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Das Ende der Stars
Spectrum

Gut zwei Monate läuft sie noch. Aber schon jetzt steht fest: Diese Architekturbiennale von Venedig stellt eine Zertrümmerung der gewohnten Szene dar – danach wird nichts mehr so sein, wie es davor war. Eine Bilanz.

17. September 2016 - Peter Reischer
„Architektur gibt den Orten, an denen Menschen leben, eine Form. Solange diese Form nicht die Basisbedürfnisse eines Großteils aller Menschen auf der Welt abdecken kann, ist das Entwerfen von Architektur nur Unterhaltung.“
Alejandro Aravena, Venedig 2016

Die Architekturbiennale in Venedig gibt immer – mit ihrem Thema – die Richtung für die nächsten Jahre in der Architektur vor. Mit „Reporting from the Front“ bringt der chilenische Architekt und Kurator Alejandro Aravena die Architektur endlich dorthin, wo sie schon lange sein sollte: in die wirkliche Realität, an die Front zu den Menschen. Und ein Bericht von der Front muss immer aktuell sein, er muss den Krieg – bildlich gesprochen – in diesem Fall mitbringen, er muss auch „in der Zeit“ sein. Deshalb sind manche Aussagen, Bilder und Beiträge in Venedig auch (fast) schmerzlich, sie führen zum Versuch des (nur) oberflächlichen Betrachtens, des Verdrängens, des Abhakens. Eine Vorgangsweise, die zwar im psychologischen Sinn verständlich, jedoch im Sinne einer systemischen Aufarbeitung falsch ist. Mehrere Kuratoren vor ihm hatten sich schon an eine Erneuerung der Szene gewagt – allein, scheinbar war die Zeit nicht reif dafür. Jetzt ist sie es: Bürgerbewegungen, Umweltkrisen, Kriege und Migrationsprobleme haben den Boden bereitet.

Aravena fokussiert sich in seinem Thema auch auf diese, die größten Probleme unserer Welt, unserer Gesellschaft: Das umfasst Verbrechen, Segregation, Armut, Abfall, Wohnraumverknappung, Verkehr und Umweltschäden genauso wie Technikhörigkeit und Effektivitätswahn. Er hat die „Fundamentals“ von Koolhaas (2014) gut studiert, sie um die Dimension des Sozialen in der Architektur erweitert und seine Conclusio daraus gezogen. Und er hat die Gunst der Stunde nicht nur jetzt im Moment, sondern schon jahrelang genutzt. Seine „soziale“ Architektur in Lateinamerika hat ihn – unter anderem – zum Pritzkerpreis 2016 befördert. Auch die Entscheidung der Preisjury, einen knapp 48-jährigen in die Reihe der (im Schnitt) über 65-jährigen Preisträger einzufügen, zeugt von einer bewussten oder auch unbewussten Revolution, einem geistigen Wandel. Die Menschen haben das Alte – nicht nur in der Politik – satt.

Aravenas diesem Beitrag vorangestelltes Zitat sagt eigentlich schon alles. Das kam auch in der bei der Eröffnungspressekonferenz im Teatro Piccolo gehaltenen Rede klar zum Ausdruck. Sinngemäß formulierte er, dass es bei der Ausstellung nicht um Quantitäten und Größen, sondern um die Qualitäten der Besuche ginge. So erhalten auch die vielen klein geschriebenen Texte und Erläuterungen auf den einzelnen Erklärungstafeln einen anderen, einen neuen Sinn. (Es waren übrigens einfache Kartontafeln in A3-Größe, mittels eines Loches auf einem 10er-Baustahlstab, der wiederum in einem Lochziegel steckte, angebunden und aufgehängt. Minimaler Aufwand mit maximaler Wirkung.)

Prozess wichtiger als das Resultat

Der Besucher soll Wissen beim Durchschreiten der Ausstellung erhalten, nicht Erlebnisse genießen. Dem Kurator ist offensichtlich der Prozess wichtiger als das Resultat. Deshalb beginnen auch die Texte bei den Projekten – wohlweislich – mit „The work of . . . in . . .“.

