: einer der ersten klassizistischen Sakralbauten in Deutschland.


Zwischen Revolution und Romantik

Diesem grossen Unbekannten des deutschen Klassizismus widmet nun das Museum Fridericianum in Kassel eine prachtvolle Ausstellung. Sie gewährt erstmals einen gültigen Überblick über Jussows Schaffen und führt zu neuen Erkenntnissen bezüglich der Genese von Schloss und Bergpark Wilhelmshöhe. Die von Christiane Lukatis konzipierte Schau kann sich auf bisher unpubliziertes und kaum je präsentiertes Material aus der Graphischen Sammlung der Staatlichen Museen Kassel stützen, deren architektonische Abteilung bis auf Landgraf Moritz zurückgeht. Obwohl dieser schon vor 400 Jahren begonnen hatte, eine «Bibliothecam architectonicam» aufzubauen, und auch seine Nachfolger reiches Material zusammentrugen, kam der Nachlass Jussow erst 1957 aus Privatbesitz dazu. Erste Bemühungen um dessen wissenschaftliche Bearbeitung verliefen im Sand. Doch seit Hans-Christoph Dittscheids Dissertation über Schloss Wilhelmshöhe regte sich neues Interesse, das nun zur Präsentation des «ganzen Jussow» führte: in Form eines die Ausstellung begleitenden Katalogs und einer CD- ROM, die rund 1000 Blätter zugänglich macht.

Die Argumentation der Ausstellung basiert ganz auf dem zeichnerischen Werk. Dieses wird in chronologisch-thematischer Form gezeigt und mit Blättern von Simon Louis Du Ry, Charles de Wailly, Peter Joseph Krake, Friedrich Weinbrenner und Leo von Klenze stilkritisch verglichen. Dabei kann sich Jussow als genialer Zeichner behaupten, der sich seinen Projekten in ungezählten Varianten annäherte. In dieser tastenden Arbeitsweise spiegelt sich einerseits eine frühmoderne Recherche, anderseits die Sprunghaftigkeit seines wichtigsten Auftraggebers, des Landgrafen Wilhelm IX. von Hessen-Kassel. Bereits Wilhelms Vater, Landgraf Friedrich II., hatte Jussows architektonische Begabung entdeckt und ihn - mit einem Reisestipendium versehen - nach Paris zu de Wailly geschickt, der gerade an einem Entwurf für Schloss Weissenstein (die heutige Wilhelmshöhe) arbeitete. Schnell eignete sich Jussow den raffinierten Zeichenstil de Waillys und das Formenvokabular der Revolutionsarchitektur eines Claude-Nicolas Ledoux an, dessen 1775 vorgelegten Entwurf zur Umgestaltung des Fridericianum er wohl schon aus Kassel kannte.

Im ersten, mit Antonio Chichis kostbaren Korkmodellen nach antiken Bauten stimmungsvoll arrangierten Ausstellungsraum sind Jussows Pariser Studien und Kopien neben Zeichnungen ausgestellt, die der Zeitgenosse Goethes 1785/86 auf seiner italienischen Reise angefertigt hatte. Nahm er in Rom die Baukunst des Altertums vorab mit den Augen Piranesis wahr, so berauschte er sich im Veneto an Palladio. Noch unter dem Eindruck von Antike und Renaissance bereiste er danach im Auftrag Wilhelms IX. England, um sich mit den damaligen Strömungen der Gartenkunst und mit der neugotischen Mode vertraut zu machen. Vom Zusammenklang all dieser Einflüsse profitierten seine Arbeiten am Bergpark Wilhelmshöhe, an dem er seit 1788 mit viel Erfolg arbeitete. Bald konnte er denn auch seinen Mentor und Vorgesetzten Du Ry ausstechen, und zwar mit einem revolutionär überhöhten klassizistischen Entwurf für das Corps du logis, den zentralen Palast des Schlosses Wilhelmshöhe.


Erhaltene und verlorene Meisterwerke

Über mehrere Säle verteilen sich die Entwürfe für die Wilhelmshöhe, Jussows eigentliches Hauptwerk. Unter seiner Ägide wurde der weitläufige, in strenger Axialität bis hinauf zum «Herkules» ansteigende Barockpark mit alpinen Wasserfällen, antiken Tempeln, römischen Aquädukten und mittelalterlichen Ruinen zu einem von raffinierten Wasserspielen belebten Landschaftsgarten, ja zu einem «Theme Park» avant la lettre ausgebaut. Hier konnte sich Jussow - angestachelt von William Chambers und Lancelot Brown - als Meister zwischen Revolution und Romantik beweisen, der alle Register des Schönen und Sublimen, des Intimen und Pathetischen beherrschte. Noch heute fasziniert diese Anlage, auch wenn die im Krieg schwer beschädigte Löwenburg, einer der frühsten neugotischen Bauten auf dem Kontinent, gegenwärtig zu Tode restauriert und Schloss Wilhelmshöhe, das bei den Bombardements seine Kuppel verlor, von Stephan Braunfels ohne dieses entscheidende Bauelement zu einem zeitgemässen Museum umgebaut wird.

Dabei wäre hier für einmal eine Rekonstruktion durchaus am Platz gewesen. Dies um so mehr, als fast alle anderen Bauten Jussows in Kassel verlorengingen, gar nie oder nur in redimensionierter Form realisiert wurden. So konnte Jussow die Unterneustädter Kirche, für die er eine der ersten dorischen Tempelfassaden des deutschen Klassizismus entworfen hatte, nur verkleinert bauen und von der Platzgestaltung am Wilhelmshöher Tor einzig das Fürstenhaus, ein Eckgebäude sowie die - noch erhaltenen - Wachthäuser verwirklichen. Und während das gigantische Schloss Chattenburg, das sich in der Ausstellung monumental aufspielen darf, nicht über die Fundamente hinaus gedieh, blieb das ganz vom Geist der Revolutionsarchitektur durchdrungene Zollgebäude an der Fulda wie so viele andere Entwürfe Papier. Unter diesen ist vorab das um 1800 für Braunschweig projektierte Palais Veltheim zu nennen, dessen wunderbare Blätter einen Höhepunkt der Schau und zugleich die streng klassische Antithese zur romantisch verspielten Löwenburg darstellen. (Bis 18. Juli)


[ Heinrich Christoph Jussow. 1754-1825. Ein hessischer Architekt des Klassizismus. Ausstellungskatalog mit CD-ROM. Hrsg. Hans Ottomeyer und Christiane Lukatis. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1999. 280 S., DM 50.- (in der Ausstellung). ]

26. Juni 1999 Neue Zürcher Zeitung

Expressive Bauplastik

Zvi Heckers Jüdisches Gemeindezentrum in Duisburg

Jüdisches Leben blüht wieder auf in Deutschland: Dank der Einwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion wachsen die Gemeinden, und die Kultur gedeiht. Davon kündet nicht zuletzt die Baukunst, als deren Flaggschiff Daniel Libeskinds Jüdisches Museum in Berlin gilt. Neue Standards setzen aber auch zwei Sakralbauten. So soll auf den Ruinen der legendären Semper-Synagoge in Dresden nach den Plänen von Wandel, Hoefer, Lorch und Hirsch ein Gemeindezentrum mit Synagoge in Form von zwei Kuben entstehen, die einen baumbestandenen Hof fassen. Weiter ist man schon in Duisburg, wo Ende Mai auf dem städtebaulichen Entwicklungsgebiet am Innenhafen die Synagoge von Zvi Hecker feierlich geweiht werden konnte. Dieses architektonische Juwel bildet das Herzstück des neuen Jüdischen Gemeindezentrums der Städte Duisburg, Mülheim und Oberhausen im westlichen Ruhrgebiet. Heckers Projekt, vor drei Jahren siegreich aus einem internationalen Wettbewerb hervorgegangen, konnte in kürzester Zeit realisiert werden - zum einen weil es vom Schwung der Internationalen Bauausstellung «IBA Emscher Park» profitierte, zum andern weil der in wenigen Jahren von 100 auf 2000 Mitglieder angewachsenen jüdischen Einheitsgemeinde der drei Grossstädte das einstige Wohnhaus des Rabbiners in Mülheim als Synagoge längst nicht mehr genügte.

Die Vorstellung, dass Duisburg mit dem Neubau nach sechzig Jahren wieder eine Synagoge erhalten sollte, schlug sich im Projekt des in Berlin und Tel Aviv tätigen Architekten nieder, der seit dem Bau der Galinski-Schule am Rand des Grunewalds als Autorität in Deutschland gilt. Hecker bezog die Achsen seines Entwurfs gleichermassen auf historische und topographische Fixpunkte der Stadt: auf die 1938 in der «Reichskristallnacht» geschändete Synagoge an der Junkernstrasse, auf das im Krieg zerbombte mittelalterliche Zentrum, auf den Innenhafen und den Rhein. Mit viel Sinn für den Kontext leitete er die Anlage aus der verschachtelten Häuserzeile am Springwall her und steigerte sie gegen die von Dani Karavan parkartig umgestaltete Hafenlandschaft hin ganz allmählich zur expressiven Bauplastik. Diese nimmt über ihre monumentalen Betonarme den Dialog auf mit den gigantischen Mühlengebäuden am Innenhafen, die im Rahmen der IBA Emscher Park restauriert und neuen Aufgaben und Inhalten zugeführt werden.

Die im Grundriss an eine Hand erinnernde Anlage - «jad», das hebräische Wort für Hand, hat auch die Bedeutung eines Zeichens - gleicht mit ihren fünf ausgreifenden Betonteilen vom Park her gesehen einem aufgeschlagenen Buch. Symbolhaft verweist sie so auf ihren wichtigsten Inhalt: die Synagoge mit dem Schrein, in dem die Thora aufbewahrt wird. Der Handfläche im Plan entspricht der Eingangshof, zu dem man unter einem auskragenden, das Formenvokabular der Nachbarbauten zitierenden Schwebetrakt gelangt. Von diesem in sich gekehrten Ort, an dem man sich an den hohen Feiertagen unter dem neu gepflanzten Baum versammelt und wo an Sukkot die Laubhütte errichtet wird, gelangt man in das zum Grünen hin verglaste Foyer, das bald als Verlängerung des Aussenraums, bald als Erweiterung der Synagoge gelesen werden kann. Über Treppen, Brücken und Gänge verbindet diese Halle als Mittelpunkt der Promenade architecturale die einzelnen Funktionsbereiche miteinander und klärt damit die komplexe Raumanordnung.

Den grossen Betonelementen kommt aber nicht nur eine gliedernde und eine zeichenhafte Aufgabe zu. Sie halten das mit seinen weissen, schwarzen und grauen Baufiguren aus Beton, Glas und Stahl ganz ähnlich wie die Galinski- Schule als eine Art Dorf konzipierte Gebäude zusammen. Doch anders als der spiralförmig-dynamisch inszenierten Schule gibt Hecker dem Duisburger Gemeindezentrum eine geometrische Ordnung, die - fast wie in seinem strukturalistisch beeinflussten Frühwerk - die unterschiedlichen Teilbereiche (Synagoge, Schule, Verwaltungsräume, Mehrzwecksaal, Küche und Rabbinerwohnung) klar gliedert.

Das wie eine gebaute Landschaft respektvoll in den alten Baumbestand eingefügte Gemeindezentrum besitzt seiner plastischen Gestalt entsprechend keine eigentliche Hauptfassade. Dafür überrascht es mit wechselnden Durch- und Einblicken. Hier kann man nicht nur ungehindert ins Foyer und in den Mehrzwecksaal, sondern durch ein vitrinenartiges Fenster sogar ins Innere der Synagoge schauen: Sieht man von der Frauenempore ab, so erinnert vieles eher an ein christliches denn an ein jüdische Gotteshaus: etwa die segmentförmig angeordneten Bänke oder die Kombination von Thoraschrein und Bima auf einem Podest. Die Auskleidung einzelner Partien mit Jerusalemer Stein thematisiert jedoch die alte Sehnsucht der Juden in der Diaspora; und das Oberlicht erlaubt dem Psalm gemäss ein Flehen aus der Tiefe. Dass dieses von einer hervorragenden Akustik getragen wird, erlebt man spätestens dann, wenn der als Kantor und Kenner synagogaler Musik bekannte Duisburger Rabbiner Sandor Polnauer Proben seines Könnens gibt.

Dem Künstlerarchitekten Hecker, der bereits vor 30 Jahren im Sinai eine Synagoge baute, ist in Duisburg ein weiterer bedeutender Beitrag zur jüdischen Sakralarchitektur gelungen, aber auch ein Gebäude, in dem Kunst, Architektur und Natur ausdrucksstark zusammenklingen. Damit erhält das um ein zukunftsorientiertes Image bemühte Duisburg erstmals seit dem Wilhelm- Lehmbruck-Museum im Kant-Park eine Architektur von Rang, die zusammen mit der jüngst von Herzog & de Meuron für die Sammlung Grothe umgebauten Küppersmühle von kultureller Aufbruchstimmung am Zusammenfluss von Rhein und Ruhr kündet.

26. Juni 1999 Neue Zürcher Zeitung

Ein Museum von Gehry für Washington

Die altehrwürdige Corcoran Gallery of Art in Washington erhält einen Erweiterungsbau. Nach einem langjährigen Auswahlverfahren, zu dem insgesamt 200 Architekten zugelassen waren, konnte Frank O. Gehry, der 70jährige Baukünstler aus Los Angeles, die Endrunde für sich entscheiden. Nach Gehrys Vorstellungen soll ein für sein Schaffen typisches Formengewühl den klassischen Altbau überwuchern und so eine dynamische Strassenfassade sowie mit Tages- und Kunstlicht unterschiedlich erhellte Ausstellungsräume entstehen lassen.

14. Juni 1999 Neue Zürcher Zeitung

Vom Aschenbrödel zum Weltstar

Zeitgenössische Kunst und Architektur in Porto

Seit Jahrhunderten lebt Porto im Schatten Lissabons: Doch in den letzten fünfzehn Jahren hat sich die Hafenstadt am Douro nicht nur als wirtschaftliches Zentrum Nordportugals einen Namen gemacht. Rund um den Ende 1996 von der Unesco zum Weltkulturerbe ernannten mittelalterlichen Stadtkörper, der zurzeit durch einige gezielt eingepflanzte Neubauten wiederbelebt wird, erblühte eine dem Regionalismus verpflichtete Architektur. Ihr neustes Renommierstück ist das von Alvaro Siza errichtete Museum für zeitgenössische Kunst im Park der Villa Serralves.

Als sich nach dem Chiado-Brand im August 1988 die Stadtväter Lissabons Gedanken zum Wiederaufbau des historisch bedeutenden Scharniers zwischen der unter Pombal nach dem Erdbeben von 1755 angelegten Baixa und dem höher gelegenen Bairro Alto machten, wandten sie sich nicht an die lokale Architektenschaft: Sie suchten vielmehr Hilfe bei Alvaro Siza, dem mit allen grossen Architekturpreisen geehrten Meister aus Porto, der international als eine moralische Instanz der Baukunst gilt. Schon wenig später konnte Siza ein Projekt vorlegen, das 1990 bewilligt wurde und gegenwärtig realisiert wird. Spätestens damit musste die selbstverliebte Metropole am Tejo zur Kenntnis nehmen, dass sie zumindest in Sachen Architektur längst von der «Provinz» überholt worden war. Nun erhält die Hauptstadt auf einem weiteren Gebiet der Gegenwartskultur Konkurrenz: Es handelt sich dabei um Sizas Museum für zeitgenössische Kunst im Parque Serralves, das auch einen neuen Höhepunkt der Architektur in Porto darstellt.


