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Haus ohne Trubel
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Eine neue Schicht Gegenwart kann Unternalb im Retzer Land gut brauchen: In einem ehemaligen Gutshof werden Gästezimmer für den Urlaub am Biobauernhof geboten. Der Umbau erfolgte in Kooperation von Caritas-Klienten und Studenten der TU Wien.

12. November 2016 - Iris Meder
Wer hierherkommt, sucht keinen Trubel. Schon gar nicht, wer ohne Auto kommt. Der Zug nach Retz fährt an Unternalb vorbei, hält aber mangels Bahnhof nicht an. Also wieder zwei Kilometer zurückspazieren, will man nicht drei Stunden auf den Bus warten. Auf dem Weg durch den leer gefegten Ort entfaltet sich im milden Nachmittagslicht allmählich der diskrete Charme des Weinviertels: archaisch wirkende Streuobstwiesen, von kleinen Bächlein durchflossen, teils umsichtig, teils brachial hergerichtete Zwerchhöfe, große alte Scheunen mit hohen Walmdächern, dazwischen ein dicker, stumpfer Kirchturm.

Das spätbarocke Anwesen rund um die Kirche öffnet sich Besuchern in einem großen Einfahrtshof, in der Mitte ein mächtiger alter Baum. Ein weiterer Hof liegt dahinter, dann noch einer, Heuschober, Ställe, Tiere, schließlich blickt man hinter einem offenen Tor auf eine bukolische Landschaft mit Teich, Obstbaumalleen, Hühnern, Kuh- und Schafweiden.

Drei große kirchliche Gutshöfe prägten einst den kleinen Ort: einer der Retzer Dominikaner, einer der evangelischen Kirche und dieser, der bis 1984 dem Stift Göttweig gehörte. Dann wurde er an die Caritas verkauft, die ihn als Biobauernhof mit Menschen mit Behinderungen betreibt – zurzeit insgesamt 95 Personen, von denen etwa ein Drittel auf dem Anwesen lebt. Ein Seitentrakt nimmt die Gästezimmer auf, die das Ziel der Reise sind. Als vor drei Jahren der Priester auszog, weil die Pfarre des auch infrastrukturell ausgedünnten Ortes der von Retz angegliedert wurde, entwickelte man bei einer Mitarbeiterkonferenz gemeinsam mit den Caritas-Klienten vor Ort die Idee, in den frei werdenden Räumen Gastzimmer für Urlaub am Bauernhof anzubieten.

Nun kam das von Peter Fattinger an der TU Wien geleitete Studio Design-Build ins Spiel: Studierende entwickeln hier seit 2000 gemeinsam temporäre und permanente Bauvorhaben von der Konzeption über die Planung bis zur Realisierung, mit Unterstützung von Fachbetrieben vor Ort. Mit der Caritas gab es schon bei drei Projekten eine erfolgreiche Zusammenarbeit: 2001 mit der Tmp?Homebase, einer temporären Einrichtung für Asylsuchende auf dem Flughafen Schwechat, 2007 mit einer Waisenheim-Erweiterung auf der indonesischen Insel Nias und 2013 mit der „YoungCaritas“, einem Kompetenzzentrum für sozial engagierte Jugendliche in einem Wiener Gürtelbogen. Alles nicht nur ethisch und sozial sinnvolle Projekte, sondern auch architektonisch mit ihrer äußerst fruchtbaren Mischung aus unvoreingenommener Herangehensweise, studentischer Verve, pragmatischer Lösungsorientiertheit und Liebe zum gemeinsamen Arbeiten überzeugend – Funktionalität und gestalterische Qualität ergänzen einander, wie man es gern häufiger sehen würde.

25 Studierende, davon etwa zwei Drittel Frauen, arbeiteten ein Semester lang am Entwurf; im März 2015 war Baubeginn. Ein Jahr dauerten die Arbeiten, deren professionelle Abwicklung in Zusammenarbeit mit Fachbetrieben vor Ort erfolgte. Neben lokalen Professionisten waren auch die neun Caritas-Werkstätten des Bauernhofs involviert. Mit konkreten Aufgaben betraut, blühten manche der behinderten Menschen während der Bauarbeiten geradezu auf.

