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Neue Zürcher Zeitung

Schanghais neuer Kulturkorridor

Schanghai galt lange als kulturell wenig ambitioniert. Doch nun wartet die Metropole mit vielen Kultureinrichtungen vor allem entlang des West Bund auf.

26. November 2016 - Oliver G. Hamm
Das «Reich der Mitte» und insbesondere die grossen Ballungsgebiete in China haben sich in den letzten Jahrzehnten mit einem atemberaubenden Tempo verändert. Viele Städte haben sich gewissermassen runderneuert, manche sind kaum wiederzuerkennen, wenn man ältere Fotografien oder eigene, oft nur wenige Jahre alte Eindrücke mit heutigen vergleicht. Auch Schanghai, die quirlige, 23 Millionen Einwohner zählende Metropole an der Ostküste, hat sich völlig gewandelt.

Gegenüber dem berühmten Bund, der Promenade am westlichen Ufer des Huangpu mit zahlreichen Bauten aus den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts, entstand mit Pudong quasi ein zweites Stadtzentrum, dessen Silhouette von zahlreichen Wolkenkratzern dominiert wird – darunter der Shanghai Tower, mit 632 Metern derzeit das zweithöchste Gebäude der Welt. In den letzten Jahren prägte aber vor allem die Konversion ehemaliger Hafen- und Industrieareale einige Kilometer flussaufwärts die Stadtentwicklung.

Freiräume schaffen

Viele tiefgreifende Veränderungen in Schanghai, dem Gründungsort der Kommunistischen Partei Chinas, geschehen heute ausschliesslich aus ökonomischen Beweggründen. Wenngleich der Kapitalismus auch die zweitgrösste chinesische Stadt, wie zahlreiche andere, immer mehr im Griff hat – wofür etwa die vielen neuen Bürogebäude entlang des Huangpu und ganze Business-Parks auch anderswo sichtbarster Ausdruck sind –, so haben die für die Stadtplanung Verantwortlichen durchaus erkannt, dass sie auch für öffentliche und kulturelle Nutzungen Freiräume schaffen müssen.

Mit dem West Bund Cultural Corridor im Stadtteil Xuhui ist binnen weniger Jahre eine von der Bevölkerung rege genutzte Promenade am westlichen Ufer des Huangpu und darüber hinaus ein kultureller Hotspot entstanden, mit dem sich Schanghai anschickt, im Konzert bedeutender Kulturmetropolen mitzuspielen. Daran war noch zur Jahrtausendwende, als die vom Schweizer Lorenz Helbling gegründete Galerie Shanghart in einer früheren Textilfabrik mit ihrer Pionierarbeit auf dem Gebiet zeitgenössischer Kunstvermittlung begann, nicht zu denken gewesen. «Niemand kam damals der Kunst wegen nach Schanghai», sagt Helbling.

Doch seit 2010 – dem Jahr, in dem Schanghai die Weltausstellung ausrichtete und in dem China einen Fünfjahresplan zur Gründung von 3500 Museen ins Leben rief, der bereits nach der Hälfte der Zeit erfüllt worden ist – hat die Kunst auch in Schanghai «ihren» Ort gefunden: Er erstreckt sich über rund zweieinhalb Kilometer vom West Bund Art Center im Süden bis zum Long Museum im Norden und bietet Platz für mehrere bedeutende Ausstellungshallen, aber auch Künstler- und Architekturateliers.

Die Power Station of Art, drei Kilometer flussabwärts gelegen, bildet einen nördlichen Satelliten des neuen Kulturkorridors; dieses ehemalige Kraftwerk, das seit 2012 als erstes staatliches Museum für zeitgenössische Kunst in China mit einer Ausstellungsfläche von 15 000 Quadratmetern aufwartet, beherbergt bis zum 12. März 2017 die elfte Schanghai-Biennale (diesjähriges Thema: «Why not ask again: Arguments, counter-arguments, and stories»).

Bereits Anfang November über die Bühne gegangen ist die fünftägige Messe West Bund Art & Design, an der unter anderem die Galerien Hauser & Wirth, Urs Meile und David Zwirner teilnahmen. Schauplatz war erneut das West Bund Art Center, eine ehemalige Flugzeugfabrik, die für die Messepremiere 2014 unter Federführung des Künstlers und Kurators Zhou Teihai als Ausstellungshalle hergerichtet worden war und mittlerweile einige bedeutende Ausstellungen – darunter 2015 eine Schau zur künftigen Stadtentwicklung Schanghais – beherbergt hat.

Die rund 8000 Quadratmeter grosse zweischiffige Halle wurde auf der Rückseite gestutzt und in einem der Schiffe um eine zweite Ausstellungsebene ergänzt, zudem wurden die Stirnwände teilweise durch Glas ersetzt, um die Belichtung zu verbessern. Dennoch konnte das Gebäude seinen ursprünglichen industriellen Charakter wahren.

Die Kunsthalle war gewissermassen die Initialzündung für eine von der halbstaatlichen West Bund Group vorangetriebene Entwicklung, die – untypisch für Schanghai – nicht dem maximalen kurzfristigen Profit, sondern der Etablierung eines neuen Kulturstandortes diente. Mit der erfolgreichen «Anwerbung» zweier bedeutender privater Kunstsammlungen und deren Implementierung in frühere Industriebauten wurden noch im Jahr 2014 die nächsten Pflöcke eingeschlagen.