Porto als Architekturhochburg

Dabei macht Porto auf den ersten Blick keinen besonders zukunftsorientierten Eindruck. Die vor gut zwei Jahren zum Weltkulturerbe ernannte Altstadt mit ihren bizarren Kirchtürmen und den pittoresk zum Douro abfallenden Häuserkaskaden zeugt vielmehr von der verwelkten Pracht der einstigen Seefahrerstadt. Rund um die zentral gelegene Praça da Liberdade spürt man allerdings das Selbstbewusstsein des durch Textilindustrie und Portweinexport wohlhabend gewordenen Bürgertums, das sich mit Bauten aus dem frühen 20. Jahrhundert, dem Art déco und der klassischen Moderne ein Denkmal setzte: Noch original erhalten ist der revolutionärste Bau der portugiesischen Moderne: das 1928-32 von Rogério de Azevedo für die Zeitung «O Comércio do Porto» errichtete Garagen- und Bürogebäude. Bereits in restauriertem Glanz erstrahlen die zeitgleich von Julio de Brito in Art-déco-Formen konzipierte Fassade des Rivoli-Theaters und das durch den kriegsbedingten Wirtschaftsboom ermöglichte, mit seinen Bullaugen, der Kommandobrücke und dem Fahnenmast auf nautische Vorbilder verweisende Coliseu von Cassiano Branco.

Eine sorgsame Auffrischung möchte man auch dem Cine da Batalha wünschen. Das 1947 von Artur de Andrade vollendete Gebäude mit der eigenwillig gekurvten Glasfassade ist nicht nur ein frühes Beispiel der heute in Porto gepflegten kontextualistischen Architektur. In ihm kulminierte damals auch der Streit zwischen den Modernisten aus dem Norden und den staatstreuen Traditionalisten aus Lissabon. Schon als dort der italienisch inspirierte Monumentalstil zur nationalen Formensprache erhoben wurde, hatten sich Branco und Carlos Ramos nach Porto zurückgezogen. Ramos wurde als Verfechter eines kritischen Regionalismus zum Begründer der «Schule von Porto». Diese führte im Grunde nur weiter, was Baukünstler wie Azevedo bereits erfolgreich versucht hatten: die Überprüfung internationaler Positionen und deren Übersetzung in ein lokales Idiom. Der wirtschaftliche Niedergang nach dem Zweiten Weltkrieg hatte zur Folge, dass nur vereinzelt so bedeutende Grossbauten wie das Anfang der fünfziger Jahre von Arménio Losa und Cassiano Barbosa errichtete Soares-Irmão-Bürohaus realisiert werden konnten. Allerdings entstanden damals auch die heute in Architektenkreisen als Kultobjekte verehrten frühen Arbeiten von Fernando Távora und Siza, allen voran das in die Klippen von Boa Nova gesetzte Teehaus in der Vorstadt Matosinhos.


Neues Leben blüht aus den Ruinen

Parallel zur wachsenden Bedeutung der Architekturszene von Porto ging der bauliche Niedergang der historischen Stadt. Schon in den fünfziger Jahren liebäugelte die Stadtverwaltung mit radikalen Sanierungsplänen, die nach der Nelkenrevolution von 1974 in den basisdemokratischen SAAL-Wohnbauprojekten nachklangen. Damals wurden baufällige Quartiere niedergewalzt und im besten Fall durch architektonisch interessante, urbanistisch aber nicht unproblematische Reihenhaussiedlungen ersetzt, mitunter jedoch bis heute als Parkplätze belassen. Die Rückbesinnung auf die städtebaulichen Qualitäten der eng verwinkelten Altstadt fand erst in den achtziger Jahren statt. Völlig verlotterte Häuserzeilen am Cais de Ribeira genannten Douro-Ufer wurden daraufhin im traditionellen Stil rekonstruiert. 1993 konnte dank EU-Hilfe ein vom Kommissariat für Stadterneuerung begleitetes und mit rund 700 Millionen Franken dotiertes Renovationsprojekt in Angriff genommen werden.

Inzwischen sind unterhalb der hoch gelegenen Kathedrale auch ganz zeitgenössisch anmutende Häuser entstanden, die allerdings die bestehende Typologie streng respektieren. Als historisches Vorbild konnte dabei ein Meisterwerk der frühen kontextuellen Moderne dienen: das Anfang der dreissiger Jahre von Francisco Keil do Amaral nahe der barocken Clérigos-Kirche als Neuinterpretation des schmalen herkömmlichen Stadthauses in eine Bauzeile eingepasste Instituto Pasteur. Bereits Ende der achtziger Jahre hatte Paula Araújo da Silva rund um einen von ihr rehabilitierten Waschbrunnen Ruinen durch diskrete Neubauten ersetzt. Mittlerweile wagt man sogar noch mehr: So ist jüngst am Largo do Colegio bei der spätmanieristischen Grilos-Kirche ein minimalistisch angehauchtes Café derart sensibel in den Fels gebaut worden, dass drinnen aus den feuchten Mauern weiterhin Pflanzen spriessen. Einige enge Strässchen tiefer hat man - ähnlich wie in Barcelona - einen Platz ganz neu geschaffen und mit drei stelenartigen Leuchten möbliert. Hier scheint sich das Weltkulturerbe in eine raffinierte Kulisse für Modeaufnahmen zu wandeln. Um das Wohnen an den steilen Treppengassen den autoverrückten Portugiesen schmackhafter zu machen, werden neuerdings sogar Tiefgaragen angelegt, in die man beispielsweise durch das Erdgeschoss alter Geschäftshäuser gelangt. Auch wenn das neue Einkaufszentrum Santa Catarina an der gleichnamigen Flaniermeile Porto als Disneyland zitiert, will man eine Musealisierung der Altstadt vermeiden, indem man sie mit präzisen architektonischen Eingriffen dem heutigen Leben dienstbar zu machen sucht.


Meisterarchitekten

Zwar ist jüngst hoch über dem Largo de Miragaia mit seiner Barockkirche, dem kleinen Stadtpalast und den dahinter schamhaft sich verbergenden Wellblechhütten eine von Siza beeinflusste Schulanlage entstanden. Dennoch fehlt in der Altstadt bis jetzt eine Intervention von internationalem Format. Neubauten der Spitzenklasse findet man bis heute erst in den Aussenquartieren: etwa die von Siza wie eine mediterrane Stadt hoch über dem Douro angelegte Architekturfakultät, deren prächtige Fernwirkung aber bald schon durch den Bau spekulativer Wohnungen am Steilhang beeinträchtigt werden dürfte. Vor solch baulichen Immissionen geschützt ist dagegen der Carlos-Ramos-Pavillon, den Siza vor über zehn Jahren für die Architekturschule im kleinen Park der benachbarten Quinta do Póvoa errichtet hat. Ein vergleichbares Meisterwerk ist das Kulturzentrum, das Souto de Moura mit viel Gespür so in den kostbaren Garten einer Villa der Jahrhundertwende integrierte, dass von ihm kaum mehr als ein Vorsprung der Umfassungsmauer sichtbar ist. Wenn dieser die Strenge von Mies mit der granitenen Tradition des Nordens vereinigende Pavillon auch einem anderen Idiom verpflichtet ist, so darf er doch als Vorstufe zum Museu de Arte Contemporânea, dem seit Jahrzehnten ersten grossen Kulturbau der Stadt, gelten.


Ein eindrücklicher Musentempel von Alvaro Siza

Das von der Fundação Serralves, einer von Stadt und Privatwirtschaft getragenen Stiftung, verwaltete und mit staatlichen Geldern betriebene Museum für zeitgenössische Kunst, die erste Institution dieser Art in Portugal, wurde 1989 eröffnet, und zwar in der herrschaftlichen Villa Serralves. Sie zählt zusammen mit der unten am Douro langsam verrottenden Fischhalle von Januário Godinho zu den Höhepunkten des lusitanischen Art déco. In Auftrag gegeben wurde das perfekt erhaltene Gesamtkunstwerk in den dreissiger Jahren vom Grafen von Vizela. Dieser betraute zunächst den Pariser Architekten Charles Siclis mit dem Umbau des Anwesens. Vollendet wurde die von Ruhlmann und Brandt luxuriös ausgestattete Villa aber von José Marques da Silva, von dem in Porto der alte Hauptbahnhof und das São-João-Theater stammen. Grossartiger noch als das pinkfarbene Gebäude aber ist der vom Pariser Landschaftsarchitekten Jacques Gréber konzipierte, bald streng formale, bald waldartige, von maurisch anmutenden Wasserspielen und schattigen Teichen belebte Park, der zu den bedeutendsten Schöpfungen der Epoche überhaupt zählt. Da sich jedoch in diesem einzigartigen Rahmen Kunst der letzten dreissig Jahre nur bedingt präsentieren lässt - die zum Teil intimen Räume der Villa eignen sich kaum für sperrige Arbeiten, und der formale Garten duldet keine künstlerischen Eingriffe -, regte sich bald der Wunsch nach einem eigenen Museumsbau.


Von der Art-déco-Villa zum Museum

Doch wie sollte ein Neubau in die kostbare Art-déco-Anlage integriert werden? Mit dieser Frage wandte sich die Fundação 1991 an Alvaro Siza. Der schlug den von der Avenida Gomes da Costa aus zugänglichen, etwas versteckt am Rand des Parks gelegenen Küchengarten und den daran anschliessenden Orangenhain als Bauplatz vor - im vollen Bewusstsein, dass damit zwar ein nicht unbedeutender Teil der 18 Hektar grossen Parkanlage, aber wenigstens keine alten Bäume angetastet wurden. Wie immer ging Siza auch bei diesem Projekt von der Stimmung und den sichtbaren und unsichtbaren Kraftlinien des Ortes aus. Entlang einer vom alten Wegsystem vorgegebenen Nord-Süd-Achse gruppierte er ein zwar noch nicht ganz vollendetes, aber bereits mit funktionierendem Bühnenturm ausgestattetes Auditorium für 270 Personen und einen U-förmigen Museumstrakt, der neben Tiefgarage, Depots, Werkstätten und Büros eine Bibliothek und ein Café sowie Ausstellungsflächen von 4500 m² in rund 20 Hallen, Kojen und Korridoren aufweist.

Auf den ersten Blick erscheint das weiss verputzte, nur von wenigen Fenstern durchbrochene kubische Konglomerat abstrakt. Erst bei genauerem Hinschauen erkennt man, dass dieser gleichermassen sinnliche wie asketische Bau mit Elementen der Moderne und des regionalistischen Erbes spielt. Hier war ein Architekt am Werk, der - wie nicht zuletzt das Zufällige der Winkel und Volumen, der Öffnungen und Terrassen zeigt - ganz seiner Intuition vertraut. Der gut 50 Millionen Franken teure Kulturkomplex, den Siza als «plastischen Widerhall» des Parks versteht, wahrt dank Brechungen und Drehungen ein menschliches Mass und wirkt daher von aussen nie monumental. Die architektonische Auseinandersetzung mit Licht, Natur und Topographie im Sinne Alvar Aaltos führte schliesslich dazu, dass der Bau - typisch für Siza - mehrere Gesichter besitzt. Einzig das blendende Weiss und die dunklen Fenstereinschnitte sind dem ganzen Gebäude eigen. Sonst aber erinnert es bald an kubistische, bald an klassisch moderne Architekturen, während das Auditorium mit seinem leicht geschwungenen Dach heutigen Fabrikhallen gleicht. Das Ganze hat Siza mit einer Prise postmodernem Kitsch gewürzt: einer sich vom Garten zum Auditorium hinüberschwingenden Brücke, die mit ihrer Granitverkleidung den Bezug herstellen will zu Portos historischer Architektur.

Siza erweist aber auch der Art-déco-Villa seine Reverenz. Nähert man sich von Süden durch den Kastanien- und Eukalyptuswald dem Museum, so erscheint es - über einer barockisierenden Treppe sich erhebend - mit seinen puristischen Flügelbauten und den im Licht spielenden Kuben wie eine zeitgenössische Neuinterpretation der Villa. Der Geist der doppelstöckigen, Le Corbusiers Maison Schwob verwandten Halle des Serralves- Hauses wiederum lebt im grossen Eingangsfoyer des Museums weiter. Von hier aus entwickelt sich das Raumgefüge - im Widerspruch zur klassischen Promenade architecturale - geradezu labyrinthartig. Man ist deshalb geneigt, ähnlich wie bei Sizas Museum für zeitgenössische Kunst in Santiago de Compostela, dessen museographische Errungenschaften in Porto noch verbessert wurden, von einer wunderbaren Raumvermehrung zu sprechen. Obwohl Siza mit seinen klar definierten, bald natürlich, bald künstlich erhellten, aber niemals neutralen Ausstellungsräumen ein Gegenstück zu den von Kuratoren geliebten Fabrikhallen geschaffen hat, überzeugen sie durch ihre Flexibilität. Einzig die etwas allzu plastische Durchformung der Decken mit den Oberlichtverkleidungen in Form umgekehrter Tische und die betörenden Ausblicke treten mit den Exponaten bisweilen in Konkurrenz. Dafür macht sich niemals Schwere breit; und man kann sich im komplexen Raumgefüge stets zurechtfinden.


Sammlungsräume - Sammlungsträume

Die vielfältige Verwendbarkeit dieses Musentempels veranschaulicht die von einem Star der iberischen Kunstszene, dem 41jährigen Direktor des Hauses, Vincente Todolí, organisierte Eröffnungsausstellung mit dem programmatischen Titel «Circa 1968» aufs schönste. Mit ihren nahezu 500 Exponaten - Malerei, Skulptur, Environment, Installation, Video und Film - von über 100 Künstlern markiert die Schau zudem den Anspruch dieses Hauses, das nicht nur im Sinne einer Kunsthalle ganz auf die Gegenwart bezogene Statements präsentieren, sondern durchaus auch historische Prämissen zur Diskussion stellen will. Die Schau verbindet auf eigenwillige Weise Positionen der Pop- und der Land-art (nicht aber der Minimal art), der Arte Povera oder des Düsseldorfer Kreises rund um Beuys mit portugiesischen, spanischen und iberoamerikanischen Ansätzen. Knapp zur Hälfte aus eigenen Beständen alimentiert und um käufliche Leihgaben von Künstlern und Galeristen ergänzt, soll sie den angestrebten Idealzustand des frühsten Segments der Sammlung skizzieren. Dass darin Highlights eher selten sind, wird wettgemacht durch eine Haltung, die - ganz im Sinne der «Schule von Porto» - die internationalen Strömungen von einer lokalen Warte aus befragt.

