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What you see is (not) what you get
Neue Zürcher Zeitung

Aspekte der zeitgenössischen Deutschschweizer Architektur

Für Leute, die sich den Prinzipien der klassischen Moderne verpflichtet fühlen, sind die neusten Entwicklungen in der Architektur nicht ohne weiteres zugänglich. Manche der Bauten sind unbestreitbar schön, aufregend und interessant. Aber sind sie auch sachbezogen und ehrlich, oder sind sie nur modisch, ein Zwischenspiel, das bald wieder vorbei sein wird?

10. Mai 1999 - Ueli Schäfer
An einem Industriebau von Herzog & de Meuron, den wohl konsequentesten Schweizer Exponenten der gegenwärtigen architektonischen Erneuerung, sind Pflanzenmotive von Karl Blossfeldt, einem Photographen der ersten Jahrhunderthälfte, aufgedruckt. Die Botschaft ist klar: «Was man hier sieht, ist nicht ein Gebäude. Es ist eine Dekoration. Das Gebäude ist dahinter. Es ist ganz banal, und es besteht kein Grund, es zu zeigen.» Dieses Signal, das - in dieser Lesart - für die fehlende Signifikanz des Gebäudes steht, kann ephemer sein wie dieses drucktechnisch verfremdete, reihenweise replizierte Abbild einer Pflanze, aber auch solid und quasi unzweideutig wie die Steinkorbmauer der gleichen Architekten an einer Winery im kalifornischen Napa Valley. Nicht auf den Gegenstand kommt es an, sondern auf die Art, wie er eingesetzt ist, ganz oberflächig, als Zeichen allein: «What you see is not what you get. What you get is behind it.» Oder: «What you see is all you get. The rest is insignificant.» Beide Lesarten sind möglich. Es ist am Betrachter zu entscheiden, welche für ihn richtig ist.


Sein oder Schein

An dieser Schwelle, zwischen Sein und Wirkung, verläuft zurzeit die Frontlinie der Architektur. In einem früheren Beitrag («Das Zweite Projekt der Moderne», NZZ 8. 8. 97) wurde hier zu zeigen versucht, dass es dafür zwei Arten von Gründen gibt, architekturinterne und -externe: Das Vokabular der Moderne hatte sich aus der Gestaltung des Rohbaus entwickelt. Inzwischen wurde die moderne Bauweise komplettiert. Sie ist technisch besser und vollständiger geworden, aber auch komplexer und durchschaubarer. Auch die Moderne führte Scheinkonstruktionen vor, wenn es nicht anders ging, man denke an die Fassadenstützen bei Mies van der Rohe, die die tragenden Stützen replizierten, die zum Schutz gegen das Feuer einbetoniert werden mussten. Aber sie tat es nicht freiwillig, sondern aus Notwendigkeit. Konstruktion und Form, Sein und Erscheinung, sollten sich möglichst vollständig entsprechen.

Daneben hat sich aber auch die moderne Gesellschaft weiterentwickelt. Ihr materielles Programm ist für die meisten von uns erfüllt. Jetzt suchen wir nach Zielen und Inhalten, die darüber hinausweisen. Vorher waren es, vereinfacht gesagt, Dinge, um die es uns ging, jetzt sind es Werte. Vorher war funktional zu sein so etwas wie ein Ehrentitel. Jetzt gilt es fast als vulgär, so dass man versucht ist, es hinter einer unauffälligen Gestaltung zu verstecken. Den Ehrlichkeitsfanatikern unter uns tut dies vielleicht leid. Aber viele sind auch erleichtert. Jetzt kann auch ein modernes Bankgebäude würdevoll sein. Klassische Säulen braucht es dazu nicht mehr.


Der dritte Weg

Zwischen diesen beiden Extremen, der reinen Sachlichkeit, die einfachste Bauelemente manchmal bis an die Grenze des Erträglichen hervorhob und repetierte, und der reinen Repräsentation, die irgendwann wieder Bauten jeder Realitätsnähe berauben wird, liegt aber ein Drittes, das man als ersten Ansatz bezeichnen könnte, mit allen Elementen, den funktionalen, technischen und gestalterischen, zu arbeiten und dennoch eine wahrnehmbare Gesamtform zu erhalten, die die Wirklichkeit, über die Präferenzen des Zeitgeistes hinaus, vollständig wiedergibt: Nützlichkeit (utilitas) und Schönheit (venustas), nicht dabei nur im fordernden und propagandistischen Sinn, sondern ganz selbstverständlich und für jeden sichtbar vereint.

