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Die Geister der Zeit
Neue Zürcher Zeitung

Robert Wilson feiert in Mailand 70 Jahre «Domus»

4. Dezember 1998 - Barbara Villiger Heilig
Wie die Zeit verfliegt! Oben links an der Leuchtreklame-Wand, die dem weiss schimmernden Gebirge des Mailänder Doms allabendlich Konkurrenz zu machen versucht, hackt ein flinkes Fräulein auf einer Schreibmaschine herum. Das Gerät, für welches hier geworben wird, mutet mittlerweile kein Chef mehr seiner Sekretärin zu. Eher benutzt es noch der eine oder andere nostalgische Schriftsteller, um vertrauten Ritualen nicht abschwören zu müssen, und ausserdem, unweit der Piazza Duomo, ein Schauspieler. Auf der Bühne des Nuovo Piccolo Teatro tippt er, beleuchtet von einer giraffengrossen Tizio-Lampe, Sätze in die Tasten: «Jeder kann eine Pyramide zeichnen», oder: «Architekur ist dazu da, dass man sie anschaut»; seine Vorbilder, so erfährt man weiterhin, heissen Palladio und Borromini, doch mag er auch Zeitgenossen. Zum Beispiel Renzo Piano, dessen Centre Pompidou in Form einer Dia-Projektion kurz auf der Rückwand erscheint. Wir befinden uns in der drittletzten Sektion des theatralischen Spektakels zum 70. Geburtstag der Zeitschrift «Domus». Das Stück rekapituliert die Geschichte der Publikation, indem es, zwischen Prolog und Epilog, jeder Dekade 10 Minuten widmet. Hier tritt die Zeit, kostbar verpackt in Portiönchen, an Ort. Nun aber darf der oben erwähnte Schauspieler bald abgehen; denn der Architekt, Designer und «Domus»-Begründer Gio Ponti, dessen Rolle er spielt, starb 1979.

Gesamtkunsthandwerker

François Burckhardt, der gegenwärtige Chefredaktor, lässt sich das Jubiläum etwas kosten: er gab bei Robert Wilson ein Stück in Auftrag. Mit Fachleuten – Burckhardt selbst, aber auch Lisa Licitra Ponti, die Tochter des berühmten Vaters, beteiligten sich – hat der texanische Gesamtkunsthandwerker eine Revue entwickelt, die den Geist von Pontis journalistischem Pionierwerk widerspiegeln soll. «Domus» setzte sich seit der ersten Nummer im Januar 1928 das Ziel, ein breites Publikum nicht nur über Architektur zu informieren, sondern über das Neuste aus der Design-, Kunst- und Modewelt sowie über die Beziehungen zwischen diesen Bereichen, auf deren Schnittfläche der Mensch lebt.

Crossover, sagt man heute; und da sich diesem Ideal auch Wilson verschreibt, der ursprünglich Maler werden wollte, dann ein Architekturstudium begann, schliesslich beim Theater gelandet ist, daneben jedoch Ausstellungen gestaltet, Möbel entwirft, Häuser einrichtet und sogar eines baut bzw. umbaut – sein Watermill Center auf Long Island –, schien er der geeignete Mann. Der – häufig als solcher kritisierte – Regie-Designer betätigt sich also ganz offiziell als Design-Regisseur und inszeniert «70 Angels on the Façade», wobei die Engel nicht in weihnachtlichem Zusammenhang auftreten, sondern als Wesen, welche Ponti besonders gern zu Verzierungszwecken einsetzte.

Noble Requisiten als Stars

Bei der Premiere traf sich die – hauptsächlich italienische – Prominenz aus den betroffenen Sparten. Sie hatte bestimmt keine Mühe, im Quizverfahren das Zapping durch die Jahrzehnte zu verfolgen und hier Massimo Campiglis Gemälde der Familie Ponti zu erkennen, dort die charakteristischen Zebrastreifen des Ferrania-Direktionsbüros; ein gigantisches Ponti-Essbesteck-Set wahrzunehmen oder die typischen «möblierten Fenster»; «La Superleggera» zu identifizieren, jenen Stuhl, den man mit einem einzigen Finger in die Höhe heben kann, oder die Keramikvase namens «Prospettica», entworfen für Richard Ginori. Die Kenner amüsierte es – falls sie nicht, was auch passierte, einschliefen –, den notorischen Workaholic Ponti zeichnend auf jenem Bett mit integrierter Wohnwand zu beobachten, das Piero Fornasetti für ihn dekoriert hatte; es fiel ihnen leicht, zwischen statuarischen Damen in sattroten Polstermöbel-Roben den Partylöwen Carlo Mollino auszumachen, neben welchem beflissene Kellner Arne-Jacobsen-Stühle stapelten.

Dem normalen Publikum, das allenfalls Pontis Pirelli-Hochhaus kennt und vielleicht noch die Pavoni-Kaffeemaschine, würden solche Aha-Momente versagt bleiben; wohl deshalb beschränkten sich die Aufführungen, vorerst zumindest, auf drei. Indessen dürfte es Spezialisten wie Nicht- Spezialisten gleichermassen schwergefallen sein, aus dem dick aufgetragenen musikalischen Potpourri und dem Kanon der Stimmen, der während der technoiden Neunziger in einen witzigen Handy-Chor ausartete, einen verständlichen Satz zu filtern. Ganz hat Wilson dann doch nicht auf Didaktik verzichtet: zwischen den einzelnen Teilen geben eingeblendete Texte jeweils Aufschluss über das, was kommt. Trotzdem – und trotz aller «Struktur» – wirkt der bunte Theaterabend, als dessen Stars die noblen Requisiten figurieren, wie eine ziemlich zerfledderte Zeitschrift.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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