Anschliessend an die noch bis zum 29. August dauernde Eröffnungsschau, die gegenüber der Architektur des Neubaus und der alten Villa einen schweren Stand hat, sind ausser Präsentationen zeitgenössischer portugiesischer und internationaler Künstler eine multimediale Schau rund um den Choreographen Merce Cunningham und eine den Photographien und dem Bühnendesign von El Lissitzky gewidmete Ausstellung zu sehen (16. September bis 7. November). Danach sollen jährlich zwölf Ausstellungen gezeigt werden, acht davon mit internationalem Anspruch. Zu hoffen ist, dass das vom Museu Serralves seit nunmehr zehn Jahren an den Tag gelegte Engagement auch im neuen Haus weitergeführt werden kann, damit es nicht wie das Museum in Santiago auf Grund provinzieller Querelen zur Bedeutungslosigkeit absteigt. Doch gegenwärtig ist die Stadt am Douro mit der Kombination von Weltarchitektur und zeitgenössischer Kunst auf dem besten Weg dazu, sich von einem Aschenbrödel in einen Weltstar zu verwandeln, ohne dabei auf Showeffekte setzen zu müssen wie etwa Bilbao mit Gehrys Guggenheim-Museum.

1. Juni 1999 NZZ-Folio

Eine tätowierte Kiste in Eberswalde

Schmucklos Graue Häuser säumen die Einfallstrasse nach Eberswalde. Ihren kubischen Formen eignet jene Poesie des Ärmlichen, wie man sie von den Architekturbildern des deutschen Fotokünstlers Thomas Ruff kennt. Diese Bauten bereiten auf eine minimalistische Betonkiste mit bedruckter Hülle vor, deren karges Aussehen seit Wochen die Gemüter erhitzt. Bei dem umstrittenen Neubau in der nordöstlich von Berlin gelegenen Stadt handelt es sich um die von den Basler Architekten Herzog & de Meuron errichtete Bibliothek der Fachhochschule Eberswalde.

Die campusartige Anlage der ursprünglich auf Forstwirtschaft spezialisierten und nun um die Abteilungen Betriebswirtschaft und Landschaftsgestaltung erweiterten Schule liegt in der von kriegsbedingten Baulücken und pseudo-postmodernen Spekulationsbauten geprägten Innenstadt. In dieser Umgebung würde man kaum interessante zeitgenössische Architektur erwarten, und dennoch konnten Herzog & de Meuron hier dank einem Direktauftrag des Kulturministeriums von Brandenburg zwei Bauwerke der radikaleren Art realisieren: Mit dem Klinkerbau der Betriebswirtschaftsschule betonten sie die Ecke gegenüber dem Park, rückten die Bibliothek wie eine Mauer an die Hauptstrasse heran und verwandelten durch diese gezielten Eingriffe das lose Bauensemble aus den letzten 150 Jahren zu einer in sich geschlossenen und doch transparenten «Stadt in der Stadt».

Überzeugt der Klinkerbau vor allem durch seine urbanistischen Qualitäten, so will die Bibliothek als der öffentlichste Bau des Campus mit ihrer Andersartigkeit die Aufmerksamkeit auf sich lenken: Zur Stadt hin ist sie ein introvertierter, nur durch horizontale Fensterschlitze und Oberlichtbänder strukturierter Kubus, der eine gewisse formale Ähnlichkeit mit den Studentenhäusern der beiden Basler in Dijon aufweist. Allerdings wird in Eberswalde die Architektur durch die Bildfassaden in den Hintergrund gerückt: Denn die von Thomas Ruff ausgewählten Fotos, die - in einer Art Siebdruckverfahren auf Glas- und Betonplatten übertragen - den Baukörper in seriellen Bahnen umziehen, entmaterialisieren das Gebäude fast.

Anders als bei den heute modischen medialen Oberflächen geht es bei dieser «Tätowierung», die ihre Vorstufen in der Aussengestaltung des Ricola-Lagerhauses in Mülhausen hat, nicht nur um eine Attitüde. Vielmehr wollten Herzog & de Meuron das seit Adolf Loos' Pamphlet «Ornament und Verbrechen» geltende Dekorationsverbot der Moderne «entkriminalisieren», indem sie das Sgraffito mit Hilfe einer neuen Technik wiederbelebten. Dadurch fanden sie - wohl unbeabsichtigt - eine geniale zeitgenössische Antwort auf den Fürstenzug am Langen Gang des Dresdner Schlosses.

Auf der strassenabgewandten Seite der Bibliothek sind der von einem Windfang aus bedrucktem Glas gefasste Eingang und ein ebenfalls gläserner, zum Bücherdepot und zur Verwaltung im Nachbarhaus führender Verbindungsgang. Sie deuten an, dass dieser abstrakte Körper mehr ist als eine zum Bild erstarrte Fassade.

Im Innern dann erleben selbst jene eine Überraschung, die in den Bauten von Herzog & de Meuron bisher nur Hüllen sehen wollten. Hier nämlich manifestiert sich das Interesse der Basler am architektonischen Raum in der schon bei der Sammlung Goetz in München erprobten Stapelung identischer Räume. Oberlichtbänder, die bei Sonnenschein die Fassadenbilder nach innen projizieren, tauchen die drei Etagen der Freihandbibliothek in nahezu dasselbe Licht. In diesem reinen Raumgefüge ermöglichen einzig die Kastenfenster mit ihren Ausblicken auf Stadt und Schule die Orientierung - ausser im Erdgeschoss, das durch die hier untergebrachte Buchausleihe einen eigenen Charakter erhält. Die ursprünglich geplante Innenausstattung mit Sichtbeton und Holzregalen fiel leider bibliothekarischen Vorstellungen zum Opfer. Auch ist der blaue Teppich wohl etwas gar aufdringlich.

Dennoch vermögen die Bibliotheksräume in ihrer Funktionalität und Bescheidenheit zu überzeugen. Hier spürt man nichts von jener Detailversessenheit, die die heutige Deutschschweizer Architektur sonst oft so affektiert erscheinen lässt. Für vergleichsweise bescheidene sieben Millionen Mark haben Herzog & de Meuron einen Bau geschaffen, der in seiner ästhetischen Anmutung und seinem theoretischen Ansatz durchaus mit der vor sechzig Jahren von Hannes Meyer, einem anderen Basler, im nahen Bernau errichteten Gewerkschaftsschule verglichen werden darf.

17. Mai 1999 Neue Zürcher Zeitung

Neuanfang in der Lagune

Architektonische und urbanistische Projekte für Venedig

Besucher Venedigs geniessen die Lagunenstadt in erster Linie als malerische Kulisse. Das von komplexen Umwelteinflüssen bedrohte historische Zentrum soll aber auch den Venezianern weiterhin ein lebenswertes Ambiente bieten. Deshalb müssen in den nächsten Jahren unter anderem neue Wohnungen, Kultureinrichtungen, Schulen und Grünanlagen gebaut werden.

Italien ist, zumindest was die Architektur betrifft, seit Jahren schon Provinz. Während hierzulande die Baukunst boomt, steuern unsere südlichen Nachbarn weder mit Gebäuden noch mit Theorien zum internationalen Architekturdiskurs etwas bei. Nun aber träumt mit Venedig ausgerechnet jene Stadt von der Erneuerung, deren prachtvolles Erscheinungsbild - abgesehen von dringend anstehenden Restaurierungen - kaum einer Verbesserung bedarf. Und doch, von wo sonst könnte eine architektonische Wiedergeburt Italiens ausgehen, wenn nicht von der Lagunenstadt: Befindet sich in Venedig doch die angesehenste Architekturschule des Landes; ausserdem wird hier mit der «Biennale di Architettura» seit 1980 - in unregelmässigen Abständen - die weltgrösste Architekturschau durchgeführt.


Venezia (im)possibile

Wenn nun die Perle der Adria mit der Idee eines architektonischen Laboratoriums kokettiert, so geht es ihr nicht nur um die einzigartige Altstadt, sondern um ihre Gesamtstruktur. Bis jetzt nahmen viele das «schöne» Venedig und das «hässliche» Mestre als zwei getrennte Städte zwischen Horror und Verheissung wahr. Dabei bilden Mestre mit seinem lange schon als ökologisches Notstandsgebiet bekannten Hafen Portomarghera und Venedig längst eine Einheit: wirtschaftlich, kulturell, politisch und sozial. Ohne Einbezug des Festlands ist daher eine für die Bewohner sinnvolle Entwicklung des Grossraums Venedig nicht möglich. Hat die chaotische Agglomeration auf der Terra ferma mit industriellen Altlasten zu kämpfen, so ist das täglich von Zehntausenden von Touristen heimgesuchte Zentrum in der Lagune von seiner Ausrichtung auf Tourismus, Bildung, Freizeit und Kultur her im Grunde schon heute eine Stadt des kommenden Jahrhunderts. Daneben kämpft Venedig mit komplexen Problemen: Umweltverschmutzung und Hochwasser bedrohen die Bausubstanz, und interne Migration schwächt die Bevölkerungsstruktur. Mit 65 000 Einwohnern lebt heute nur noch ein Fünftel der Venezianer in der Lagunenstadt.

Als Leonardo Benovolo vor zwei Jahren den neuen Masterplan für Venedig publizierte, löste er in Italien eine heftige Debatte aus. Besonders ärgerlich erschien den Kritikern, dass die längst Realität gewordene Agglomeration nun auch planerisch als Einheit gedacht wurde - und zwar als bipolare Stadt mit einem Zentrum auf dem Wasser und einem auf dem Festland, deren Lebensnerv die seit 1846 bestehende Brückenverbindung ist. Auf Grund dieses Planes, dessen erste Ansätze in die fünfziger Jahre zurückreichen und an dem erneut 1976, diesmal zusammen mit der Unesco, gearbeitet wurde, sollen nun die schlimmsten Übel angegangen und Zukunftsperspektiven entworfen werden. Dazu wurden jüngst grosse Wettbewerbe durchgeführt. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den beiden Brückenköpfen: So wird in Venedig selbst der alte Frachthafen in einen reinen Passagierterminal umgestaltet und mit einem dekonstruktivistisch anmutenden Abfertigungsgebäude von Ugo Camerino und Michel Macary versehen, während auf dem Festland das bis anhin von der Petrochemie geprägte Ufer von Portomarghera durch einen Technologiepark von Wilhelm Holzbauer und Paolo Piva eine neue Zukunft erhalten und mit riesigen, von Antonio Di Mambro konzipierten Grünanlagen besser auf die Freizeitbedürfnisse des ganzen Stadtkörpers zugeschnitten werden soll.

Damit ist auch schon angedeutet, dass all die ambitionierten Projekte nicht im Herzen der Lagunenstadt verwirklicht werden. Dort restauriert man allenthalben wichtige Denkmäler: vom Dogenpalast und von der Kirche San Moisè bis hin zum ehemaligen Macello, der künftig als Wirtschaftsfakultät dienen soll, dieweil der neugotische Molino Stucky auf der Giudecca mit Hilfe privater Investoren in ein Kongresszentrum mit Hotel, Läden, Wohnungen und Grünanlagen umgebaut wird. Bei der gegenwärtigen Erneuerung der Stadt geht es also nicht mehr wie einst darum, das «unhygienische» Venedig gegen die «saubere» Stadt der Moderne auszuspielen. Vielmehr soll die historische Substanz behutsam saniert, wo nötig durch neue architektonische Statements ergänzt und damit dem alten Stereotyp der «Venezia impossibile» entgegengewirkt werden. An diesem leidet die Stadt, seit die legendären Projekte von Frank Lloyd Wright für die Fondazione Masieri am Canale Grande, von Le Corbusier für das San-Giobbe-Krankenhaus, von Louis Kahn für ein Kongresshaus in den Gardini sowie - Jahre später - von Alvaro Siza für Wohnbauten auf der Giudecca gescheitert waren.


Ausstellung auf San Giorgio

Dass es aber schon damals durchaus auch Ansätze im Sinne einer «Venezia possibile» gab, zeigen der Neubau des Theaters Goldoni, das Bürohaus von Giuseppe Samonà bei San Simeone, vor allem aber das Mehrfamilienhaus an den Zattere von Ignazio Gardella oder Carlo Scarpas Umbau der Fondazione Querini Stampalia. Hier, wo das Zusammentreffen von Erinnerung und Innovation Früchte trug, könnte man mit dem Weiterbauen der Stadt fortfahren. Dies zumindest veranschaulicht die Ausstellung «Venezia - La Nuova Architettura» in der Fondazione Cini auf San Giorgio. Die Präsentation von zwanzig meist aus Wettbewerben hervorgegangenen Projekten für Infrastruktur, Bildung und Kultur, die laut Sindaco Massimo Cacciari zur Ausführung bestimmt sind, bringt Venedig in die internationale Diskussion zurück und entschädigt für die bereits zweimal verschobene 7. Architekturbiennale.

Herzstück der Veranstaltung bildet der kürzlich entschiedene Wettbewerb für den neuen Sitz des Architekturinstituts in den Hallen der ehemaligen Magazzini Frigoriferi am Canale della Giudecca, den Enric Miralles mit einer dekonstruktivistischen Stadtlandschaft für sich entscheiden konnte. Am direktesten auf die Industriebauten eingegangen aber ist Ben van Berkel mit einem abenteuerlich unterhöhlten Monolith, der die Baufigur des alten Komplexes nachempfindet. Die einheimischen Vorschläge hingegen zeigen, wie verzweifelt die jungen Italiener bei internationalen Modeströmungen anzuknüpfen suchen und dass sie noch immer keine architektonischen Denker und schon gar keine Vordenker sind.

Aber auch die anderen in Form von Modellen, Originalzeichnungen, Plänen, Photomontagen und Computersimulationen präsentierten Projekte sind spannend. Sie dürften - wenn sie dereinst auch wirklich gebaut sind - der Stadt ganz neue Impulse geben, ohne dabei ihr Weichbild zu verletzen. Der eleganteste Entwurf ist zweifellos Santiago Calatravas Brücke zwischen Bahnhof und Piazzale Roma, der harmonischste die Erweiterung der Friedhofsinsel von David Chipperfield, der exzentrischste - wie könnte es anders sein - Frank O. Gehrys Terminal für den Flughafen Marco Polo. Mit dem Kontext auseinandergesetzt hat sich vor allem Cino Zucchi auf dem ehemaligen Junghans-Areal auf der Giudecca. Ihm ist hier auch gelungen, was seit Gardella niemand mehr wagte: die Neuformulierung des venezianischen Stadthauses aus dem Geist der Gegenwart heraus. Ihm antwortet der Koreaner Dea-Jin Lee mit dem Projekt eines schlangenförmigen Wohnbaus in den zu restaurierenden Conterie auf Murano. Noch nicht entschieden wurde hingegen über das Arsenal, das Gebiet mit dem grössten Zukunftspotential der Altstadt.

Angesichts der vielen interessanten Vorschläge möchte man hoffen, dass es ihnen nicht so ergeht wie einst jenen von Le Corbusier, Wright und Kahn. Immerhin scheint die Situation heute besser zu sein - auch wenn stetige Terminverschiebungen beim Wiederaufbau der Fenice diesen Eindruck zu widerlegen scheinen. Gewiss: Italiens Mühlen mahlen weiterhin langsam. Gleichwohl bleibt der Trost, dass sich die Apenninenhalbinsel zurückgemeldet hat - wenn nicht mit Bauten, so doch mit einer zukunftweisenden Ausstellung. Und wer weiss, vielleicht hört man demnächst auch aus Rom, wo Piano und Meier an Millenniumsprojekten arbeiten, von einem Neubeginn.

