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Architektur der subtilen Irritation
Neue Zürcher Zeitung

Zu den neueren Arbeiten von Herzog & de Meuron

Im Jahr 1978 gründeten Jacques Herzog und Pierre de Meuron ihr Architekturbüro in Basel, das zur wohl wichtigsten Inspirationsquelle für die zeitgenössische Schweizer Architekturszene werden sollte. Mit organisch anmutenden Grundrissformationen scheinen sich die jüngsten Entwürfe vom bisherigen Œuvre abzusetzen - eine Einschätzung, die allerdings nur oberflächlicher Prüfung standhält.

7. Mai 1999 - Hubertus Adam
Bisweilen wird von der Architektur Selbstverständlichkeit gefordert: möglichst unauffällig sollten sich Bauten in das Stadtbild einfügen. Die Gegenposition beharrt auf dem optischen Reiz, auf ins Auge springender Unverwechselbarkeit. Das Basler Architektenteam Herzog & de Meuron fährt mit seinen Arbeiten seit je einen Kurs zwischen diesen Polen: Vordergründig mit formalen Extravaganzen trumpfen diese Bauten nicht auf, aber beiläufig wollen sie auch nicht wahrgenommen werden. Was zunächst vergleichsweise gewöhnlich daherkommt, verstört bei genauerem Hinsehen, denn manches stellt sich anders dar als erwartet. Eine Architektur der Irritation - der Irritation auf den zweiten Blick.

Das begann schon mit dem «Blauen Haus» in Oberwil (1979/80), dem ersten Bau, den das Büro realisieren konnte. Überstehendes Satteldach und kompaktes Mauerwerk der Fassade scheinen das Einfamilienhaus in der vernakulär geprägten Struktur der Basler Peripherie zu verankern. Doch der flüchtige Eindruck täuscht: Die Grundrissgeometrie ist verzogen, die Südfassade in Glas aufgelöst, und der blaue Farbanstrich verleiht dem Gebäude einen beinahe surrealen und immateriellen Charakter. Dieses Spiel mit Wahrnehmungsgewohnheiten, dieser hintergründige Verstoss gegen die Konvention zeigt sich auch an dem Einfamilienhaus in Leymen, das Herzog & de Meuron unlängst fertigstellten. Als Monolith aus Beton ist das präzise geschnittene Volumen in die sanfte Hügellandschaft des Sundgaus eingefügt, evoziert mit seinen flächig aufgefassten, von wenigen Fenstern durchbrochenen Fassaden und dem bündigen Satteldach das archetypische Urbild eines Hauses. Aus der Ferne massiv erscheinend, gleichsam dem Boden entwachsen, wird die vorgebliche Monumentalität subtil desavouiert, sobald man sich nähert. Denn die Fundamentplatte, über der sich die Hausstruktur erhebt, ist vermittels fragil anmutender Stützen in die Höhe gestemmt und raubt dem behäbigen Volumen die Bodenhaftung. Die mächtige Masse beginnt zu schweben, und man betritt das Innere über schmale Stufen von unten wie über eine Falltreppe, die eingezogen werden könnte.


Von der Geometrie zur Topologie

Über Jahre hinweg wurden Herzog & de Meuron von der Architekturkritik als Protagonisten einer «neuen Einfachheit» gefeiert. Ein folgenschweres Missverständnis - einfach, simpel, war die Architektur der Basler nie. Was Adepten und Epigonen jenes spröde und inzwischen verbrauchte Zerrbild der «Schweizer Kiste» generieren liess, resultierte aus einer Fehlinterpretation, einer alleinigen Fixierung auf die Form. In der Tat müssen von dieser Warte aus die jüngsten Projekte des Büros mit ihren zum Teil ondulierenden Grundrissen als Bruch mit den bisher zumeist orthogonal geprägten Bauten verstanden werden.