Es geht Aravena nicht – so seine eigenen Worte – um einen absoluten, sondern um den relativen Erfolg, diesen wollte er auch durch die Auswahl der Teilnehmer erzielen. Er betonte, dass er bei deren Auswahl keineswegs große Namen und Architekten habe ausschließen wolle – sie seien willkommen, solange ihre Projekte Wissen und Intelligenz enthielten. Die (wenigen) großen Namen, die man in Venedig unter den Ausstellern trotzdem finden konnte, fügen sich auch in das Gesamte, in das Thema der Biennale ein. Diese Beiträge waren dann – vergleichsweise, vom Aufwand (nicht vom Inhalt) gesehen – eher bescheiden.

Auch die Tatsache, dass auf Aravenas Ruf hin innerhalb kürzester Zeit viele Beiträge von bis dato unbekannten Kollektiven nach Venedig gelangten und ein insgesamt stimmiges, auch nachdenklich stimmendes Event produziert wurde, passt in das Motto „Reporting from the Front“. Als Kurator forderte Aravena die teilnehmenden Aussteller nämlich mit dem Slogan „What is your battle?“ heraus, Stellung zu beziehen, und erreichte dadurch eine sehr breite Darstellung der Probleme der Architektur. Er lässt junge, in Fachkreisen zwar bekannte, aber trotzdem noch No-name-Architekten und Gruppierungen zu Wort kommen. Die Arbeiten der Beiträge sind nicht nach „gelungen oder nicht gelungen“ zu beurteilen, wichtig ist die Tatsache der Ablöse des Architekturestablishments durch neue, junge und interessierte Akteure.

Man konnte dieses Phänomen auch an der Zusammensetzung des Publikums bei den Preview-Tagen und der Eröffnung erkennen: Hauptsächlich junge Menschen tummelten sich in Venedig, die bekannten, saturierten Gesichter fehlten (bis auf wenige Ausnahmen) völlig. Das Thema hatte eben jene Menschen angezogen, die es in der nahen Zukunft betreffen wird. Das Fehlen von „Stars“ bei Pressekonferenzen und Veranstaltungen war augenscheinlich. Aravena sprach in seinem Statement auch von der Ermutigung der Nutzer, vom notwendigen Enthusiasmus, mit dem wir unsere (auch gebaute) Umwelt betrachten müssen. Die Nutzer sollten wieder ermächtigt werden, von Politikern, Entscheidungsträgern und Architekten Qualität verlangen zu können.

Auch das ist eine Ebene, auf der oder mit der man die Biennale betrachten kann. Sich beschweren und anklagen – meinte er – sei nicht genug, man müsse etwas tun. Das „Business as usual“ muss sich in eine andere Richtung entwickeln. Denn es geht nicht um Gewinn, sondern um eine Verbesserung der Lebensqualität in der Architektur. Als eine der größten Gefahren für die Welt formulierte er in seinem Statement die Gier nach privatem Profit – und dass man die gebaute Umwelt nur als Geldmaschine betrachtet. Analogien zu gewissen Vorgängen und Bauprojekten in Wien sind sicher nicht beabsichtigt, aber doch bemerkenswert. Diese Biennale stellt eine Zertrümmerung der gewohnten Szene dar, danach wird nichts mehr so sein wie zuvor.

Schon der Eingangssaal ins Arsenale kündete von einer neuen Haltung zur Architektur, zum Gebauten. Der Kurator hat hier eine eindrucksvolle Inszenierung geschaffen: Der Besucher ist mit Abfall, mit Müll konfrontiert, aber in einer durchaus ästhetischen Formierung. 14 Kilometer Aluminiumstreifen hängen – mehr oder weniger verbogen – von der Decke herab. 10.000 Quadratmeter kunstvoll gefügter Reste von Gipskartonplatten bilden die Wände, ausgespart sind Öffnungen für Videomonitore. Dieses Material ist wiederverwertetes Abbaumaterial der vorigen Biennale, insgesamt 100 Tonnen Abfall. Aravena hat die vorige Biennale recycelt! Beim weiteren Durchwandern und Studieren der Räume wird man immer wieder mit Unangenehmem, mit Ungleichheiten und Ungerechtem, aber auch mit überraschend einfachen und ästhetischen Lösungen komplex wirkender Probleme konfrontiert.