7. Mai 1999 Neue Zürcher Zeitung

Die neue Anmut

Ein Glaspavillon von Herzog & de Meuron in Laufen

Fast täglich sorgen Herzog & de Meuron zurzeit für Schlagzeilen: So konnten jüngst in Basel, Duisburg und Eberswalde bedeutende Neubauten eingeweiht werden. Andere Projekte - etwa die neue Tate Gallery in London - gehen zügig ihrer Vollendung entgegen. Gleichzeitig hört man von neuen Prestigeaufträgen wie jenem des De Young Museum in San Francisco. Bei soviel Turbulenz könnte das soeben eröffnete Marketinggebäude von Ricola in Laufen als vermeintlich kleine Nebensache leicht übersehen werden. Dabei markiert diese Miniatur einen Wendepunkt im Werk der Basler. Der zwischen Glashaus und Gartenpavillon oszillierende Bau hat in seiner Transparenz und seinem diskreten Fünfzigerjahre- Charme nämlich nichts mehr gemein mit den kargen Kisten, mit denen Herzog & de Meuron ein vorläufig letztes Mal Anfang April in Eberswalde Publikum und Fachwelt irritierte.

Das über einem trichterförmigen Grundriss errichtete Bauwerk mit dem auskragenden Efeudach ist das bis anhin anmutigste Gebäude von Herzog & de Meuron, finden in ihm doch Architektur, Natur und Kunst zu einer Einheit. Darüber hinaus ist es der erste Bau der Basler Architekten, der im Grunde nur aus Raum besteht. Jacques Herzog betont denn auch, dass sie hier vor allem «der Aussenraum, der Zwischenraum sowie die Art, wie der Raum das Haus durchdringt», interessierte. Das Gebäude mit den charakteristischen Einknickungen an Seiten, das sich in seiner Durchsichtigkeit ganz auf den von Günter Vogt gestalteten Garten und den dahinter ansteigenden Hang bezieht, hat keine definitive Form, kein sofort erkennbares Volumen. Die fast durchgängige Verglasung - nur zum Parkplatz hin sind einige mit grünen Tarnnetzen bespannte Mauerflächen auszumachen - lässt aber den Aussenraum eindringen und macht aus diesem Haus eine Art objet cache-toi.

Die breite Freitreppe, die sich für Veranstaltungen in eine theaterartige Sitzfläche umfunktionieren lässt, ist das Herzstück der promenade architecturale. Sie führt vom offenen, mit Photoporträts von Thomas Ruff geschmückten Repräsentationsraum im Erdgeschoss hinauf in die Büroetage. Glas dominiert auch dort. Es bestimmt die Beziehung zwischen den Grossraum- und Einzelbüros und der Aussenwelt. Dank riesigen Fensterflächen, die individuell aufgeschoben werden können, lässt sich die Bürolandschaft gleichsam in eine Gartenveranda verwandeln. Der Fluss des architektonisch bewusst nicht definitiv gefassten Raums wird allerdings durch die von Adrian Schiess und Rosemarie Trockel entworfenen Vorhänge gebremst. Damit wird ihre Kunst zum integralen Bestandteil der Architektur.

Dieses dritte Haus, das Herzog & de Meuron für die Kräuterbonbon-Firma Ricola gebaut hat, deutet den Abschied von der Kiste an; es weist mit seinem fliessenden Raum und dem Hang zur Entmaterialisierung aber auch voraus auf die Kramlich-Residenz in Kalifornien (die, obwohl erst projektiert, im Sommer in der MoMA-Architekturausstellung «The Unprivate House» einen wichtigen Platz einnehmen wird) und auf den Londoner Entwurf des Laban Dance Centre. Damit darf es als ebenso exemplarisches Scharniergebäude im Werk von Herzog & de Meuron bezeichnet werden wie die Ricola-Lagerhalle in Laufen, bei der sie einst über den «Bezug von Hülle und Inhalt» nachdachten und Themen wie Tragen, Lasten, tektonischer Aufbau, Schichtung und Einfachheit untersuchten. Beim 1992 fertiggestellten Ricola-Produktionshaus in Mülhausen mit seiner photographisch bedruckten Aussenhaut interessierte sie dann die «Reduzierung der Fassadenoberfläche zum Bild». Waren damals von Karl Blossfeldt photographierte Pflanzenblätter extrem vergrössert auf die Aussenhaut aufgedruckt worden, so bilden nun die vom Dach hängenden Wein- und Efeuranken und der Garten die äusserste Hülle des Gebäudes und werden so Teil einer Architektur, die - ganz anders als der «tätowierte» Betonkubus der Bibliothek von Eberswalde - die Erde nur mehr leicht zu berühren scheint.

22. April 1999 Neue Zürcher Zeitung

Ein Wald auf der vierten Etage

Zeitgenössische Landschaftsarchitektur in den Niederlanden

Geht es um die Künstlichkeit der Landschaft, so kommt den Niederlanden weltweit der erste Platz zu. Auf dem Land, das dem Meer abgetrotzt oder durch Trockenlegung von Sümpfen gewonnenen wurde, sind selbst die Wälder von Menschenhand gemacht. Kanäle, Schleusen, Autobahnen, Alleen und Bahntrassees überziehen wie ein Raster den Boden, auf dem sich die «Randstad Holland» mit atemberaubendem Tempo ausdehnt: Zwischen Amsterdam und Rotterdam verschwinden wohl bald die letzten Tulpen- und Narzissenfelder, die in diesen Tagen mit ihrem Rot und Gelb betörende Akzente in die Landschaft setzen. Sie werden verdrängt von neuentstehenden Wohnsiedlungen und Bürohäusern, die nicht wie bei uns dicht an dicht gebaut, sondern ganz à l'américaine eingebettet sind in Grünanlagen mit breiten Parkways, grosszügigen Veloabstellplätzen und Biotopen. Wird hierzulande meist nur primitive Restraumbegrünung gepflegt, so sind in der Randstad ganze Heerscharen von Landschaftsgestaltern am Werk. Diese kreieren nicht immer Meisterwerke. Gleichwohl sind ihre Arbeiten oft besser als die Architektur, die sie umgeben. Und manchmal entdeckt man sogar Wegweisendes: etwa die heiss diskutierten Anlagen von West 8.

Aber nicht nur auf der grünen Wiese plant das Rotterdamer Büro West 8. Von ihm stammt auch der 1997 fertiggestellte Schouwburgplein, ein hochartifizieller «Stadtpark» im Herzen der Metropole an der Maas. Rotterdam ist nämlich gleichermassen die Hochburg der neuen holländischen Architektur und der Landschaftsgestaltung. Hier entsteht im Viertel Kop van Zuid eine ganze Stadtlandschaft, und hier realisierte der frühverstorbene Yves Brunier zusammen mit OMA den Rotterdamer Museumspark. An dieser grossartigsten Parkanlage der neunziger Jahre, die schon jetzt zu den Hauptwerken der abendländischen Gartenarchitektur gezählt werden darf, erhebt sich ausser der Kunsthal von Rem Koolhaas auch das Nederlands Architectuurinstituut (NAI), das Jo Coenen aus einem künstlichen Teich wachsen liess. Gegenwärtig gilt die Aufmerksamkeit dieses Museums der Landschaftsgestaltung. Schon die riesigen Siebdrucke auf den Fassaden deuten das Thema an. Allerdings sind darauf keine holländischen Landschaften dargestellt. Vielmehr verweisen die Bilder auf die im Rahmen der «IBA Emscher Park» in den letzten zehn Jahren durchgeführte ökologische, wirtschaftliche und soziale Umgestaltung des nördlichen Ruhrgebiets.

Die am 2. Juli in einem Symposium kulminierende Open-air-Schau ist Teil des noch bis ins Jahr 2001 dauernden Langzeitprojekts «Das Layout der Niederlande». In diesem Kontext werden in den nächsten acht Monaten in der Eingangshalle zehn junge Landschaftsarchitekturbüros vorgestellt. Auftakt zu der «9+1» betitelten Ausstellung machen die beiden Büros Vista und Atelier DS, die wie die nachfolgenden Teilnehmer – Diekman, Eker & Schaap, Juurlink en Geluk, Kaap 3, Parklaan, Studio I.S., Veenenbos en Bosch und West 8 – ihr Schaffen in selbstinszenierten Kojen präsentieren. Vom Büro Vista, zu dem sich vor fünf Jahren Sjef Jansen und Rik de Visser zusammenschlossen, sind bis zum 13. Juni Restrukturierungsprojekte sowie Entwürfe für Delft und Hilversum zu sehen. Das 1993 von Bruno Doedens und Maike van Stiphout gegründete Atelier DS, das mit seinen siegreichen Berliner Parkentwürfen internationale Anerkennung gefunden hat, versucht hingegen Antworten auf unser immer schneller pulsierendes Leben zu geben. Seine Arbeiten am Potsdamer Platz und in Scheveningen veranschaulichen das Streben nach klar und einfach strukturierten Umgebungen, in denen der Mensch wieder zu sich selbst finden soll. Nach der Eröffnung der letzten der fünf Doppelausstellungen soll am 25. November die Entwicklung der niederländischen Landschaftsarchitektur auf einer Tagung diskutiert und anschliessend in Buchform publiziert werden.

Aufsehenerregendes Highlight des gegenwärtigen Ausstellungsangebots im NAI, das unter anderem auch Herman Hertzbergers «Artikulationen» und eine Übersicht über «Zwei Jahrhunderte Architektur in den Niederlanden» umfasst, ist die ausser Programm noch bis zum 5. Mai zu sehende Präsentation des holländischen Ausstellungspavillons für die Expo 2000 in Hannover. Der von Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries, den sich kurz MVRDV nennenden Trendsettern der Rotterdamer Nachwuchsszene konzipierte Pavillon stapelt auf den sechs Ebenen einer 40 Meter hohen, offenen Architektur auf provokative Weise die holländische Landschaft. Das in seiner absoluten Künstlichkeit an eine Raumstation erinnernde Projekt ist die ebenso bizarre wie poetische Zukunftsvision einer urbanen und landschaftlichen Verdichtung und damit gleichsam die Formwerdung der beiden bereits zu Kultbüchern avancierten Schriften von MVRDV: «Farmax» und «Metacity Datatown».

Dem sich vordergründig ökologisch gebenden Pavillon mit seiner auf Hollands ungebrochenen Glauben an die Machbarkeit anspielenden Auftürmung des immer rarer werdenden Landes eignet eine Ironie, wie man sie letztmals in den Entwürfen von Archigram gesehen hat. Zuoberst säumen sechs Windmühlen eine Teichlandschaft. Von dieser fallen Wasservorhänge über das darunterliegende Geschoss, in dem sich ein Theater befindet. Auf der vierten Etage können die Besucher einen Wald durchstreifen und anschliessend das Reich der Wurzeln erkunden. Das Labyrinth aus kubischen Blumengittern im zweiten Stock lässt sich als skulpturale Anspielung auf die streng ausgerichteten Tulpenfelder, die Dünenlandschaft im ersten Geschoss hingegen als Hinweis auf die ungezähmte Natur interpretieren. Restaurant, Informationsbereich und Sanitäranlagen schliesslich sind im abgesenkten Erdgeschoss untergebracht. Mit diesem futuristischen Architekturspektakel dürfte Holland auf der Expo den Gegenpol zu Zumthors kontemplativem Schweizer Pavillon markieren und so einmal mehr beweisen, mit welcher Frechheit und Innovationslust seine Architekten und Landschaftsplaner den internationalen Diskurs mitbestimmen.

1. April 1999 NZZ-Folio

Der Blitz am Bahngeleise

Die Schweiz gilt heute international als eine Hochburg des Architekturdiskurses. Dessen gebaute Resultate finden sich - einmal von Basel abgesehen - meist abseits der grossen Zentren im Tessin und in Graubünden. Mit überregional ausstrahlenden Bauwerken konnte vorab die Wirtschaftsmetropole Zürich schon lang nicht mehr brillieren, obwohl hier so namhafte Teams wie Gigon & Guyer oder Meili & Peter arbeiten. Nun aber steht der erste grosse Vorzeigebau der Zürcher Szene: das von den beiden 41jährigen Architekten Isa Stürm und Urs Wolf realisierte Bürohaus der Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich.

Einen Namen machten sich Stürm und Wolf vor zehn Jahren mit einer monolithischen Einstellhalle in Domat Ems. Ganz anders als dieser flache Solitär am Fuss des Hochgebirges, aber von ähnlich minimalistischem Geist geprägt war das dank kargem Materialeinsatz fernöstlich anmutende Ladenlokal von Issey Miyake, das sie etwa zur gleichen Zeit an Zürichs Bahnhofstrasse einrichteten. Auf diese meisterhafte Miniatur folgten weitere Umbauten und Innenraumgestaltungen. Grosses erhoffen liess 1998 der Sieg im Wettbewerb für ein Kunstmuseum in Vaduz. Doch schreckten die Auftraggeber vor diesem unkonventionellen, im Grundriss einfachen, im Schnitt aber komplexen Entwurf zurück. Der Sitz der Sozialversicherungsanstalt an der Röntgenstrasse in Zürich vermittelt nun eine Idee von dem, was sich die Liechtensteiner entgehen liessen.

Das von den einfahrenden Zügen aus nicht zu übersehende Gebäude, in dem sich Themen wie Stadt, Raum, Licht und Sicht zur architektonischen Form verdichten, erhebt sich - eingeklemmt zwischen dem Geleisefeld und einer Allee - auf einem dreieckigen Grundstück. Es ist der erste Teil der 1990 durch einen Wettbewerb entschiedenen Bebauung eines abgewirtschafteten, früher in gewissen Kreisen «Bronx» genannten SBB-Areals. Der messerscharf geschnittene Bau, der sich von den sachlichen «Crèmeschnitten» der sechziger Jahre durch einen komplexen Grundriss und sorgfältigere Proportionierung unterscheidet, setzt ein Zeichen im multikulturellen Industriequartier, das heute mit neuen Kinos, Bars und Galerien ein vorab junges Publikum anzieht.

Das von horizontalen Bändern aus Burgunder Kalk und grünem Glas zusammengehaltene Gebäude changiert zwischen Steinhaus und Glaspalast. Seine neun unterschiedlichen Fassaden suchen den Dialog mit der Umgebung. Von der Langstrasse her erblickt man zunächst einen gedrungenen Steinturm, dessen Fundament durch die Tiefgarageneinfahrt gefährlich unterhöhlt wird. Die optische Zäsur einer keilartigen Kerbe trennt ihn von der strassenseitigen Fassadenflucht: einer fast immateriell wirkenden «Glaswand», die sich der dynamisch über Eck gezogenen Fensterbänder wegen in der Unendlichkeit des Himmels zu verlieren scheint.