Für die Werke zeitgenössischer chinesischer Kunst des chinesisch-indonesischen Sammlers Budi Tek richtete der japanische Architekt Sou Fujimoto einen weiteren Flugzeughangar unweit des West Bund Art Center her. Auf rund 9000 Quadratmetern präsentiert nun das Yuz Museum sowohl die Tek-Sammlung als auch Wechselausstellungen und bietet den Besuchern in einem angebauten, sehr grosszügigen, glasumschlossenen Foyer Raum zum Entspannen.

2014 wurde das Long Museum eröffnet, als nördlicher Abschluss des Kulturkorridors entlang der Long Teng Avenue, die mit einigen Industrie- und Hafenfragmenten einen guten Eindruck von der früheren Nutzung dieses speziellen Stadtraumes direkt am Fluss vermittelt. Das Museum wurde vom Schanghaier Architekturbüro Atelier Deshaus auf dem Areal einer ehemaligen Kohleverladestation errichtet.

Ein 110 Meter langer und 8 Meter hoher Schüttgutbunker bildet das Rückgrat der zweigeteilten Neubauvolumina. Sie basieren auf der Addition von Sichtbetonelementen, die im Querschnitt aufgespannten Schirmen ähneln. Grossflächige Glasfassaden, die zum grössten Teil durch transluzente Metallvorhänge geschützt werden, und Lichtbänder in den Decken gewährleisten eine gute Belichtung der beiden oberirdischen Geschosse, die für Wechselausstellungen genutzt werden, aber auch ein Auditorium, ein Restaurant und Büros bergen.

Spektakulärster Baustein

Das Untergeschoss – ehemals eine Tiefgarage – dient der dauerhaften Präsentation der privaten Sammlung alter chinesischer Kunst und Antiquitäten des Unternehmerpaars Liu Yiqian und Wang Wei. Mit seinen insgesamt rund 33 000 Quadratmetern, vor allem aber mit seiner aussergewöhnlichen Architektur bildet das Long Museum zweifellos den bisher spektakulärsten Baustein des West Bund Cultural Corridor.

In den letzten zwei Jahren entstand zwischen den beiden ehemaligen Hangars ein fast dörflich anmutendes Quartier aus zahlreichen Künstlerateliers und Kunstgalerien. Jedes einzelne Bauwerk kann wie die materialisierte Visitenkarte seines Schöpfers gelesen werden – in der Gesamtheit repräsentieren sie die erstaunliche Vielfalt zeitgenössischer Kunst und Architektur. Inzwischen haben sich dort unter anderem das Atelier Deshaus und die Shanghart-Galerie niedergelassen.

Am Rand des Quartiers gerät ein Bauwerk besonders in den Blick der Passanten: ein von den amerikanischen Architekten Sharon Johnston und Mark Lee ursprünglich für die West Bund Biennale 2013 entworfener Pavillon, der dem Fotojournalisten Liu Heung Shing angeboten wurde. Der hatte aber keinen Bedarf für ein Atelier und gründete darin das im letzten Jahr eröffnete Shanghai Center of Photography (SCoP). Mit seinen Fassaden aus weissem Wellblech fügt sich der Pavillon gut ein in die teils industriell, teils handwerklich geprägte Nachbarschaft. Ein dreieckiger Lichthof in seinem Zentrum und schmale Leuchtbänder in der Decke gewährleisten eine dosierte Belichtung der Ausstellungsräume, die für internationale Wechselausstellungen genutzt werden.

Gigantische Projekte

Der Erfolg des Kulturkorridors hat längst weitere Begehrlichkeiten geweckt: Auf einem Areal westlich des West Bund Art Center wird derzeit das Projekt «Tank Shanghai» realisiert – der Umbau von fünf ehemaligen Öltanks in ein 11 500 Quadratmeter grosses Kunstzentrum nach Plänen des Büros Open Architecture aus Peking. Auftraggeber ist der Privatsammler Qiao Zhibing, der am gleichen Ort auch Restaurants, Bars sowie eine Marina bauen und alles in einen neuen Park einbetten will, der im nächsten Jahr eröffnet werden soll.

Auf dem südlich angrenzenden Areal entsteht seit 2015 das sogenannte Shanghai Dream Center: Es umfasst das Hauptquartier von Dream Works' chinesischem Joint-Venture-Animationsstudio Oriental Dream Works und einen gigantischen Unterhaltungskomplex auf insgesamt 463 000 Quadratmetern. Dieser besteht aus einem Theater (in einem beeindruckenden Altbau inklusive riesiger, flacher Betonkuppel), einem Imax-Theater, dem Legoland Discovery Center, Restaurants, Bars und Läden.

Für die Gestaltung sind acht Architekturbüros verantwortlich, darunter 3XN Architects und Schmidt Hammer Lassen aus Dänemark sowie Kohn Pedersen Fox aus den USA. Die Eröffnung ist auf Anfang 2018 geplant. Es scheint, als wolle Schanghai mit dem immer stärker aufgeblähten West Bund Cultural Corridor sogar Londons South Bank und der New Yorker Museum Mile den Rang ablaufen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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