So unterzogen Herzog & de Meuron zwei ihrer Projekte einer grundsätzlichen Überarbeitung. Die Verwaltung der Bayerischen HypoBank in Frankfurt, 1994 noch als Kombination zweier um einen Hof gruppierter rektangulärer Baukörper entworfen, weist nun kurvig geschwungene Hoffassaden auf, welche den Binnenbereich wie den Hohlkörper einer Druse erscheinen lassen, und der auf einem Rechteck basierende Wettbewerbsentwurf für die Bibliothek der Technischen Universität Cottbus (1993) ist jüngst einer amöbenhaften Grundrissgestalt gewichen. Zukünftiger Höhepunkt dieser Reihe von Bauten dürfte die Kramlich-Residence werden,einWohn- und Galeriehaus für eine Familie von Videokunstsammlern im kalifornischen Napa Valley. Die Entwürfe zeigen eine unterirdische Sequenz von Black boxes mit Projektionsflächen, über der sich - lediglich durch eine Wendeltreppe verbunden - ein transparenter pavillonartiger Baukörper erhebt. Dessen Grundrissstruktur wird durch vier miteinander verschlungene Glaswände gebildet; die Doppelhelix der mittleren beiden lässt eine Reihe von mandelförmigen Kabinetten entstehen. Herzog & de Meuron gelingt es mit diesem Projekt, eine auf die Bedürfnisse des Sammlerpaars zugeschnittene Anzahl kontrastierend materialisierter Räume zu generieren; überdies aber mag man das Projekt als eine ironische Paraphrase auf die amerikanische Tradition des Rationalismus verstehen.

Denn der orthogonale Grundriss, der Mies van der Rohes Farnsworth House und Philip Johnsons Glass House in New Canaan prägte, ist nun gleichsam im Erdreich versunken, während der oberirdische Pavillon zwar Charakteristiken der Vorbilder - Konstruktion, Transparenz - adaptiert, die geometrische Rigidität indes zugunsten einer vorderhand kaum beschreibbaren Gestalt suspendiert. In ähnlicher Weise reagierte Ben van Berkel mit seinem Möbius-Haus auf die Tradition der Moderne (NZZ 5. 2. 99), indem er die zielgerichtete promenade architecturale Le Corbusiers in eine tendenziell endlose Schleife übersetzte. So scheint im Bereich des Bauens die Geometrie als mathematische Leitdisziplin von der Topologie abgelöst zu werden, ein Paradigmenwechsel, der es ermöglicht, über die Eigenschaften von Flächen oder Körpern zu sprechen, ohne ihre konkrete Form zu definieren. Nach dem ephemeren Intermezzo der Postmoderne ist die Moderne eingetreten in das Stadium der Topologie. In den jüngsten Projekten von Herzog & de Meuron somit nur eine Wiederkehr organischer Formen à la Alvar Aalto zu sehen, hiesse, das eigentliche Wesen des Wandels zu verkennen.

Der Gedanke einer Zäsur im Œuvre von Herzog & de Meuron erweist sich als gegenstandslos, wenn man gemäss dem topological shift den Begriff des Minimalismus nicht formal versteht, sondern auf den Umgang mit Oberflächen und Materialien überträgt. Jenen Kritikern, die die gebaute Welt mit ihrem bipolaren Wahrnehmungsinstrumentarium zu klassifizieren suchten - hie Stein, dort Glas -, haben es die Basler von Beginn an schwergemacht. Mal verwendeten sie Stein (beim Haus in Tavole), dann Holz (in der Basler Hebelstrasse); mal rehabilitierten sie diskreditierte Baustoffe wie Eternit oder Sperrholz, dann exponierten sie die Herbheit des Sichtbetons oder umwickelten ihr Stellwerk «Auf dem Wolf» mit Kupferbändern. Das Gebäude der Basler Kantonsapotheke schliesslich ist mit einem Glaspanzer, bedruckt mit grünen Siebdruckpunkten, verkleidet, der sogar bis in die Fensterlaibungen hineingezogen wurde. Doch eine derartige Aleatorik des Materialgebrauchs erwies sich in Zeiten postmoderner Rhetorik als subversive Strategie, weil sich die Gebäude der Dechiffrier- und Interpretierbarkeit verweigerten.

Semiotisch gesprochen, verzichteten Herzog & de Meuron auf eine semantische Dimension; die Referenzbeziehung zwischen Signifikant und Signifikat wurde aufgekündigt. Daher bedeuten die Kupferbänder des Stellwerks nichts, und funktional notwendig, wie mitunter behauptet, sind sie ebensowenig. Diese Ausgliederung aus funktionalen und semantischen Kontexten erlaubt einen neuen, unvoreingenommenen Blick auf die Materialien, die für den Betrachter gleichsam in phänomenologischer Evidenz implodieren. Vor einem derartigen Hintergrund wird das Interesse der Architekten an der abstrakten Kunst verständlich, die auf mimetische Elemente, auf ausserbildliche Bezüge jeglicher Art verzichtet.