Die Blitzform des aus dem dreieckigen Sockelgeschoss wachsenden Bürohauses erinnert entfernt an das Jüdische Museum von Daniel Libeskind, leitet sich aber ab aus der Komposition der zwei zur Bahn und zur Strasse hin parallelen Baukörper, die miteinander verbunden sind. Daher hat das Haus mit Dekonstruktivismus ebensowenig gemein wie mit der gegenwärtig so erfolgreichen Schweizer Kiste. Vielmehr muss man die skulpturale Grossform, bei der sich Stürm und Wolf auf Ieoh Ming Peis Stadtverwaltung in Dallas und die Erweiterung der Washingtoner National Gallery, vielleicht aber auch auf Sizas Kunstmuseum in Santiago de Compostela bezogen, im erweiterten Kontext des Gesamtprojekts sehen. Dieses umfasst neben dem aus einer gesprengten Hofrandbebauung entwickelten Bürohaus noch neun siebengeschossige Wohnkuben, um deren plangetreue Realisierung die Architekten gegenwärtig ringen.

Der Noblesse der Aussenform entspricht der Innenausbau: Die horizontale Empfangshalle verweist ebenso wie das grosse Treppenhaus mit dem dramatisch inszenierten Lichtschacht auf die Eleganz der Ladengeschäfte von Stürm und Wolf. Über fünf Geschosse verteilt, sind 400 Arbeitsplätze in hellen Grossraum- und Einzelbüros untergebracht. Die sorgfältige detaillierte Ausarbeitung setzt sich durch alle Räume fort bis hinauf zur Cafeteria und zum Gymnastikraum in der Attika. Dabei zeigt sich, dass die für die Zwinglistadt so typische Formenstrenge durchaus mondäne Züge annehmen kann.

1. April 1999 Neue Zürcher Zeitung

Rationalismus und Ortsbezug

Ausstellung Alberto Camenzind in Mendrisio

Seit in Mendrisio die Accademia di architettura ihren Betrieb aufgenommen hat, ist der Magnifico Borgo zum Zentrum der Architekturdiskussion im schweizerisch-oberitalienischen Gebiet geworden. Einen wesentlichen Anteil daran haben die von der Akademie veranstalteten Ausstellungen im Museo d'Arte von Mendrisio. Seit vergangenem November besitzt die Akademie zudem eigene Ausstellungsräumlichkeiten in einem von Mario Botta nach mediterranem Vorbild um eine offene Piazza angeordneten Shopping Center, dem Piazzale alla Valle. Bottas Konsumtempel, der sich etwas aneckend an den historischen Stadtkörper schmiegt, darf als das wohl gelungenste Beispiel dieses Bautyps in unserem Lande bezeichnet werden. Auf der obersten Etage, am Ende einer Aussichtspromenade, befindet sich der Archivio del Moderno: ein Forschungs-, Dokumentations- und Ausstellungsinstitut. Seinen Einstand gab dieses Moderne-Archiv im vergangenen November mit einer Bestandesschau. Nun zeigt es die 1996 von der ETH Zürich zusammengestellte Werkretrospektive des Luganeser Architekten Alberto Camenzind, der zusammen mit Rino Tami zu den Vätern der neuen Tessiner Architektur zählt. Schien die Zürcher Schau, zu der das seit kurzem vorliegende Katalogbuch noch fehlte, die Italianità von Camenzinds Schaffen zu betonen, so erhellt die leicht modifizierte Ausstellung im Tessiner Ambiente nun plötzlich die nordische Seite des Baukünstlers, der in zwei Monaten seinen 85. Geburtstag feiern kann.

Die lateinische Grandezza von Bottas Zentrum kontrastiert denn auch zur nüchternen Sachlichkeit der in der Schau mit sparsamsten Mitteln zur Diskussion gestellten Bauten - allen voran der erstaunlich minimalistischen Generalvertretung von Alfa Romeo in Agno aus dem Jahre 1963. Dieser skulpturale Bau wirkt heute wie ein erratischer Block in Camenzinds zwischen Rationalismus und Ortsbezug oszillierendem Œuvre. Besonders spröd geben sich die ersten Häuser, denen die südländische Heiterkeit von Tamis Bauten fehlt. Wohl über Tami lernte Camenzind die nach dem Krieg von Bruno Zevi als Gegengift gegen den faschistisch unterwanderten Rationalismus propagierte organische Baukunst Frank Lloyd Wrights kennen. Das von Tami zusammen mit Camenzind und Augusto Jaeggli 1961 realisierte Luganeser Radiostudio jedenfalls ist von einem Wrightianismo geprägt, der sich in den sechziger Jahren dann auch in Camenzinds Villen - vom Haus Druey in Novaggio (1961) bis zum Haus Luban in Ascona (1968) - nachweisen lässt, wenngleich diese in Grundriss und Volumenverteilung auch nie die malerische Komplexität der Bauten des grossen Wright-Interpreten Franco Ponti (NZZ vom 4. 8. 98) erreichten. Camenzinds Meisterschaft zeigt sich in der Verschmelzung einer moderaten, von seinem Lehrer Salvisberg vermittelten Moderne mit der Kultur des Ortes. Damit überraschte er schon beim 1958 fertiggestellten, bald deutschschweizerisch karg erscheinenden, bald mit seinen offenen Giebeln an alte Tessinerhäuser erinnernden Gymnasium in Bellinzona. Seither wirkte sie immer wieder als Korrektiv, so auch 1962 im Wohnblock Blaser in Cassarate, wo sich Camenzind mit Aalto auseinandersetzte.

Aus der Enge des Tessins wurde Camenzind als Chefarchitekt der Expo 64 nach Lausanne berufen, der Stadt, in der er während des Krieges als Soldat in langen Gesprächen mit dem vor den Faschisten geflüchteten italienisch-jüdischen Architekten Ernesto Rogers den Razionalismo italiano aus erster Hand kennenlernen durfte. Zu einer Zusammenarbeit mit einem grossen Italiener kam es dann beim Bau des Bureau international du travail (BIT) in Genf, das er zwischen 1965 und 1975 mit Pier Luigi Nervi ausführte.

Seine gesamteidgenössische Karriere führte ihn schliesslich als Professor in die Deutschschweiz. Dort hatte er an der ETH eine ähnliche Vermittlerposition zwischen den drei architektonischen Kulturen des Landes inne wie später Dolf Schnebli, der mit Aldo Rossi nochmals italienischen Geist als wichtigen Katalysator an die Zürcher Eliteschule brachte. Camenzind, der auch während seiner Zeit in Zürich über seinen Partner Bruno Brocchi mit der Tessiner Szene verbunden blieb, realisierte in den frühen siebziger Jahren mit den Lidorama-Bauten in Paradiso ein letztes grosses Heimspiel: Die elegante Anlage am Luganersee darf noch immer als Meilenstein des gehobenen Wohnungsbaus gelten. (Bis 24. April)


Alberto Camenzind. Architekt, Chefarchitekt Expo 64, Lehrer. Hrsg. Werner Oechslin und Flora Ruchat-Roncati. Verlag gta, Zürich 1998. 189 S., Fr. 82.-.

8. März 1999 Neue Zürcher Zeitung

Paläste für Sonnenhungrige aus dem Norden

Eine Ausstellung zur Hotelarchitektur in Lugano

Die Italiensehnsucht der West- und Mitteleuropäer manifestierte sich früh schon im «Grand Tour». Die Kunstschätze von Antike, Renaissance und Barock standen zunächst im Mittelpunkt. Doch bald schon richtete sich das Augenmerk auch auf die Natur: Kaum hatte man sich am Parthenopäischen Golf und am Vesuv satt gesehen, da entdeckte man an den oberitalienischen Seen das einmalige Zusammenspiel von südlicher Szenerie und Hochgebirge. Rousseau stellte sich seine Julie zunächst am Verbano vor, und Jean Paul pries das niegesehene Land.

Keiner aber zeigte sich so berauscht wie Stendhal, der - ein Jahrzehnt nachdem Napoleon sich auf der Isola Bella aufgehalten hatte - die Ufer der Seen als Inbegriff des Schönen feierte. Zu Gast war er auf Landsitzen, denn komfortable Unterkünfte wie die 1873 zum Palasthotel umgebaute Villa d'Este in Cernobbio gab es im frühen 19. Jahrhundert noch nicht. Das erste noble Haus an den Seen war das 1851-55 vom Mailänder Architekten Luigi Clerichetti für den Unternehmer Giacomo Ciani in klassizistischem Stil errichtete Albergo del Parco in Lugano, das im Fin de siècle zum Grand Hôtel Palace erweitert wurde und heute als Ruine vor sich hin dämmert (NZZ 7. 3. 98). Ausgerechnet dieses geschundene und extrem gefährdete Meisterwerk bildet den Auftakt zu einer kleinen, von einem attraktiven Katalog begleiteten Ausstellung zur Hotelarchitektur Luganos in der Villa Saroli, dem historischen Museum der Stadt.

Neben alten Bauplänen, die die Hotelarchitektur hauptsächlich als Fassadenproblem und Organisationsaufgabe ausweisen, sind vor allem Postkarten und Gemälde, aber auch Geschirr und Mobiliar zu sehen. Sie evozieren die architektur- und wirtschaftsgeschichtlich bedeutende Hotelkultur der Stadt von den Anfängen bis hin zur grossen Tourismuskrise am Beginn des Ersten Weltkriegs. Die Beschränkung auf Lugano und seine Vororte von Paradiso bis Castagnola macht durchaus Sinn, denn kaum ein anderer Ort der Schweiz kann mit einer derart vielfältigen Typologie des Hotelbaus aufwarten wie die «Perle des Ceresio» - einst der glanzvollste Ferienort des oberitalienischen Seengebiets.

Entstand das «Palace» aus dem 1848 aufgelösten Minoritenkloster, dessen Renaissancekreuzgang noch heute das Herzstück der Ruine bildet, so resultierten andere Hotels aus dem Umbau alter Villen und Gasthöfe oder wurden völlig neu konzipiert. Parkresidenzen und Stadthäuser, See- und Aussichtshotels, kleine Pensionen und mondäne Paläste finden sich auf kleinstem Raum. Das «International», das «Splendide», das «Victoria», die «Villa Castagnola» oder das «Walter» pflegen noch heute ihre Tradition, andere wie etwa das «Europa» wurden in den sechziger Jahren stark verändert. In Apartmenthäuser umgewandelt wurden beispielsweise «Adler», «Bristol» oder «Croce Bianca», während «Beaurivage», «Bellevue» und «Eden» - um nur einige grosse Hotels zu nennen - der Spitzhacke zum Opfer fielen.

Gewiss, nicht alle diese Bauten waren erhaltenswert, und wohl kaum jemand wird heute noch dem alten «Eden» oder «Du Lac» eine Träne nachweinen. Doch mit der Zerstörung des durch seine pompöse Fassadenarchitektur beeindruckenden «Du Parc», dessen gründerzeitliche Pracht jeder Metropole zur Ehre gereicht hätte, wurde deutlich, wohin mangelnder Geschichtssinn und Profitgier in den Jahren der Hochkonjunktur führten. Seither hat sich das Bewusstsein gewandelt, und die opulenten Bauten des späten 19. Jahrhunderts werden längst als Teil des Patrimoniums anerkannt. Dies belegt in der Ausstellung vor allem der Katalog, der nahezu 100 alte Hotels minuziös dokumentiert. Damit allein ist es allerdings nicht getan. Entscheidend ist nun, dass auch am Ceresio die aus der goldenen Zeit des Tourismus noch erhaltenen Baudenkmäler so wie anderswo gehegt und gepflegt werden. Zunächst einmal betrifft dies das «Palace», das nach dem Willen kurzsichtiger Politiker einem Kasino-Neubau weichen soll. Obwohl zumindest die Fassaden und der Kreuzgang sakrosankt sein müssten, fordert allen voran die Lega tabula rasa. Wohin das führen kann, zeigt das neue, just von dieser Partei mitgetragene Kasino von Mendrisio. Dass dieses mit einer falschen Säulenfassade einen Hauch Las Vegas an die Autobahn zaubern will, entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie.

[Die Ausstellung in der Villa Saroli ist bis zum 2. April jeden Nachmittag ausser sonntags und montags offen. Katalog (ital.): Lugano Hôtels, Alberghi, Storia, Architettura. Hrsg. Antonio Gili. Edizioni Città di Lugano, 1998. S. 347, Fr. 35.-.]

25. Februar 1999 Neue Zürcher Zeitung

Das Haus als Landschaft

Zvi Heckers Palmach-Museum in Tel Aviv

Der israelische Architekt Zvi Hecker ist in Europa ein Star. In seiner Heimat aber galt er lange als Enfant terrible. Nun steht in Tel Aviv mit dem Palmach-Museum sein erstes öffentliches Gebäude in Israel seit 30 Jahren vor der Einweihung. Das Haus, das an die einstige jüdische Untergrundorganisation Palmach erinnert, ist ein Meisterwerk - ein unvollendetes allerdings.

Tel Aviv, die laute Metropole des weltlichen Israel, ist ein Kronjuwel der architektonischen Moderne. Bedeutende zeitgenössische Baukunst aber findet man hier kaum, sieht man einmal ab von Mario Bottas Cymbalista-Synagoge auf dem Campus der Tel Aviv University oder dem Kulturhaus von Bracha und Michael Chyutin in Givataim. Seit neustem allerdings ragt ein Bau aus der durch Spekulation und politische Verstrickungen gezeichneten Architekturlandschaft: das Palmach-Museum von Zvi Hecker. Auf dem Weg zur Universität - unweit des Yarqon-Flusses - erscheint es dem Vorbeifahrenden auf der rechten Strassenseite kurz als eigenwilliges Konglomerat aus Steinmauern, Betonwänden und Pinien. Man kann es leicht für eine in den terrassierten Hügel eingelassene Bunkeranlage aus vergangenen Tagen halten. Allerdings zeigte sich dieser Ort vor zwei Jahren noch völlig anders: Damals glaubte man, eine von Bäumen überwucherte Tempelruine von ägyptischen Dimensionen vor sich zu haben. In Wahrheit aber handelte es sich um eine von Betonpfeilern gesicherte Hügelkuppe, um die herum dann das Museum halb unterirdisch errichtet wurde. Der fertige Bau ist nun so glücklich in die Landschaft integriert, dass der israelische Bildhauer Michi Ullman in ihm «zwei Berge mit Bäumen dazwischen» zu erkennen glaubte.

Bunker im Pinienhügel

Dieses unkonventionelle Bauwerk ist das Ergebnis eines Wettbewerbs, den 1992 die Vereinigung der Palmach-Veteranen für ein multifunktionales Zentrum mit Museum, Theater, Cafeteria und Verwaltungsräumen ausgeschriebenen hatte. Nach der kurz bevorstehenden Eröffnung wird der Baukomplex als Erinnerungsstätte an Palmach dienen, eine jüdische Untergrundorganisation, die gegen die britische Herrschaft in Palästina kämpfte, am Unabhängigkeitskrieg teilnahm und 1948 schliesslich in der israelischen Armee aufging. Als Museum und Memorial für diese Elitetruppe, die im kollektiven Gedächtnis des Landes längst zur Legende geworden ist, strebte Hecker keinen anonymen Bau an. Vielmehr sollte das Gebäude die Verwurzelung von Palmach im Land und in der Geschichte Israels zum Ausdruck bringen. Entstanden ist eine expressive, entfernt an Frank Lloyd Wrights Arbeiten in Taliesin West erinnernde Architektur und zugleich Heckers erstes öffentliches Werk in Israel seit dem Rathaus von Bat Yam und der Negev-Synagoge, die beide in den sechziger Jahren erstellt wurden.