Wenn man den Film des architektonischen Wandels der letzten zwanzig oder dreissig Jahre am inneren Auge vorbeiziehen lässt, fragt man sich, ob es diesen Moment des Ausgleichs, diesen Gipfel der Anstrengung überhaupt gegeben hat. Es ging alles so schnell. Noch sind die letzten Vertreter der alten Schule am Werk, und schon ist eine ganze neue Generation da, die die Architektur von Grund auf uminterpretiert und neu formuliert. In der Schweizer Architektur ist dieser Anspruch auf einen Ausgleich zwischen Sein und Wirkung, zwischen Funktion und Form in der Sprache der Architekten vielleicht am stärksten in den Bauten von Peter Zumthor verwirklicht, die tatsächlich eine ungewöhnlich breite Zustimmung finden. Es ist interessant, bei ihm zu sehen, wie (und ob) er mit diesem Dilemma von gestalterischer Klarheit und Einfachheit und faktischer Widersprüchlichkeit und Komplexität fertig wird.

Die ersten Bauten, die wir von ihm kennen, sind die Schutzbauten für römische Ruinen im Welschdörfli in Chur. Es sind reine Rohbauten, die nur Regen und Schnee abhalten müssen. Sie sind ausserordentlich elegant und einfach. Form und Funktion stimmen vollkommen überein. Bekannter ist die Kapelle Sogn Benedetg bei Sumvitg, die er kurz darauf realisierte. Auch sie ist noch fast ein Rohbau, mit einem einzigen, unbeheizten Raum, der, wie die Schutzbauten, ganz puristisch über eine kleine, brückenähnliche Konstruktion von aussen betreten wird. Innen ist die Tragkonstruktion allseitig sichtbar, aussen ist sie von einem rohen Schindelschirm und einem schwach geneigten Blechdach verdeckt. Beide Bauten haben eine durchsichtige, fraglose Ausstrahlung, die direkt auf den Betrachter wirkt: Was er sieht und was er bekommt, ist eins. Oder eben: «What you see is what you get.»

Vielschichtiger ist einer der nächsten Bauten, das Altersheim in Masans, vielleicht der zugleich klarste und komplexeste Bau, den Zumthor bisher erstellt hat. Alles daran sollte echt und unverfälscht sein, nichts vorgeführt oder vorgetäuscht werden. Die Aussenwände sind aus massivem Tuffstein, der wie Isoliersteine den Wärmeabfluss eindämmen sollte. Als Ergänzung sind innen teilweise Holzelemente aufgedoppelt, hinter denen wohl nachgedämmt wurde. Das flache Dach ist mit Betonrippen und -platten sichtbar und damit architekturwirksam beschwert. Holzelemente und Fenster sind sorgfältig aus Massivholz gefügt oder aus furnierten Platten so zusammengesetzt, dass ein volumetrischer, massiver Eindruck entsteht. Ergebnis ist eine grosszügige Architektur, die ganzheitlich und solid wirkt. Es ist vielleicht der beste Bau in Peter Zumthors bisherigem Werk, wenn man den Begriff einer vollständigen Architektur als Kriterium nimmt, bei der Sein und Wirkung im Gleichgewicht sind.