Nachdem Herzog & de Meuron den Stoff zu sinnlicher Evidenz emanzipiert hatten, begannen sie damit, heterogene Materialien in optische Homogenität überzuführen. Der Ausstellungsbau der Münchner Kunstsammlung Goetz, der aus der vertikalen Überlagerung eines betonierten und eines hölzernen Baukörpers besteht, zeigt in seiner Fassade eine Kombination aus Aluminium, Mattglas und Birkensperrholz. Bestimmte Lichtverhältnisse vorausgesetzt, nähern sich die unterschiedlichen Baustoffe optisch einander an; Verbindendes tritt gegenüber Trennendem in den Vordergrund. So forcieren die Architekten eine Harmonisierung von Oberflächen, die aber nicht in einem romantischen Ideal transmaterialer Einheit kulminiert, sondern durch visuelle Annäherung die fundamentale Differenz um so deutlicher vor Augen führt. Wie in der Minimal Music sind es die zunächst unspektakulär anmutenden Modulationen und Variationen, welche das Erscheinungsbild nachhaltiger ändern, als sich dies mit den Mitteln des Kontrasts erzielen liesse.

In München noch übereinander gestaffelt, schieben sich die unterschiedlichen Bestandteile der Fassade beim Sportzentrum Pfaffenholz in St. Louis voreinander. Die Epidermis des Gebäudes setzt sich zusammen aus einer Hülle von Rauchglasscheiben, die mit einem Muster bedruckt sind, das die Struktur der dahinter befindlichen Dämmplatten repetiert und an die Oberfläche projiziert, ohne sich indes gegenüber der architektonischen Gestalt in den Vordergrund zu spielen. Ähnlich wie in St. Louis ordnet sich das Ornament auch beim Gebäude der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt in Basel dem Volumen unter. Erst bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass die zwischen Transparenz und Opazität changierenden Glasplatten, die den Altbau der fünfziger Jahre ummanteln, mit den in endloser Abfolge repetierten Versalien des Firmenlogos SUVA bedruckt sind: der Text mutiert zur graphischen Textur.

Bei der vor wenigen Wochen eröffneten Bibliothek der Fachhochschule Eberswalde wurde dieses Konzept noch einmal radikalisiert. Betonwerksteine und Oberlichtbänder des Bücherquaders sind nach einem speziellen Verfahren so bedruckt worden, dass der tätowierte Kubus in der Ferne allein als bläulichgraue Masse erscheint. Aus mittlerer Distanz werden die seriell als Register umlaufenden, von Thomas Ruff ausgewählten Bildmotive erkennbar - Reproduktionen von Werken bildender Kunst auf dem Trägermaterial Glas, Bilder der Zeitgeschichte auf den Betonplatten. Tritt man unmittelbar vor das Gebäude, verliert sich die Bildlichkeit in der nahsichtigen Struktur der Betonoberfläche.


Architektur und Natur

Während sich der flirrend-changierende Charakter der Bibliothek in Eberswalde als eine Frage des Betrachterstandpunkts und der Lichtverhältnisse erweist, bemühen sich Herzog & de Meuron in ihren jüngeren Projekten, die Oberflächen selbst zu dynamischen Veränderungen zu befähigen. Hybride Verbindungen von Architektur und Natur weisen hier neue Wege. Anfangs begannen die Architekten damit, Regenwasser breitflächig über die Fassaden fliessen zu lassen und somit Algenbewuchs zu provozieren. Beim Ricola Marketinggebäude in Laufen bildet der von den flexiblen Dachstangen herabrankende Efeu zusammen mit wildem Wein die äusserste Hülle des Hauses, die als Sonnenschutz im Sommer zur thermischen Regulierung des Binnenklimas beiträgt, das überdies durch das Auf- und Zuziehen von Vorhängen gesteuert werden kann. Weitere Versuche mit genmanipulierten und witterungsresistenten Pflanzen sind bisher allerdings ebenso gescheitert wie der Vorschlag, bei der Basler Kantonsapotheke natürlichen Efeu an künstlichen Ranken emporklettern zu lassen.

Auch hier geht es den Architekten nicht um eine romantisch konnotierte, nivellierende Verschleierung von Gegensätzen, nicht um oberflächliche Harmonisierung, sondern um eine ungewohnte Kombination, die es dem Betrachter ermöglicht, die Eigenschaften unterschiedlicher Materialien sinnlich zu spüren.

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