Der Grundriss des Neubaus evoziert, ganz ähnlich wie das Jüdische Museum von Daniel Libeskind in Berlin, einen fragmentierten Davidstern. Aber auch drei gekreuzte Schwerter, das Symbol von Palmach, kann man in ihm erkennen. Dieses Motiv des Kreuzens, das in Heckers neueren Werken die Spiralkomposition - wie sie noch 1996 in der Berliner Galinski-Schule in Erscheinung trat - abgelöst hat, taucht im unrealisierten Entwurf für ein Nationaldenkmal auf dem Har Eytan wieder auf. In beiden Fällen wurde die Grundrissfigur aber nicht aus einem Zeichen, sondern aus der Topographie entwickelt. Gerade beim Palmach- Projekt bemühte sich Hecker, die Natur des Ortes so gut wie möglich in den Bau zu integrieren: Ein System von Betonmauern, die teilweise mit «Kurkar», einem dünnschichtigen lokalen Sandstein, verkleidet sind, verkantet sich um den Pinienhügel. Die Mauern begrenzen dabei nicht nur die drei sich überlagernden Baukörper, sie definieren auch die Aussenräume. Diese Verzahnung des Gebäudes mit der Umgebung ist im heutigen Tel Aviv ebenso ungewöhnlich wie die mit ihr einhergehende ökologische Grundhaltung. Sie weist den 1931 in Krakau geborenen Hecker als einen der raren baukünstlerischen Visionäre Israels aus.

Architektur als Landschaft, ein zentraler Topos in Heckers Werk, der sich schon 1963 im Polyeder-Gebirge des Dubiner House in Ramat Gan ankündigte, im Spirala House verdichtete und unlängst im Projekt «Berliner Berge» ins Bildhafte steigerte, spielte auch im Konzept des Palmach- Museums eine bedeutende Rolle. In diese gebaute Landschaft taucht man ein, sobald man die Rampe betritt, die hinauf zum Museumsbezirk führt. Nach wenigen Schritten öffnet sich links der Eingang zum Museum, dessen Foyer fliessend übergeht in den erhöhten temporären Ausstellungsbereich. Nach rechts gelangt man hinab ins eigentliche Museum, das unterirdisch den zentralen Hof umgibt. Im bunkerartigen Untergrund sind Szenen aus dem Unabhängigkeitskrieg getreu nachgestellt. Verlässt man nach einem Rundgang das Museum mit seinen wertvollen Erinnerungsstücken, so erreicht man - vorbei an einem kleinen Open-air-Theater mit Blick auf Ramat Aviv - den schattigen Hof, in dem man sich in einem jener Wäldchen wähnt, die einst den Palmach- Kämpfern Unterschlupf boten.

Faszination des Unvollendeten

Diese magische Atmosphäre dürfte sich verflüchtigen, wenn dereinst die Cafeteria im Nordosttrakt den Betrieb aufnimmt. Neben dem noch leerstehenden Lokal führt eine Aussentreppe hinauf in das unvollendete Itzhak-Rabin-Memorial, einen hohen Raum mit Terrasse, von der aus man über die schräg wie Felsenriffe aus den Bäumen ragenden Baukörper bis zum Mittelmeer sieht. Etwas verborgen, erhebt sich im Südosten des Hofs die nackte Betonkonstruktion des Theaters, das für 400 Besucher im Parkett und auf der Galerie konzipiert wurde. Dieser Teil des Gebäudes ist wie das Rabin-Memorial und die Cafeteria erst im Rohbau fertig, während mit der Realisierung der durch eine Art Cañon vom Hauptgebäude abgeschnittenen, für zeremonielle Anlässe bestimmten Plaza und der darunter liegenden Tiefgarage noch gar nicht erst begonnen wurde. Die Auftraggeber, denen seit der Ermordung Rabins die treibende Kraft fehlt, konnten sich nämlich bis heute nicht einigen, wann und ob überhaupt die zweite Bauetappe abgeschlossen werden soll. Doch trägt gerade der nicht eingeplante Zustand des Unvollendeten viel zur eigentümlichen Stimmung der Anlage bei. Zusammen mit der rohen, an die Arte povera gemahnenden Detailbehandlung der Innenräume, wie man sie schon von der Galinski- Schule her kennt, macht gerade der Aspekt des «Work in progress» das Palmach-Museum zu einem Gebäude, das gut zum sozialen und politischen Zustand Israels passt.

19. Februar 1999 Neue Zürcher Zeitung

Ein Musentempel im Westen

Herzog & de Meuron bauen das DeYoung-Museum in San Francisco

Das Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron gilt als eines der innovativsten überhaupt. Dank bedeutenden Aufträgen in Deutschland, Frankreich und Grossbritannien gesellte sich jüngst zum Ruhm auch der Erfolg. Selbst in den USA reisst man sich neuerdings um die Basler. Dabei sah es Ende 1997 noch ganz anders aus: Damals blieb ihr Entwurf für die Erweiterung des New Yorker Museum of Modern Art - obwohl als Favorit gehandelt - im zweiten Durchgang auf der Strecke. Nun haben allerdings die New Yorker das Nachsehen, denn sie müssen sich auf einen architektonisch eher mittelmässigen Neubau von Yoshio Taniguchi einstellen und gleichzeitig zusehen, wie man in Austin und San Francisco wagt, was am Hudson kaum mehr möglich ist: zukunftsweisende Architektur zu bauen.

Soeben wurde nämlich bekannt, dass Herzog & de Meuron nicht nur das Blanton Museum of Art der Universität Austin, sondern im Golden Gate Park von San Francisco auch das neue DeYoung- Museum bauen werden. Nach Mario Bottas San Francisco Museum of Modern Art wird es bereits der zweite Schweizer Architekturexport an die Westküste sein. Mit dem 130 Millionen Dollar teuren Neubau, der sich nicht zuletzt wegen starker Erdbebenschäden aufdrängte, soll 2002 begonnen werden. Die Eröffnung ist für das Jahr 2006 geplant. Dann sollen die bedeutenden Sammlungen des 1894 gegründeten Museums - amerikanische Malerei, Textilien sowie indianische, afrikanische und ozeanische Kunst - wieder in ihrer Gesamtheit zugänglich sein, und zwar in einem Haus, das sich laut Jury sensibel in den Kontext einfügt und durch einen vorbildlichen «Umgang mit Material und Licht» auszeichnet.

1. Februar 1999 NZZ-Folio

Andalusischer Minimalismus

Sevilla erlebte dank der Expo einen architektonischen Aufbruch. Wer damals orakelte, auf den Boom werde Katerstimmung folgen, dem widersprechen heute zumindest die architektonischen Tatsachen.

Sevilla erlebte dank der Expo einen architektonischen Aufbruch. Neben Ausstellungsbauten auf der Cartuja-Insel wurden für 1992 die Oper, der Flughafen und der Bahnhof neu gebaut. Wer damals orakelte, auf den Boom werde Katerstimmung folgen, dem widersprechen heute zumindest die architektonischen Tatsachen: Eine Rückbesinnung auf das baukünstlerische Erbe führte zu vorbildlichen Eingriffen ins historische Stadtgefüge, die eine Verbesserung der Wohnsituation, aber auch bedeutende Verwaltungsbauten für die Regierungen der seit 1982 autonomen Region Andalusien und der Provinz Sevilla brachten. Die neugeschaffenen Ämter fanden meist in transformierten Baudenkmälern eine Bleibe. Als besonders gute Umnutzungen dürfen dabei das von González Cordón in eine maurisch inspirierte Fabrik eingefügte Landwirtschaftsamt und der Sitz der Provinzverwaltung gelten, den Antonio Cruz und Antonio Ortiz in der palastartigen Hofanlage einer spätbarocken Militärkaserne unterbrachten.

Die beiden 50jährigen Sevillaner hatten 1976 erstmals mit einem genial in die enge Altstadt integrierten Patiohaus auf sich aufmerksam gemacht. Von ihrer Einfühlung in die Stadt und deren Baukunst zeugte eine Dekade später die heitere Umgestaltung einer Bastion in Cádiz. Der Anbau an das gründerzeitliche Rathaus von Ceuta in Form eines reduzierten Fünfzigerjahre-Modernismus und die Transformation eines sevillanischen Stadtpalastes für das Kulturamt veranschaulichten dann jenen Schritt von der kontextuellen Poesie hin zur kühlen Abstraktion, die in der Erweiterung der denkmalgeschützten Kaserne für die Provinzverwaltung ihren Höhepunkt erreichte.

Dem Altbau gaben sie die Farbigkeit von einst zurück, richteten in seinen Sälen Grossraumbüros ein und ergänzten ihn um eine minimalistische Hofanlage, die gleichermassen als abstrakt-rationalistische wie modernistisch-asymmetrische Antwort auf den bestehenden Palast gelesen werden kann. Dabei negiert die L-förmige Erweiterung zwar im Plan die Symmetrieachse, respektiert aber dennoch Massstab und Volumetrie der ehemaligen Kaserne. Eine Enfilade von Laubbäumen bildet die optische Zäsur zwischen einst und jetzt, während ein massiver Lamellenzaun die Neuanlage nach Süden schliesst und so eine zeitgemässe Version des klassischen Orangenhofs entstehen lässt.

Nach dem Eintritt in den neuen Patio erreicht man - vorbei an einer in den Längstrakt eingekerbten Arkade - geradewegs den riesigen, leicht konstruktivistisch angehauchten Portikus. Dieser einladende, kaum monumental wirkende «Innenraum des Aussenraums», der sich im warmen Klima Andalusiens ideal für Empfänge eignet, bildet das Scharnier zwischen den beiden rechtwinklig zueinander gestellten drei- und viergeschossigen Bauteilen. Aus diesem Hohlraum, den die Architekten nicht ganz zu Unrecht «Atrium» nennen, obwohl er sich zur Seite hin statt nach oben öffnet, gelangt man in das demokratisch behandelte Gebäudeinnere: Die beiden Foyers sind kaum mehr als breite Korridore, und selbst der Versammlungssaal im Parterre des viergeschossigen Traktes ist nicht höher als das Café oder als die darüberliegenden Einzel- und Grossraumbüros der Parteien und Gewerkschaften.

Das Hauptinteresse von Cruz & Ortiz galt den Baukörpern und den dazwischenliegenden Freiräumen, deren kompositorische und soziale Aspekte sie seit ihrem ersten Patiohaus faszinieren. Da das Innere eines Verwaltungsgebäudes der gestalterischen Phantasie Grenzen setzt, lebten sie diese am Aussenbau aus. Die rational komponierten Hoffassaden scheinen die strenge Geometrie der Gartenarchitektur zu reflektieren: Grün schimmernde Quarzitmauern rahmen zwei schwebende Curtain walls aus bläulich eingefärbtem Glas und Aluminiumprofilen, die eine Ikone der fünfziger Jahre zitieren: das Lever House von SOM in New York.

Beziehen sich diese Curtain walls auf den Arkadenhof der Kaserne, so spiegeln sich die starren äusseren Fensterachsen des alten Teils in den hermetischen Strassenfassaden des Neubaus, die mit ihren vertikalen Fensterbändern einem übergeordneten Kompositionsschema gehorchen und dadurch die wahre Höhe des Gebäudes verschleiern. Eine der Quellen dieser unterkühlten Flächigkeit ist zweifellos das 1972 von Josep Coderch errichtete Institut Français in Barcelona. Das Spiel der positiven und negativen Volumen sowie die sicheren Proportionen hingegen verweisen auf Alejandro de la Sotas Justizpalast in Gerona. Wie diese grossen Vorbilder suchen auch Cruz & Ortiz mit ihrer - trotz funktionalistischen und rationalistischen Akzenten - neutralen Sprache nach neuen Möglichkeiten einer in der Moderne wurzelnden Architektur.

Eine Antwort ist dieses Gebäude, das sich als «un complemento mudo y elegante» - eine stumme und elegante Ergänzung - des alten Baudenkmals versteht; eine andere ist ihr fast vollendeter Neubau der andalusischen Bibliotheksverwaltung, in dem das südländische Raumgefühl von de la Sotas Universitätsgebäude im Osten von Sevilla weiterlebt.

10. Dezember 1998 Neue Zürcher Zeitung

Kleines Land mit grosser Architektur

Vorarlberg als Fokus der zeitgenössischen Baukunst

Das westlichste Bundesland Österreichs gibt sich gerne ländlich. Doch trügt der Schein. Denn in den vergangenen Jahrzehnten ist entlang der Autobahn nach dem Prinzip «Low rise – low density» eine lockere Bandstadt entstanden, die von Bregenz bis Feldkirch reicht. Diese Zersiedelung hat Tradition, besassen doch die Vorarlberger, lange ein armes Volk, oft nur eines: ein Stück Land. Darauf wurde, als Fleiss, wirtschaftliches Geschick und Sparsamkeit den Wohlstand mehrten, gebaut: Heute gilt das Ländle als eine der reichsten Gegenden Europas – auch bezüglich der Architektur, die, was Qualität und Verbreitungsdichte anbelangt, in der Alpenrepublik ihresgleichen sucht. Verglichen werden kann die Vorarlberger Szene allenfalls mit jener am Alpenrhein oder am Rheinknie. Doch während Basel mit Herzog & de Meuron oder Diener & Diener und Graubünden mit Peter Zumthor international gefeierte Architektenstars vorweisen können, klingen die Vorarlberger Namen den wenigsten vertraut. Dabei hat in jüngster Zeit wohl kaum jemand in Europa soviel gebaut wie das Lochauer Duo Baumschlager & Eberle, dessen Œuvre mehr als 150 Werke umfasst. Das Anliegen der beiden Architekten – und das ihrer Kollegen – ist dabei weniger eine Baukunst, die sich für Hochglanzmagazine eignet, als vielmehr eine, die ganz bescheiden die Verbesserung der Wohn- und Lebensqualität zum Ziel hat. Das hält die beiden allerdings nicht davon ab, sich mit Phantasie den Herausforderungen aller erdenklichen Bautypen zu stellen: vom Schulhaus bis zum vielbeachteten gläsernen Garagenturm in Wolfurt.