Verselbständigte Ästhetik

Beim nächsten grossen Bau, dem Bad in Vals, beginnen die Bauteile und die dazugehörenden Oberflächen ihre eigenen Wege zu gehen, und die Ästhetik verselbständigt sich über das strukturell Notwendige hinaus. Die Architekturform ist zwar entschiedener und strenger als bisher, aber die konstruktive Ausführung ist kompromissbereiter und weniger angespannt. Der Katalog der sichtbaren Materialien ist kleiner, jener der unsichtbaren grösser geworden. Die gemauerten Natursteinwände sind nicht mehr homogen und tragend, sondern unsichtbaren Betonwänden vorgeblendet. Die Decke ist scheinbar willkürlich in einzelne Kragplatten aufgebrochen, zwischen denen, ganz schwach, das Tageslicht hindurchscheint. Die Dacheindeckung hat ihre eigene Gestalt verloren. Statt dessen ist die grüne Wiese des angrenzenden Abhangs darüber gezogen, etwas, das bei Zumthor, der unzweideutige Aussagen allem anderen vorzieht, eigentlich überrascht.

Noch grösser ist der Sprung zum nächsten grossen Bau, dem Museum in Bregenz: Die Architekturform ist noch konsequenter, ein unbestreitbar schöner und eleganter Glaskörper, der aber jede Auskunft über seinen inneren Aufbau und seine Beziehung zum Nachbargebäude, in dem das Café, der Museumsshop und die Verwaltung untergebracht sind, und zur näheren Umgebung verweigert. Alles, was das Objekt technisch, aber auch gestalterisch vielfältig und komplex machen könnte, ist, innen und aussen, hinter der einfachen, flächigen Gestaltung versteckt. Das viele Glas sagt zwar unzweideutig, dass es hier um Tageslicht geht, aber der Preis, der für die Uniformität und Eleganz gezahlt wird, ist gross. Die im Inneren der Konstruktion verborgenen Oberlichtbänder aus Wärmeschutzglas, die die thermische und lichttechnische Nahtstelle bilden, würden allein, bezogen auf ihre Öffnungsfläche, mehr als dreimal mehr Licht durchlassen als die gesamte Konstruktion aus Schuppenverglasung aussen, Wärmeschutzglas im Oberlichtband und Glasdecke innen, bezogen auf das gesamte eingebaute Glasgewicht weit mehr als das Zwanzigfache.

Man muss die vom räumlichen Aufbau her gar nicht so unähnliche Goetz-Galerie der Architekten Herzog & de Meuron zum Vergleich heranziehen, um zu realisieren, wieviel einfacher und auch entspannter ein von der gestalterischen Qualität her vergleichbarer Bau sein kann, wenn weniger absolut und essentialistisch konstruiert wird: Es scheint, dass die Forderung nach einer durch und durch ehrlichen, soliden Bauweise, die bei der Moderne, die im Grunde nur Rohbauten gestaltete, mit gewissen Einschränkungen, die schon damals auftraten, einlösbar war, bei einer vollständigen, technisch und bauphysikalisch durchgearbeiteten Architektur nicht mehr erfüllt werden kann. Entweder leidet die konstruktive Transparenz oder die Qualität der Ausführung.


Zumthor und Utzon

Es ist interessant, an dieser Stelle eine Generation zurückzugehen und Peter Zumthor mit einem Architekten zu vergleichen, der ihm in vieler Hinsicht gleicht, mit Jørn Utzon. Beide sind Einzelgänger, die sich nicht gut einordnen lassen, und beide streben nach einer reichen, sinnlich wahrnehmbaren und vollständigen Architektur. In der Zielsetzung und im Anspruch, nicht in der Grösse und Komplexität mit dem Altersheim in Masans vergleichbar, ist Utzons Opernhaus in Sydney, das zwischen 1957 und 1973 entstand: In einer beispiellosen Tour de force sollte die geometrisch komplexe Schalenkonstruktion bis zu den Aussenfassaden, Raumtrennungen und abgehängten Decken durchgearbeitet und variiert werden. Utzon ist daran gescheitert und wurde vom Auftraggeber, der Kostenüberschreitungen und Terminverzögerungen befürchtete, vorzeitig entlassen.

