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Vom Schalentier zum Wirbeltier
Neue Zürcher Zeitung

Eine Ausstellung zur Betonarchitektur in Paris

28. April 1999 - Hans Hartje
Beton als Bausubstanz ist in den Grossstädten ein so selbstverständlicher Anblick, dass die Idee einer Architekturausstellung zu diesem Thema zuerst allzu diffus erscheint. Bezogen auf die Pariser Stadtlandschaft allerdings erweist sich die Beschäftigung mit diesem modernen Baumaterial als durchaus erhellend. Das werden sich auch die Verantwortlichen des Pavillon de l'Arsenal gesagt haben, als sie sich zum Abschluss ihrer Ausstellungsreihe zur Pariser Ziegelstein-, Holz-, Eisen- und Glasarchitektur des Betons angenommen haben.

Dem flüchtigen Betrachter der Ausstellung ergeht es dabei zunächst nicht anders als dem zerstreuten Flaneur in der Stadt: Er nimmt auf Anhieb gar nicht wahr, wie wenig dieser allgegenwärtige Baustoff sich von selbst versteht. Bei näherem Hinschauen jedoch - und bei der Lektüre des enzyklopädisch angelegten Katalogs - fällt es ihm gleichsam wie Schalholz von den Augen: Die Erfindung des Betons hat «das gesamte Baugewerbe revolutioniert» (Pier-Luigi Nervi). Mit ihm erst hat sich die menschliche Bauform, um mit Raymond Fischer zu sprechen, aus dem Stadium des Schalentiers mit aussenliegendem Skelett zum innengestützten Wirbeltier weiterentwickelt.

Wie nebenbei erfährt man in der Folge dieses grundlegenden Aha-Erlebnisses den Unterschied zwischen Zement und Beton, versteht den Zusammenhang zwischen Druck- und Zugfestigkeit (Stichwort Stahl- und Spannbeton), nimmt mit Staunen zur Kenntnis, dass Architekten und Ingenieure es bis heute auf über 2500 Spielarten dieses so elementaren wie polymorphen Baustoffs gebracht haben: ein Allerweltsmaterial im wahrsten Sinne des Wortes. Dass die Ausstellung in Paris stattfindet, hat auch historische Gründe. Der Beton ist 1818 in Frankreich erfunden worden (von Louis Vicat). Franzosen (Lebrun, Lambot, Monier - daher der auch im Deutschen so genannte Monierbeton) haben die grundlegenden Techniken seiner Verarbeitung erfunden, und François Coignet hat 1867 in Paris das erste Hochhaus aus Beton errichtet. Seine erste Hochkonjunktur erlebte der Beton sodann dank dem Bauunternehmer François Hennebique, der zwischen 1892 und 1902 über 7200 Betonbauten errichtete. In der Folge lassen sich für Paris drei grosse Phasen unterscheiden: die zwanziger Jahre, in denen Beton gleichbedeutend steht für Modernität (Perret, Le Corbusier, Lurçat und Mallet-Stevens); die «Trente Glorieuses» (1945- 1975) des (nicht nur französischen) Wirtschaftswunders, in denen schnell und billig viel und hoch gebaut wurde, mit dem Resultat des miserablen Rufs, in dem Beton heute noch steht; die achtziger Jahre schliesslich, in denen in der französischen Hauptstadt nicht zuletzt dank der «Grands Travaux» von Präsident Mitterrand so spektakuläre Bauten wie die «Grande Arche», das Foyer des Louvre unter der Glaspyramide von Pei oder das «Stade Charlety» von Henri und Bruno Gaudin entstehen. (Bis 31. Mai)

[Katalog: Le Béton à Paris. Hrsg. Bernard Marrey und Franck Hammoutène. Ed. Pavillon de l'Arsenal/Picard, Paris 1999. 224 S., fFr. 280.-.]

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