Es war der von sozialem Idealismus getragene Wohnungsbau, wie er sich schon 1979 mit der Siedlung «Im Fang» in Höchst weithin sichtbar manifestierte, der dem Vorarlberger Architekturwunder den Weg bereitete. Der eigentliche Boom setzte aber erst Anfang der neunziger Jahre ein. Neben bescheidenen Privathäusern, kleinen Villen und Siedlungen entstanden seither vermehrt öffentliche Architekturen (Schulhäuser, Kultur- und Gemeindebauten), Bürohäuser, Banken, Lagerhallen und Fabriken. Ihr eigentliches Flaggschiff ist zweifellos Zumthors Kunsthaus in Bregenz. Es veranschaulicht besonders schön die Offenheit Vorarlbergs gegenüber auswärtiger Architektur. Jüngstes Beispiel dafür ist der Neubau des Tourismushauses, der – obwohl das Land über genügend kreatives Potential verfügt – grosszügig an den Wiener Architekten Rudolf Prohazka vergeben wurde. Schweizer kamen allerdings schon vor Zumthor zum Zug: allein in Lustenau bauten die St. Galler Peter und Jörg Quarella eine Hauptschule, die Zürcher Burkhalter & Sumi einen Kindergarten und die Luzerner Marques & Zurkirchen das Einkaufszentrum Kirchpark.

Erfindungsreichtum und eine zwischen barockem Erbe und alemannischer Einfachheit oszillierende formale Vielfalt prägen heute das Geschehen zwischen Rhein und Arlberg: Einen Eindruck davon vermittelt bereits ein Blick auf einige herausragende Bauten, die in den letzten zwei Jahren vollendet wurden: die Erweiterung des Festspielhauses Bregenz von Helmut Dietrich und Much Untertrifaller, der Gewerbebau von Ulrich Grassmann in Hörbranz, der Bauernhof von Roland Gnaiger in Lustenau, die Wohnanlage von Hermann Kaufmann in Dornbirn, das Medienhaus in Schwarzach von Ernst Giselbrecht, der Prototyp eines Doppelhauses von Christian Lenz in Schwarzach, die Friedhofskapelle von Marte & Marte in Weiler, das Sozialzentrum in Satteins von Strieder & Hanck, die Erweiterung der Volksschule in Schlins von Bruno Spagolla, das Feuerwehrhaus in Nenzing von Lothar Huber, das Kulturzentrum Remise in Bludenz von Hans Hohenfellner, die Bautischlerei in Bizau von Johannes Kaufmann oder das Gemeindehaus in Möggers von Arno Bereiter. Das alles sind überdurchschnittliche Gebäude von Architekten, die sich weniger als Theoretiker denn als Macher im besten Sinne des Wortes verstehen. Wo sonst gibt es eine Region mit nur 350 000 Einwohnern, in der Architekten so viele qualitativ hochwertige Bauten verwirklichen können?

Wer durch Vorarlberg fährt, begegnet diesen kleinen Meisterwerken allenthalben. Man muss sie nicht wie anderswo erst mit der Lupe suchen. Bisher stellten sich interessierte Architekturtouristen immer wieder die Frage nach den Urhebern dieser Bauten. Im vergangenen Jahr erschien dann das aufwendig illustrierte Buch von Amber Sayah, das zumindest einige der Juwelen präsentiert. Nun liegt seit wenigen Tagen auch der langerwartete Architekturführer vor: ein Buch in handlichem Format, das auf 336 Seiten 260 in den letzten zwei Jahrzehnten entstandene Bauten in Wort und Bild sowie weitere 220 Bauten mittels Kurzhinweisen vorstellt. Stadtpläne und genaue Adressangaben erleichtern das Auffinden der Bauten. Erlaubt der knappe zeitliche Ausschnitt einen verdichteten Blick auf die noch junge Vorarlberger Szene, so hat er doch zur Folge, dass ältere interessante Bauten, etwa das 1975 von Wilhelm Holzbauer begonnene Vorarlberger Landhaus in Bregenz, keine Erwähnung mehr finden. Ausserdem vermisst man einen biographischen Anhang, auch wenn sich mit etwas Aufwand anhand des reichen Materials die architektonischen Lebensläufe der wichtigsten Baukünstler konstruieren lassen.


[Baukunst in Vorarlberg seit 1980. Ein Führer zu 260 sehenswerten Bauten. Hrsg. Otto Kapfinger, Kunsthaus Bregenz und Vorarlberger Architekturinstitut. Hatje-Verlag, Stuttgart 1998. 336 S., Fr. 38.–. – Amber Sayah: Neue Architektur in Vorarlberg. Bauten der neunziger Jahre. Callwey-Verlag, München 1997. 158 S., Fr. 92.–.]

verknüpfte Publikationen
- Baukunst in Vorarlberg seit 1980

5. Dezember 1998 Neue Zürcher Zeitung

Der Architekt in der Wüste

Zum Tod von Albert Frey

Vor zwei Monaten durfte er noch die Eröffnung einer dem «Aluminaire House» gewidmeten Ausstellung im New Yorker Urban Center miterleben (NZZ 2. 10. 98) und am 18. Oktober seinen 95. Geburtstag feiern: der aus Zürich stammende Architekt Albert Frey. Nun wurde am Donnerstag bekannt, dass dieser avantgardistische Visionär am 14. November in seinem Haus im kalifornischen Palm Springs gestorben ist. Frey trat 1928, nach einem Architekturstudium am Technikum Winterthur, in Le Corbusiers Pariser Atelier ein, wo er an einer Ikone der Moderne, der Villa Savoye, mitarbeiten durfte. Angezogen vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, emigrierte er zwei Jahre später in die USA. Dort gelang ihm und seinem Partner Alfred L. Kocher 1931 mit dem aus Fertigelementen errichteten «Aluminaire» eine architektonische Sensation. Ähnlich wie der PSFS-Wolkenkratzer des Genfers William Lescaze in Philadelphia wurde es zu einer Inkunabel der modernen US-Architektur und fand als solche Eingang in die heute legendäre New Yorker Ausstellung «The International Style».

Ein erster Aufenthalt 1934 in Palm Springs sollte in Freys Leben eine schicksalshafte Wende einleiten: Er verliebte sich – wie einst Gide – in die Wüste und kehrte, nachdem er 1937–39 zusammen mit Philip Goodwin das neue MoMA in New York gebaut hatte, für immer nach Palm Springs zurück. In steter Auseinandersetzung mit der grossartigen Natur Südkaliforniens, forschte er an einer Bauweise für heisse Klimazonen. So ist sein erstes eigenes Haus, in dem er ausgehend von Le Corbusier und Mies van der Rohe zu einem eigenständigen, durch die lokalen Bedingungen geprägten Ausdruck fand, gleichzeitig ein einfaches «Shed» und eine durchdachte «Machine à habiter». Dieses mit seinem späteren, Ufo-artigen Aufbau futuristisch wirkende Gebäude, das John Lautners Space-Age-Architektur vorwegnimmt, vereinigte neuste technische Errungenschaften mit einer ökologischen Grundhaltung. Damit darf es als ein frühes Beispiel jenes «Touch the earth lightly» gelten, das heute etwa Glenn Murcutt in Australien zelebriert.

Frey und sein Compagnon John Clark bereicherten die Gegend um Palm Springs mit einer Vielzahl von Villen und öffentlichen Bauten, darunter Seilbahnstationen, Schulen, Krankenhäuser und ein Jachtklub. Beeinflusst von den «Case Study»-Häusern, errichtete Frey 1964 seine zweite eigene Villa. Diese schmiegt sich in die karge Berglandschaft und strebt – ähnlich wie gewisse Bauten Frank Lloyd Wrights – nach einer Verschmelzung von Innenraum und Natur. Nach diesem kühnen Wurf flachte das Spätwerk etwas ab. Die Hochglanzmagazine verloren allmählich das Interesse an dem alternden Guru, der sich mehr und mehr auf ein naturverbundenes Leben zurückbesann. Doch durfte Frey die Neubewertung seines Œuvres noch erleben: 1995 war eine zunächst in Kalifornien und New York gezeigte Retrospektive auch in der Schweiz zu sehen, wo er nun ebenfalls als ein wegweisender Vertreter der Moderne akzeptiert wurde. Vor wenigen Wochen feierte ihn dann die «New York Times» in einem grossen Porträt, und fast gleichzeitig erschien ein prachtvolles Album* zu seinen beiden eigenen Häusern in Palm Springs. Frey hätte auf Grund seiner grossen Begabung zweifellos eine führende Figur der internationalen Architekturszene werden können. Doch hatte er es vorgezogen, als regionaler Architekt zu wirken. Auch darin spiegelt sich letztlich etwas von seiner Grösse als Mensch und Künstler.

4. Dezember 1998 Neue Zürcher Zeitung

Parvenu-Architektur?

Berlin und der Traum von der «Europäischen Stadt»

Noch vor dem zehnten Jahrestag des Mauerfalls will sich die deutsche Regierung im Laufe des kommenden Jahres in Berlin einquartieren. Auf den ungezählten Baustellen der Stadt fiebert man dem Ereignis entgegen. Während im Zentrum architektonisches Mittelmass vorherrscht, entstehen in Kreuzberg und am Stadtrand einige vielversprechende Bauten.

Eine riesige Shopping Mall mit Vergnügungszentrum nicht auf der grünen Wiese, sondern im Herzen einer europäischen Grossstadt, das sieht man selten. Zu finden ist diese Rarität in Berlin, genauer am Potsdamer Platz. Seit dieser – obwohl noch lange nicht vollendet – vor zwei Monaten offiziell eröffnet wurde, drängen sich hier die Schaulustigen. Kasino, Imax-Kino und Geschäfte rund um den neugeschaffenen Marlene-Dietrich- Platz vermitteln schon jetzt einen Eindruck davon, wie die Stadt des postindustriellen Zeitalters aussehen könnte. Der neue Stadtteil beschwört das Science-fiction-Bild einer klinischen, von mächtigen Konzernen verwalteten City. Die hochverdichteten, zum lockeren Berliner Stadtgefüge kontrastierenden Baukomplexe des fast fertiggestellten Debis-Areals, des seiner Vollendung entgegensehenden Sony-Blocks und des geplanten ABB-Häuserbandes geben sich im Niemandsland zwischen Kulturforum, Tiergarten und Leipziger Platz fast so hermetisch wie gewisse privat kontrollierte Malls in Los Angeles.


«Hier ist Berlin»

Dieser Eindruck wird nicht zuletzt durch die Künstlichkeit der Neuanlage geweckt. Fast scheint es, als werde hier die Berliner Formel von der «Rekonstruktion der europäischen Stadt» mit den Mitteln von Disneyworld umgesetzt. Um diesem Eindruck entgegenzuwirken, werben nun die Macher mit der Beschwörungsformel «Hier ist Berlin». Doch dem pulsierenden Berlin begegnet man nicht auf dieser «grössten Baustelle Europas», sondern wohl eher rund um den Kurfürstendamm. Das Leben am Potsdamer Platz wird vor allem durch flanierende Touristen geprägt, die das Werden einer Stadt am Ende unseres Jahrhunderts mitverfolgen wollen. Wohl nie und nirgends war Architektur so populär wie gegenwärtig in Berlin – und dies, obwohl das meiste, was sich aus den Bauhüllen schält, von ernüchterndem Mittelmass zeugt. Gewiss, Renzo Pianos fein komponiertes Debis-Hochhaus am Landwehrkanal darf sich sehen lassen. Doch seine anderen Bauten sind mit ihren Terracotta-Fassaden zu penetrant, um als diskrete Strassenfassungen zu dienen, und gleichzeitig zu banal, um als baukünstlerische Statements gelten zu können. Moneos Hotel mit dem altrosa Steinkleid dagegen kommt kaum über reine Kommerzarchitektur hinaus, und Rogers Zwillingshäuser vermögen ihre Extravaganz nicht mit dem Berliner Baukörper- und Traufhöhenkult zusammenzubringen.

Am Potsdamer Platz selbst, der wohl nie mehr als ein Hochhauswinkel an einer zugigen Strassenkreuzung sein wird, wagt Kollhoffs weinroter Klinkerturm einen Flirt mit dem Expressionismus, während Jahns gläserner Sony-Tower von amerikanischen Glitterwelten kündet. Am besten erfassen lassen sich die pharaonischen Dimensionen des Gesamtprojekts, zu dem vor fünf Jahren der erste Spatenstich getan wurde, vom Dach der Infobox, einem Ausstellungsprovisorium von Schneider & Schumacher, das anders als viele der auf Dauer errichteten Bauten das Lob der Kritiker gefunden hat. Von hier oben erscheint die im Schatten der tanzenden Krane entstehende Architektur wie das permanent sich verändernde Bühnenbild zum Stück «Wir bauen eine Stadt».


Banalitäten von Stararchitekten

Nach Norden geht der Blick zum Brandenburger Tor und zum Regierungsviertel. Ein Gewirr von Baumaschinen verweist auch dort auf die Schnelligkeit des Wandels. Während sich Fosters Kuppel über dem schwerfälligen Reichstagsgebäude wie ein zu klein geratenes Spitzenhäubchen ausnimmt, bemühen sich die Regierungsbauten von Axel Schultes im Spreebogen, allen voran das auf Louis Kahn verweisende Kanzleramt, um Monumentalität. Noch darf man gespannt sein, ob diese hohle Geste durch den neuen Lehrter Bahnhof, von dem jenseits der Spree erst ein riesiger Aushub zu sehen ist, entlarvt wird: Hier ist – wie fast allenthalben in Berlin – weniger eine Stadt der Zukunft als vielmehr des urbanistischen und architektonischen Konservativismus im Entstehen. Ähnlich rückwärtsorientiert wirkt Josef Paul Kleihues' «kritische Rekonstruktion» des Pariser Platzes mit den beiden das Brandenburger Tor rahmenden Häusern Sommer und Liebermann, auch wenn nicht Nostalgie, sondern eine rationalistische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes hinter diesem Vorhaben steht. Gleiches kann man vom Bankpalast des Büros von Gerkan, Marg & Partner kaum und vom neuen Hotel Adlon schon gar nicht sagen. Auch die Projekte von Gehry und Portzamparc, die bald mit introvertierter Exzentrik, bald mit irritierenden Grossformen kokettieren, werden wohl keine Meisterwerke werden. So kann man nur hoffen, dass das von Günter Behnisch geplante gläserne Akademiegebäude dem unter einem zu grossen Erwartungsdruck leidenden Platz einen Akzent verleihen und so ein Gegengewicht zur hier vorherrschenden Mimikry-Architektur schaffen wird.

Mit Sicherheit aber wird Behnischs Akademieneubau jener steinernen Schwere entgegenwirken, welche die «Linden» heute erstarren lässt. Dieser stumpfen Versteinerung kommt der unlängst vom neuen Staatsminister für Kultur, Michael Naumann, geäusserte Wunsch entgegen, am anderen Ende des Prachtboulevards das Schloss wenn möglich wiedererstehen zu lassen. Damit würde das Berliner Bauen endgültig zu jener Geschichtsfälschung verkommen, gegen die sich ein anderer Palast, Mäcklers Lindencorso, zur Wehr setzt: Hier am Eingang zur Friedrichstrasse wurde der Versuch gewagt, eine klassische Steinfassade mit der Sprache der Moderne zu versöhnen. In der Friedrichstrasse selbst zeigt sich dann aber, wie wenig edel polierter Stein im Grunde zum Gesicht der Berliner Strassen passt. Sogar die sorgsam proportionierten, selbsttragenden Steinmauern von Kollhoffs Doppelbau können ihre Noblesse nur im Dialog mit den lokal verankerten Putzfassaden entfalten.

