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Auch ein melancholischer Detektiv
Neue Zürcher Zeitung

Die Stuttgarter Piranesi-Ausstellung

10. Mai 1999 - Martin Meyer
Stein und Raum, Schatten und Licht, das Grosse und Überwältigende neben dem feinen Ornament - die Welten des italienischen Kupferstechers Giovanni Battista Piranesi überschneiden sich, stossen sich wieder ab, ziehen hinaus in die endlosen Träume der Phantasie und finden alsbald zurück zum Massstab des archäologischen Gewissens. War der Meister einfach ein verhinderter Architekt? Vertraute er mit naiver Besessenheit seinen Blättern an, was zu errichten die Zeit nicht gestatten wollte? Oder suchte er eine mögliche Berufung als Poet der Radierung - ein «Maler» denn, der wunderbare Effekte gegen das Realitätsprinzip nüchterner Abbildung setzte? War er am Ende insonderheit der rabiate Polemiker, dem die römische Antike vor allem Griechischen den Stil des Genialen verhiess?

Wir kennen und lieben - mit Abstufungen - sein Vedutenwerk, die kolossale Folge der Vedute di Roma: wo der Ätzstift das Gesicht der Stadt in immer neuen Variationen porträtiert und wo der Bogen der Erzählung von den antiken Monumenten bis zur zeitgenössischen Pracht der barocken Kirchen, Brunnen und Paläste ausgespannt ist. Das Forum Romanum und die Triumphsäulen, die Ruinen der Thermen, die verfallenen Ränge der Theater; daneben und dazwischen die Fassaden der Basiliken, die vielen Kuppeln unter kräftigem Wolkenhimmel, das urbane Leben mit Kutschen und Milordi, mit Bettlern und Prälaten. - Und wir kennen - und fürchten? - die «Carceri». Hier, plötzlich, das Andere: seltsam opake Labyrinthe, spiralige Treppen, Balustraden, finstere und riesige, wie dem Fieberwahn entwachsene Gewölbe. Das Imaginäre als Schrecken: so jedenfalls sahen es die Romantiker.

Aber Piranesi, der seinen Geist nur allzu leicht ins Pathetische schweifen liess und dabei - darf man sagen: auch mit Humor? - die Proportionen einmal dehnte und einmal stauchte und presste, so dass er Goethes besonnenes Auge unangenehm irritierte, hatte noch eine zweite Seite vorzuweisen. Er war zugleich ein Buchhalter. Sogar behauptete er da - hinterm Kontor des unentwegten Sammlers und Rechners - am stärksten das cholerische Temperament. Der vierbändige Zyklus der «Antichità Romane», die Ansichten von Albano und Castel Gandolfo, das Studienwerk zum römischen Marsfeld und noch manches andere: eine ungeheure und zum Detail zugespitzte Kollektion archäologischer Bestände, wie sie kein Blick zuvor eröffnet hatte.

Da sprach der Gelehrte, der Archivar, der Entdecker. Da zeichnete mit Fleiss und Verve der Graphiker, als ob er allein fähig gewesen wäre, die römische Architektur zu vermessen, zu rekonstruieren und mit arroganten Kommentaren zu erklären. Überheblichkeit, ja. Denn bis in die unscheinbarsten Drehungen des Bauplans - eines Heizungskanals, eines Wasserschiebers, eines Fundaments - sollten die Radierungen endgültig zur Anschauung bringen, «wie es eigentlich gewesen war»: als das kaiserliche Rom im Glanz unerhörter Leistungen erstrahlte. Auf diesen Radierungen: Ziffern für den Anmerkungsteil, Fussnoten und Kartuschen, oft auch, wie eine mise en abîme, kleinere Veduten zum Zwecke der Vergrösserung. Manchmal schlägt solche Manier dem modernen Betrachter wie ein Stück Surrealismus entgegen. Die Botschaft: es ist alles viel komplizierter, als wir's uns gedacht haben könnten. Jede Ruine produziert ihre ergänzende Wahrheit.

Folglich ist Piranesi, der Proteus des 18. Jahrhunderts, den Vorgaben seiner Epoche gemäss ein Aufklärer. Was wir sehen oder sehen wollen, ist stets nur ein Moment, ein Teil des Ganzen. In der Flüchtigkeit des Daseins halten wir uns - begreiflicherweise - an das Offensichtliche. Endlich aber kommt ein Besessener, steigt hinab in die Tiefen der Geschichte und blättert uns Schicht um Schicht einer Struktur auf. Als Architekturhistoriker ist er im eminenten Sinn der rückwärtsgewandte Prophet, und als Visionär seiner Idealräume gibt er zu bedenken, was noch möglich gewesen wäre - mindestens bei gehöriger Einbildungskraft.