Es soll hier ganz bewusst kein einzelner Beitrag herausgehoben werden, das würde die Türe, die Aravena aufgestoßen hat, wieder ein Stück schließen. Es geht auch nicht darum, es ohnehin schon immer gewusst oder gesagt zu haben; all solche Versuche zeigen nur eines, nämlich die Unfähigkeit, Wahrheiten ins Auge zu blicken. Dazu gehört auch das Versagen der Ausbildung, das Versagen der Universitäten, die immer noch dem Starkult huldigen, statt Zeichen der Zeit zu erkennen. Wir werden uns von geläufigen Maßstäben in der Architektur verabschieden müssen, Ungewohntes wird uns bald gewohnt erscheinen, klein ist besser als groß, und kurze Bauzeiten zählen dann nicht mehr als Leistung, sondern als unnötige Attribute einer veralteten Effizienzphilosphie.

Manche Pavillons auf den Giardini, wo man sich teilweise (oder schon fast traditionell) dem Allgemeinthema entzog und wieder einmal der Bespiegelung der eigenen Größe und Macht huldigte, fielen fast unangenehm in der Gesamtatmosphäre auf. Aber es gab auch Sternschnuppen. Viele der Beiträge/Anregungen stammen aus Lateinamerika – das ist jedoch keineswegs einem möglichen Patriotismus des chilenischen Architekten geschuldet, sondern zeigt nur, dass man in Ländern, die nicht dem westlichen Standard anhängen, vielleicht schon weiter im Denken über Alternativen zum Gewohnten ist als in der Heimat der Stars. Vielleicht haben ja auch die Großen hierzulande die Kleinen erdrückt oder verhindert – wer weiß?

Der Mut des Kurators

Diese Architekturbiennale war ein Lernprozess für jeden Besucher, auch für Journalisten, sie war kein Konsumartikel. Sie forderte heraus. Man durfte nie die Geduld verlieren, musste lesen, nachdenken und auch mit den Anwesenden sprechen. Wer an den einzelnen Stationen nicht fragte, blieb auf der Strecke. Vor allem sollte man Aravena Anerkennung für seinen Mut zollen, denn den braucht es als Kurator sicherlich, solch ein Thema vorzugeben und dann mehr oder weniger stringent durchzuhalten. Es ist eigentlich irrelevant, was man als Besucher, Architekt, Journalist oder Kritiker über die diesjährige Architekturbiennale in Venedig denkt und schreibt – sie bedeutet auf jeden Fall einen Bruch in der Geschichte der Architektur und deren Biennalen.

Als Journalist oder Architekturkritiker sollte man angesichts dieser wegweisenden Leistung und dieses Mutes nicht versuchen, mit formalistischen und besonders gelungen Wortschöpfungen zu reüssieren. Warum denn nicht einmal über den eigenen Schatten springen, Kritik in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes, im Unterscheiden (krínein) begreifen und dann ein Lob aussprechen?

Es kündigt sich eine Zeitenwende an, ein Ikonoklasmus der Landmarks, der Abgang der Stars und das Verschwinden von imageträchtigen Stilen. Der Bilbao-Effekt des Guggenheim-Museums ist ja schon seit dem Platzen der großen Immobilienblase im Jahr 2008 Geschichte, und nun sind es die Stararchitekten ebenfalls. Und es stimmt gar nicht traurig, dass so vielleicht eines der vielen Enden der traditionellen Architektur eingeläutet wird. Denn nur wenn etwas endet, kann auch etwas Neues entstehen. Tod ist gleichzeitig auch Leben, ist Beginn.

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