In der Kirche in Bagsvaerd bei Kopenhagen, die er 1973-1976 realisierte und die in der flächigen Erscheinungsform dem Museum in Bregenz nicht unähnlich ist, hat er dann seine Konsequenzen gezogen: Die Hülle und der Inhalt sind ganz voneinander getrennt. Aussen ist das Gebäude flächig und geschuppt, innen skulptural und frei geformt. Anders als in Bregenz ist die Schichtung von innen nach aussen transparent, und alle wesentlichen Bauteile sind sichtbar. Die Architektur bleibt, nach der oben genannten Definition, vollständig. Für Utzon hat der Weg zuletzt zu zwei kleinen Häusern auf Mallorca geführt, die er für sich und seine Familie erstellte, zugleich sehr einfachen und doch hochsensiblen Steinhütten, die ganz zwanglos aus elementaren Raumformen, einem einfachen, grob geschnittenen und verarbeiteten Grundmaterial und geradezu folkloristischen baulichen und gestalterischen Zutaten zusammengesetzt sind und ein zugleich archaisches und doch modernes Ganzes ergeben.


Gegenbewegung

Zumthor ist eine Generation jünger. Ob er dereinst, wie Utzon, zur Einfachheit seiner ersten Bauten zurückfindet oder ob es eine neue, andere Einfachheit sein wird, ist seine Sache. Was können wir aus dieser Gegenüberstellung lernen? Zumthor und Utzon besteigen, so scheint es, von zwei Seiten den gleichen Berg, jenen einer vollständigen und ausgewogenen Architektur, die mehr ist als eine Zelebrierung des technisch Machbaren auf der einen und des gestalterisch und wirkungsmässig Wünschbaren auf der anderen Seite. Beim Aufstieg von der einen Seite ist die Gefahr gross, dass man mit der unausweichlich zunehmenden Komplexität nicht fertig wird und deshalb scheitert, von der andern besteht sie vielleicht darin, statt einer echten eine scheinbare Komplexität zu wählen, die Gefahr läuft, vereinfachend statt einfach, fundamentalistisch, aber nicht fundamental zu sein.

In diesem Übergang vom Machbaren zum Wünschbaren liegt ein ähnlicher Weg, wie er für die Entwicklung vom Barock bis zur Romantik nachvollziehbar ist. Zuerst dominiert das Sein, weil es das Arbeitsfeld des Neuen zu strukturieren und zu vermessen gilt, zuletzt die Wirkung, weil die Erfahrung mit dem Material, das inzwischen entstanden ist, Bilder hervorruft, die - dank dem inzwischen erworbenen Wissen - unmittelbar umgesetzt werden können und die, weil sie Bekanntes weiterverarbeiten, gut wahrnehmbar und im Vergleich zur scheinbaren Schroffheit der frühen Werke auch sehr viel allgemeiner akzeptierbar sind. Dazwischen liegt die eigentliche Klassik, in der Wollen und Können, Sein und Wirkung, Einfachheit und Komplexität sich so ergänzen, dass man, gemessen an den Ansprüchen beider Seiten, von Vollständigkeit sprechen möchte.

Für beide Phasen läuft aber auch die Zeit weiter, und die Momentaufnahme, die im Gipfel der Vollständigkeit ihren stärksten Ausdruck erreicht, entfernt sich immer mehr vom Stand, den die Emanzipation des Denkens, Empfindens und des technischen Könnens erreicht. Hinter einer Fassade der Konvention stauen sich, ähnlich wie im architektonischen Klassizismus, so viele Veränderungen, Verbesserungen und Erneuerungen auf, dass der Damm der Vereinbarungen bricht und eine neue Sprache mit neuen Inhalten entsteht.


Wirklichkeit und Erscheinungswelt

Es ist zwar nicht notwendig, dass das, was wir sehen, und das, was tatsächlich vorhanden ist, einander so unmittelbar entsprechen, wie die klassische Moderne dies forderte. Dies erscheint uns, mindestens heute, in seiner Direktheit und Unausweichlichkeit im Gegenteil oft eher uninspiriert. Andererseits ist es aber auch nicht möglich, dass die Wirklichkeit, in der wir Dinge tun, und die Erscheinungswelt, mit der wir sie darstellen, allzusehr auseinanderklaffen. Dann kommt eine Gegenbewegung, die die überholte Scheinwelt einreisst, und ein neuer Entwicklungsbogen beginnt. Dann gilt wieder, was - nicht ganz im gleichen Sinn - für den Computer selbstverständlich ist: «What you see is what you get.»

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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