Bekannt ist das Wort von Aldous Huxley, dass Piranesis «Carceri» als states of the mind zu verstehen seien. Nicht bloss das äusserlich Gegebene möge uns beschäftigen und umtreiben, sondern auch jenes, das in unserem Innern gäre und einen Ausdruck suche. So hätte Piranesi kaum schon zu formulieren gewagt. Doch Rezeption entsteht nicht aus dem Nichts: mögen die Kerkerszenen als Experimente konstruktiver Nervosität sich in den Rahmen des Gesamtwerks fügen, so bergen sie dennoch einen Überschuss - einen ungeklärten Rest traumatischer Erfahrung, der diese Rezeption eben zu zeugen vermochte: sie sind bereits «Literatur», als der junge Mann um 1740 ihre seltsam vorausweisende Möblierung arrangiert.

In formaler Hinsicht nutzte Piranesi die scena per angolo. Indem er die Zentralperspektive preisgab, erreichte er räumliche Dehnungen, die den Beschauer ins «Bild» hineinziehen und jede Orientierung verwirren. Natürlich ist das Verfahren in den «Carceri» stimmungsmässig auf die Spitze getrieben, aber es bewährt sich auch in der eigentümlich schweigsamen Idealarchitektur der «Prima Parte di Architetture» - in den Ansichten von Brücken und Foren, von Mausoleen und Prunkhallen. - Das andere, daraus hervorgehend, ist nun freilich, was als die psychologische Wirkung zu bezeichnen wäre. Das Stichwort hierzu: Ortlosigkeit. Darauf nämlich beruht die Modernität dieses Künstlers, dass er mit dem Willen zur radikalen Subjektivität die Macht des selbst-bewussten Subjekts gerade unterhöhlt.

Wir sehen - selbst auf den «Vedute di Roma» - Menschen, die der Architektur, vor und zwischen der sie sich bewegen, niemals gewachsen sind. Wir sehen Archäologen, die fassungslos gestikulieren beim Anblick uralter Monumentalität. Wir sehen Lumpen und Verrückte inmitten von Mauerresten und Pfeilerstümpfen, deren Existenz wie sinnlos erscheint. Wir sehen uns selbst. Das ist die ins Ästhetische verlagerte Pointe als Fortsetzung der Erfolgsgeschichte der Aufklärung: dass sich die Grössenverhältnisse wieder umkehren. Und auf Piranesis ursprüngliche Intentionen - etwa: einer nostalgischen Verklärung der römischen Antike - kommt es also weniger an als auf ihren verborgenen Mehrwert. Im erloschenen Krater des Colosseums figurieren dessen Besucher nur noch als Punkte und Striche.

Solche Eindrücke - von Vergänglichkeit und erhabener Gewalt, von Erfindungspotenz und angespannter Trauer, von Grössenwahn und Zeitverlust - gewährt sogar die Stuttgarter Ausstellung. Sie weist allein die Bestände im Besitz der Staatsgalerie vor, weshalb einige wichtige Zyklen fehlen. Indessen sind die Schaustücke so präsentiert und beleuchtet, dass kein schlüssiger Weg durch das Œuvre führt. Vieles kreuzt sich mit vielem, und weder ergibt sich eine verlässliche Chronologie, noch retten die Wandkommentare die zweifelhafte Systematik. Den Kenner können bloss die sehr frühen und schönen Zustandsdrucke der «Prima Parte di Architetture» begeistern; die Mehrzahl der anderen Blätter stammt aus Editionen kurz nach Piranesis Tod - wo die Feinheiten von Frische und Grat auszulaufen beginnen.

Im Grunde ging es wohl auch weniger um die Exposition als um den Katalog. Er erfasst minuziös sämtliche Radierungen der Sammlung, und im weiteren eröffnet er einen vorzüglichen Überblick. Auch sind die Reproduktionen - dies muss man allerdings hervorheben - von ausserordentlicher Qualität. - Vielleicht aber sträubt sich Piranesis Werk überhaupt gegen grosse Ausstellungen. Als Symbol und Allegorie, als Gleichnis und als Anspielung bedarf es des meditierenden Blicks aufs Einzelne. Wusste es der Maestro nicht selbst? Auf einem eher kleinformatigen Blatt der «Antichità d'Albano e di Castel Gandolfo» ist, aus der Vogelschau, ein Teil der antiken Via Appia abgebildet. Klein, zusammengesunken, den Kopf zu den Steinen geneigt, sinniert ein Sterblicher über das Einst. So ist er, in eine Sekunde vor Jahrtausenden gebannt, Piranesi - auch in uns selbst.


[Giovanni Battista Piranesi: Die poetische Wahrheit. Staatsgalerie Stuttgart (bis 27. Juni). - Katalog von Corinna Höper. Verlag Gerd Hatje, Ostfildern-Ruit. 432 S.]

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