Allzu experimentell durfte der Planungsansatz freilich nicht sein: Alle Baumaßnahmen mussten nicht nur die Anforderungen der Caritas erfüllen, etwa was die Bewirtschaftung durch die in Küche, Service und Reinigung tätigen Menschen mit Behinderung betraf, sondern auch in Abstimmung mit dem Bundesdenkmalamt erfolgen. So wurde für die gewünschte Barrierefreiheit hofseitig ein dezenter Fahrstuhl angebaut. Insgesamt 75 Planungs- und Baubesprechungen mit Studierenden und Caritas waren erforderlich, bis alles feststand.

Wie sollte man beispielsweise mit den riesigen Raumhöhen der Pfarrerwohnung umgehen? Die historische Bausubstanz wurde nicht angetastet, die niedrigeren Sanitärblöcke separat so in die Zimmer gestellt, dass ihre Decken als begehbare Emporen dienen. Neben dem Gemeinschaftsaufenthaltsbereich mit mehreren Sitzebenen, der in den mit alten Kelheimer Platten belegten Gang eingebaut wurde, bietet diese Empore im „Prunkzimmer“ ein spezielles Raumerlebnis: Aus nächster Nähe kann man hier die barocken Deckenmalereien bewundern. Alle neuen Einbauten wurden konsequent zeitgenössisch gestaltet und auch in ihrer Materialität – helles Birkensperrholz mit weiß pigmentierter Imprägnierung – von der historischen Substanz abgehoben. Mit intelligent eingesetzten Mitteln wurde eine Ästhetik erreicht, die Kargheit mit warmen Materialien und Beleuchtungssituationen verbindet. Dabei zieht sich das ebenfalls von den Studierenden entwickelte Farbkonzept durchalle Räume – mit dem erstaunlichen Effekt, dass die vom Caritas-Lager stammenden, an sich völlig banalen unterschiedlichen Sitzgelegenheiten durch die gemeinsame matt-olivgrüne Lackierung eine äußerst charmanteEinheitlichkeit erhalten.

Darüber reflektiert es sich am besten im erdgeschoßigen Frühstücksraum – die Gäste sitzen hier bei lokalen Bioprodukten unter der gewölbten Decke an einem gemeinsamen Tisch aus hellrötlicher österreichischer Douglasie, die auch die Böden der Gastzimmer bildet. Durch Entfernen einzelner Wandteile entstand ein großzügiger Wohnküchenbereich mit einer vor Ort gegossenen langen Betonspüle und mit Ausgang zum Hof, wo ein Salettl und eine Feuerstelle neu angelegt wurden.

Das historische Ambiente ist am Ort ebenso selbstverständlich präsent wie die gestaltete Gegenwart – in dieses Konzept passen auch die Fotoarbeiten von Markus Fattinger, die man im ganzen Haus findet: Sie zeigen Details jener in Resten vorhandenen gemalten Wand- und Deckenornamente, die nicht freigelegt wurden und nun unter dem weißen Putz liegen.

Eine neue Schicht Gegenwart kann Unternalb gut brauchen. Im Ort gibt es kein Geschäft mehr, der (hervorragende und gut besuchte) Heurige ist seit vergangenem Jahr der einzige. Junge Familien sind die Zielgruppe des „OBENauf“ genannten Caritas Bed and Breakfast, bei dem man in der Landwirtschaft, etwa beim Tierfüttern, mithelfen kann, zudem Radurlauber und Weinliebhaber, die die zahlreichen Veranstaltungen in der Retzer Gegend besuchen. Auch die Infrastruktur für kleine Seminare ist da. Wer hierherkommt, findet keinen Trubel, aber die Gemeinschaft sozialen Miteinanders, die Wärme eines historischen Bauernhofs, den sinnlichen Genuss lokaler Kulinarik und nicht zuletzt die Qualität zeitgenössischer Architektur.

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