Die hohen, oft allzu sklavisch angewandten Auflagen zur «Fortschreibung der europäischen Stadt» haben hier die Entstehung eines städtischen Ambientes kaum gefördert. Selbst Nouvels schwarzer Glasschrein der Galeries Lafayette, der das Erbe Mendelsohns neu zu interpretieren sucht, schafft es nicht, gegen die steinglänzende Tristesse der Friedrichstrasse anzukommen. Wer von Rossis buntem Schützenstrasse-Quartier mit seiner papierenen Kopie der Hoffassade des Palazzo Farnese die Rettung erhoffte, wird ebenfalls enttäuscht. Weit besser auf die Realität ging da Philip Johnson mit seiner Verballhornung der neuen Berliner Parvenu-Architektur ein. Der absichtlich banal ausgeformte Bau thematisiert aber auch, wie sich die Architekten am Pariser Platz und an der Friedrichstrasse kleinlaut von ihren Visionen verabschiedeten.


Hoffnungsschimmer am Rand

An der Kantstrasse in Kreuzberg, jenseits des einstigen Checkpoints Charlie, trifft man dann doch noch auf einen Neubau, der mehr ist als ein Hoffnungsschimmer: Es handelt sich dabei um die Restaurierung und Erweiterung der GSW- Hauptniederlassung durch Matthias Sauerbruch und Louisa Hutton. Die fast vollendete Collage, bei der ein graues, wohlproportioniertes Hochhaus aus dem Jahre 1961 von einer gleich hohen Scheibe und einem ovalen Schwebekörper gefasst wird, überzeugt durch Farbenspiele, Form und ökologisches Engagement. Man möchte sie zusammen mit dem nur wenige hundert Meter entfernten Blitz des Jüdischen Museums von Libeskind und Heckers Galinski-Schule zu den raren neuen Meisterwerken der Stadt zählen.

Sonst aber scheint sich in Berlin die Regel zu bestätigen, dass die Qualität der Bauten mit ihrer Distanz vom Zentrum zunimmt. So stehen in der cityfernen Wissenschaftsstadt Adlershof in Treptow gleich mehrere interessante Neubauten in enger Auseinandersetzung mit vorbildlichen Restaurierungsprojekten. Vom neuen Selbstbewusstsein des Viertels zeugen die – architektonisch allerdings belanglosen – «Treptowers». Sie künden von der Aufbruchstimmung im Osten, aber auch davon, dass Berlin schon immer viele Zentren mit eigenen Entwicklungsmerkmalen hatte. Eines davon ist und bleibt Charlottenburg. Dort wurde neben dem Kant-Dreieck von Kleihues an der Fasanenstrasse gerade erst Nicholas Grimshaws Ludwig-Erhard-Haus fertiggestellt, ein von den Berlinern liebevoll «Gürteltier» genanntes Gebäude, das leider allzu viele Konzessionen an die Blockhaftigkeit machen musste. Eingreifende Veränderungen finden zurzeit aber auch rund um den Kurfürstendamm statt, wo Helmut Jahn mit einem gigantischen Block das legendäre Café Kranzler bedrängt. Schlimmer noch ergeht es Werner Düttmanns erst knapp 30 Jahre altem «Ku'damm-Eck», einem wichtigen Zeitzeugen, der dem Abbruch geopfert wird. Die jüngst nach Westen übergeschwappte Baueuphorie soll aber noch höhere Wellen schlagen: in der dereinst von Hochhäusern dominierten City West rund um Eiermanns Gedächtniskirche.

Berlin muss gegenwärtig viele Eingriffe in den Stadtkörper verkraften. Doch war die Stadt seit je eine geduldige Patientin. Schöner ist sie durch all die Implantate zwar nicht geworden, aber mit ihrem eigenwilligen Charakter kann sie durchaus neben der Noblesse von Paris und der Bellezza Roms bestehen. Nur sollte sie jetzt nicht den Fehler machen, so sein zu wollen wie ihre mit einer reicheren architektonischen Mitgift ausgestatteten Schwestern. Berlin mit seinen Brachen und Autobahnen entsprach nie wirklich der klassischen europäischen Stadt. Die vergleichsweise junge Metropole war und ist in ihrem an einen grob zusammengenähten Flickenteppich erinnernden städtebaulichen Layout und in ihren architektonischen Unebenheiten oft den US-Städten näher. Zum Glück ist das urbanistische Kapital der Stadt so gross, dass selbst das fragwürdige Streben nach der «europäischen Stadt» ihre Eigenart nicht wirklich gefährden kann.

1. Dezember 1998 NZZ-Folio

Gläserne Amöben in der Vorstadt

Berlin befand sich nach der Wende in einer Euphorie, an der die Baukunst grossen Anteil hatte. Doch nun erkennt die Stadt, dass all die eingeflogenen Architektenstars kaum Meisterwerke hinterlassen haben. Selbst am kürzlich mit viel Lärm eingeweihten, aber noch nicht vollendeten Potsdamer Platz vermag bisher nur Renzo Pianos Debis-Hauptquartier mit seinem fein proportionierten Turm verhaltene Begeisterung zu wecken. Wer nach wirklich Neuem sucht, wird sich deshalb auch nicht im Zentrum der Metropole, sondern an deren Peripherie umsehen: etwa in Adlershof. Dort, im Südosten Berlins, wird rund um den vor 90 Jahren eröffneten ehemaligen Flugplatz Johannisthal, einen frühen Hort der deutschen Luftfahrt, ein neuer Stadtteil gebaut.

Nun wird das von den Nazis und vom DDR-Regime einst streng abgeschirmte Hochsicherheitsgebiet mit seinen Forschungsbauten und Fernsehstudios zur Wohn- und Wissenschaftsstadt des 21. Jahrhunderts verdichtet. Dabei soll auch hier die in der Innenstadt erprobte Formel der Hofrandbebauung zum Tragen kommen, die allerdings - solange die soziale Infrastruktur fehlt - das Entstehen einer funktionierenden Stadt allein nicht garantieren kann. Obwohl die einengende urbanistische Auflage bis jetzt meist eingehalten wurde, sind einige interessante Bauten entstanden, das elegante Umwelttechnologiezentrum von Eisele & Fritz, der exzentrische Informatikbau des Delfter Büros Cepezed sowie eine Anlage, die aus dem Rahmen fällt: das Photonikzentrum der gut 40jährigen, in Berlin und London tätigen Architekten Matthias Sauerbruch und Louisa Hutton.

Ihre beiden gläsernen Amöben kommen einer Absage an den strengen Hofrandraster gleich. Zudem erheitern sie mit ihrem Farbenspiel den historisch belasteten Ort. Der Doppelbau ist das Ergebnis eines Wettbewerbs, der - als Ergänzung der von Alfred Kraus um 1960 errichteten Forschungspavillons - vier neue Häuser vorschrieb. Der Auftrag wurde unter den bestrangierten Büros aufgeteilt, wobei für die beiden etwas dürr geratenen Kuben, die die kleine Anlage von Kraus abschliessen, das Wiener Büro Ortner & Ortner verantwortlich zeichnet. Sauerbruch & Hutton hingegen errichteten im angrenzenden Strassenzwickel zwei organische Baukörper. Deren auf den ersten Blick recht willkürlich anmutende Wellenfassaden erinnern stark an Norman Fosters frühes Bürogebäude in Ipswich und vermitteln zwischen den Kraftlinien, die hier der städtebaulichen Textur eingeschrieben sind.

Zwei gegeneinander abgewinkelte Rastersysteme prägen denn auch die beiden durch einen unterirdischen Gang miteinander verbundenen Bauten: die eingeschossige, für Grossversuche bestimmte Werkhalle und den dreigeschossigen, in seinen Dimensionen nur schwer zu fassenden Gewerbebau. Mit seiner amorphen Form nimmt letzterer Rücksicht auf den Baumbestand und erfüllt zugleich die an ihn gestellten funktionellen Anforderungen: Der eigenwillige Grundriss und die Anordnung der farbig bemalten Doppelträger in der zweischaligen Glashülle ermöglichen unterschiedlich grosse Räume mit vielgestaltigen Bereichen - vom völlig abgedunkelten Forschungslabor über die Werkstatt bis zum lichtdurchfluteten Büro. Damit können die Wünsche der hier auf dem Gebiet der Lichttechnik forschenden Jungunternehmen auf geradezu ideale Weise erfüllt werden.

Am Bau selbst wird der Forschungsgegenstand Licht gezielt thematisiert: etwa als Farbspektrum, das in der Art eines vielfach gebrochenen Lohse-Gemäldes die gläserne Aussenhaut dominiert. Vor allem aber triumphiert das Licht in der Eingangszone. Mit ihrer skulpturalen Inszenierung der frei angeordneten Pfeiler und des Schlangenbands der Treppe bricht sie kristallin aus der gekurvten Hülle aus. Von diesem hellen Bereich gelangt man in düstere Korridore, die gleichsam als Rückgrat des Gebäudes zu den einzelnen Mieteinheiten führen. Dabei quert man einen ovalen, durch schwebende Treppen erschlossenen Lichthof, der entfernt an die Kommandobrücke eines Raumschiffs erinnert. Diesem futuristischen Ambiente antwortet die Dachlandschaft: Dort nämlich bilden die von unten kaum sichtbaren Versorgungsinstallationen einen «Garten der Technik» mit Blick auf das einstige Flugfeld.

Dank seiner bildhaften Sprache wird der nach ökologischen Gesichtspunkten realisierte Bau zur Identifikationsfigur, der es gelingt, eine urbanistisch sensible Stelle in «eine Adresse» zu verwandeln. Mit seiner verspielten Ernsthaftigkeit und fortschrittlichen Technologie verweist das Gebäude auf ein weiteres Werk der Architekten: die im Bau befindliche Erweiterung der GSW-Verwaltung in Kreuzberg.

Beide Arbeiten zeugen davon, dass das von Koolhaas und den Smithsons inspirierte Team - das wohl interessanteste seiner Generation in Deutschland - viel von Städtebau und Kunst versteht. Das Photonikzentrum jedenfalls demonstriert eindrücklich, wie Sauerbruch & Hutton mit Form, Farbe, Licht und Transparenz dynamische Volumen zu schaffen wissen, die eine geistreiche Antwort darstellen auf den diskreten Charme der fünfziger Jahre, der von den restaurierten Nachbarbauten ausgeht.

1. Oktober 1998 NZZ-Folio

Ein Wal am Finnischen Meerbusen

Innovative Architektur hat es in New York schwer: Selbst die kreativsten Büros können in Manhattan kaum mehr als Umbauten oder Inneneinrichtungen realisieren. So muss man denn nach Skandinavien reisen, um den seit Jahren wohl interessantesten Bau eines New Yorker Architekten im Original zu sehen. Es handelt sich um das «Kiasma» genannte Museum für zeitgenössische Kunst in Helsinki von Steven Holl. Anders als die Bauherren am Hudson, die ihren eigenen Stars misstrauen und lieber auf kommerzielle Formen setzen, zeigten die für ihre architektonische Kultur bekannten Finnen Mut zum Ausgefallenen, als sie im Wettbewerb von 1993 dem damals 46jährigen Amerikaner den ersten Preis zuerkannten.

Holl schlug für die Spitze des Kulturviertels am Südufer des Töölönlahti, das zwischen Eliel Saarinens Hauptbahnhof und Aaltos Finlandia-Halle gegen das Stadtzentrum vorstösst, einen Neubau vor, der sich ganz aus dem Ort und den ihm innewohnenden topographischen, urbanistischen und kulturellen Kraftlinien entwickelt. Ein orthogonaler und ein organischer, an den Rücken eines Wals erinnernder Baukörper überlagern sich - diagonal durchdrungen von einem Pool - wie der Zeig- und Mittelfinger der rechten Hand. Die Bezeichnung Kiasma, hergeleitet vom x-förmigen griechischen Buchstaben Chi, steht aber nicht nur für den Grundriss des Gebäudes. Sie verweist auch auf das für diesen Bau (wie für Holls Arbeiten generell) entscheidende Überblenden von Bildern, Formen und Ideen. Diese «hybride Architektur» oszilliert zwischen Kargheit, fernöstlicher Sensibilität und skulpturalem Minimalismus, zwischen Expressionismus und Konstruktivismus, aber auch zwischen Le Corbusier, Aalto und Scarpa.

Entstanden ist ein Neubau mit vielen Gesichtern, der bei Tag mit seiner lichtatmenden Haut aus Zinkblech, Glas und Aluminiumplatten wie eine gigantische Skulptur, nachts aber wie ein magischer Leuchtkörper in Erscheinung tritt. Mag die etwas gesuchte Aussenform bei Puristen Vorbehalte wecken, so generiert sie im Innern doch Räume von ungeahnter Suggestivität.

Durch vergleichsweise niedrige und schwere Glastüren gelangt man in den Eingangsraum mit Kasse, Garderobe, Buchshop und Café. Das von den beiden Baukörpern gefasste Foyer öffnet sich bis zum verglasten Oberlicht, verengt sich aber gleichzeitig zur Tiefe hin schluchtartig. Dort gelangt man - unter Passerellen hindurch - einerseits zum Auditorium und zu den Verwaltungsräumen, anderseits in einen vertikalen Schacht, wo piranesiesk übereinander getürmte Treppen und Stege zum Ausstellungsbereich führen. Den Hauptzugang zu den Museumsräumen gewährt aber eine sanft ansteigende Rampe im Foyer. Über vier Halbgeschosse sind die Ausstellungsebenen im Uhrzeigersinn um den zentralen Lichthof verteilt. Eine filmartige Weginszenierung trägt einen gleichsam wie in Trance durch diesen espace fluide. Introvertierte Räume wechseln ab mit postkartenartigen Ausblicken; und immer von neuem gelangt man auf die skywalks in der Halle, wo ein ähnliches Sehen und Gesehenwerden herrscht wie auf der Schneckenrampe von Wrights New Yorker Guggenheim-Museum. Meisterhaft gelingt es Holl hier, die Idee der promenade architecturale zu einem architektonischen Erlebnis zu steigern, vergleichbar nur mit Gehrys neuem Museum in Bilbao.

Mit viel Sensibilität für Licht und eine dezente Farbigkeit hat Holl ein architektonisches Kunstwerk geschaffen, das die Besucher ebenso in seinen Bann zieht, wie es die Exponate tun. Doch die eigenwilligen, bald an Höhlen, bald an den Bauch eines Riesenfischs gemahnenden, von exzentrischen Oberlichtern, sachlichen Seitenfenstern oder verborgenem Kunstlicht erhellten Ausstellungssäle erweisen sich als durchaus geeignet für die Präsentation raumgreifender zeitgenössischer Werke. Die traditionelleren Räume im orthogonalen Bauteil lassen hingegen Malerei und Fotografie zu ihrem Recht kommen. Im inneren Raumgefüge wie im äusseren Erscheinungsbild führt Holls phänomenologische Strategie einer Collage of Images zu ebenso bildhaften wie enigmatischen Resultaten, die immer wieder auf ein frühes Schlüsselwerk in seinem Schaffen verweisen: das vor zehn Jahren in Form eines Walgerippes als Hommage an Melvilles «Moby Dick» erbaute Haus auf Martha's Vineyard.