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Künstlich? Natürlich?
Spectrum

Die Synthetische Biologie erschafft biologische Systeme, die nicht in der Natur vorkommen. In Form von Designprojekten stellt Spekulatives Design dazu künstlerische und gesellschaftliche Fragen.

10. Oktober 2016 - Harald Gründl
Inmitten einer hügeligen Landschaft, wo sich kleine Waldstücke mit Wiesen abwechseln, befindet sich das Feld von Gavin Munro. Hier wachsen Stühle und Lampenschirme aus Bäumen. Wer jetzt vorbestellt, bekommt seinen Stuhl in ungefähr acht Jahren, die Lampenschirme wachsen etwas kürzer. Jetzt ist alles noch grün, und durch das Blätterdickicht, das die krummen, bodennahen Gewächse bedeckt, kann die Form der zukünftigen Einrichtungsgegenstände erahnt werden. Der Möbelbauer schneidet die ausgewachsenen Stühle ab, befreit sie von Blättern und kleinen Ästen und sendet sie dann an die Kundinnen und Kunden.

Das Szenario ist nicht aus einem Zukunftsroman. Gavin Munro gibt es wirklich. Die Bäume wissen jedoch nicht, wie sie wachsen müssen, um dem Bild eines Stuhls zu entsprechen. Der Möbelbauer hilft mit, indem er die jungen Triebe an einer Hilfskonstruktion fixiert und das natürliche Wachstum des Baums in die Form eines Stuhls zwingt. Das könnte in Zukunft aber nicht mehr nötig sein, und wir könnten Pflanzen erschaffen, die sich unserer Fantasie freiwillig beugen. Synthetische Biologie, ein Fachgebiet, das im Grenzbereich zwischen Molekularbiologie, organischer Chemie, Ingenieurwissenschaft, Nanobiologie und Informationstechnik angesiedelt ist, könnte es möglich machen. Die Synthetische Biologie erschafft biologische Systeme, die in der Natur nicht vorkommen. Diese Technologie eröffnet einen Möglichkeitsraum, der über die Gentechnik hinausgeht. Mit dieser Technologie können neue, künstliche biologische Systeme erzeugt werden, die die Welt zuvor nicht gesehen hat.

Spekulatives Design nimmt sich solcher Möglichkeitsräume an und formuliert künstlerische und gesellschaftliche Fragestellungen in Form von Designprojekten daraus. Anthony Dunne und Fiona Raby sind Pioniere dieser Designrichtung. Durch die Darstellung von möglichen „Zukünften“ in Form von Objekten, Bildern oder Videos ist es möglich, technologische Entwicklungen zu antizipieren und Entscheidungen über deren Verwendung und Ausrichtung zu treffen. Damit kann Design ein wichtiger Teil von Technikfolgenabschätzung werden. Um gesellschaftlich verantwortungsvoll zu handeln, braucht es ein erweitertes Bewusstsein, nicht nur im Design. Dunne und Raby haben dazu eine Art Manifest verfasst. „A/B“ heißt es, und es fasst Einstellungen zusammen, die wir (A) jetzt haben, und die (B) wichtig sind, um Zukunft zu denken. Das Manifest hat die Form von zwei Listen, die jeweils aus einem Begriffspaar gebildet werden. Ja sagen oder kritisch sein. Probleme lösen oder Problem finden. Antworten liefern oder Fragen stellen. Design für die Produktion oder Design als Debatte. Design als Lösung oder Design als Medium. Design als Service für die Industrie oder Design als Service an der Gesellschaft. Innovation oder Provokation? Mit dieser Denkweise kann Design als angewandte Kunst entscheidend zur weiteren Entwicklung von Wissenschaft und Technologie beitragen. Die spärlichen interdisziplinären Kooperationsprojekte zwischen Wissenschaft und Design müssten verstärkt werden. Sie könnten zu einem breiten Diskurs über transformative Technologien beitragen.

Ressourcenschonung, radikale Senkung des Energieverbrauchs und lokale Produktion sind Zukunftsstrategien, um eine positive Entwicklung der Menschheit zu gewährleisten. Die Natur beweist, dass sie auch ohne Verbrennen von Kohle in Hochöfen hochfeste Konstruktionsmaterialen bilden kann. Biomimetische Chemie ahmt Eigenschaften von Pflanzen oder Tieren nach. Die Struktur von Korallen hat zum Beispiel die Entwicklung eines auf Biozement basierenden Baustoffes inspiriert. Nach Schätzungen des WWF wird die Produktion von Zement in den nächsten Jahren rasant ansteigen. Verantwortlich dafür ist das Baugeschehen in China, Indien und anderen Entwicklungsländern. In China war die Zementherstellung 2008 für etwa ein Viertel der CO2-Emissionen verantwortlich. Bei der Herstellung von Zement müssen die Rohstoffe auf über 1.400 °C erhitzt werden. Ein kohlebetriebenes Kraftwerk neben dem Zementwerk sorgt oft für die Bereitstellung der benötigten, aber nicht erneuerbaren Energie. Biozement kann bei Umgebungstemperatur hergestellt werden. Mithilfe von Mikroorganismen, die in einer wässrigen Lösung eingebracht werden, verhärtet sich Sand zu einer festen Struktur. Die Firma „bioMASON“, ein Biotech-Start-up, bietet heute schon Ziegel an, die mit einer solchen biotechnologischen Herstellungsweise in einer kleinen Manufaktur produziert werden. Die nächste Evolution des Ziegels oder auch eine gänzliche Revolution, wie wir Häuser in Zukunft bauen könnten. Ohne dramatischen ökologischen Fußabdruck könnten so Bauwerke entstehen, die eine künstliche biologisch konstruierte Tragstruktur aufweisen. Computeralgorithmen sind heute schon in der Lage, die dazu notwendigen komplexen Tragstrukturen zu errechnen, die ebenfalls vom Wachstum der Natur beeinflusst sind. Neuartige Konstruktionstechniken und von der Natur abgeschaute, mit synthetischer Biologie hergestellte Materialien würden unsere gebaute Umwelt radikal verändern.

Nach dem 3-D-Drucker auf dem Schreibtisch könnte das Biolabor für den Heimgebrauch kommen. Die Paketdrohne bringt vielfältig transformierbare Bakterienstämme und eine Auswahl an Plasmiden ins Haus. Daraus entstehen neue individuelle Parfums, Farben und Geschmäcker für Nahrung ebenso wie Medizin. So hergestellte biochemische Substanzen könnten aber auch toxisch sein oder, wenn sie in die Umwelt gelangen, nicht vorhersehbare Folgen haben. Als sich Baupläne für eine Schusswaffe aus dem 3-D Drucker verbreiteten, war die Empörung groß. Und doch hat dieser Vorfall dazu beigetragen, dass über das positive als auch negative Potenzial dieser Technologie öffentlich diskutiert wurde. Wenn wir jetzt darangehen, komplett künstliche biologische Systeme zu entwerfen, die in der Natur nicht vorkommen, dann sollten wir das Potenzial von angewandter Kunst als Medium zur kritischen Diskussion nutzen.

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