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Königsstadt oder Wohngebiet Karl-Marx-Allee?
Neue Zürcher Zeitung

Berlins Suche nach Geschichte(n) für die Zukunft der Stadt

Soll das Gebiet östlich des Berliner Alexanderplatzes mit Blick auf den historischen Stadtgrundriss «zurückgebaut» oder mit Respekt vor dem Baubestand der sechziger Jahre «weitergebaut» werden? Eine neue Planungsrunde muss nun zu einem Konsens führen.

4. Dezember 1998 - Michael Koch
Es geht um die Planung eines «Stücks Berlin». Aber es geht auch um das Verhältnis zum Städtebau der Moderne und darum, ob zur Gestaltung der Stadt der Zukunft auf die Stadt der Vergangenheit mit ihren geschlossenen Strassenräumen und Blockrandbebauungen zurückgegriffen werden kann oder muss. Dabei sollte auch das Verhältnis des zeitgenössischen Städtebaus zu den sozioökonomischen Entwicklungsbedingungen der Stadt zur Sprache kommen.


Gebiet mit Erneuerungsbedarf

Als Besucher aus dem Westen nahm man zu DDR-Zeiten das Wohngebiet Karl-Marx-Allee durchaus mit Skepsis wahr. Man kannte diese Art grossformatigen Wohnungsbaus aus Stadtrandlagen. Was erstaunte, war der dadurch erzeugte hohe Wohnanteil in der Innenstadt. Das Wohngebiet war eine Antwort der DDR auf das Hansaviertel in Westberlin. Dort wie hier ignorierte man den historischen Stadtgrundriss und nutzte die Kriegszerstörungen, um ein Stück moderne, «neue» Stadt zu bauen: durchgrünt, aufgelockert, verkehrsgerecht. In Ostberlin bedeutete der Bau des Wohngebietes Karl-Marx-Allee gleichzeitig den Bruch mit dem sich an der traditionellen Stadtgestalt orientierenden Städtebau der Stalinzeit, wie er in der Nachbarschaft zu finden ist. Auf diese neoklassizistische «Bürgerstadtinszenierung» für das Volk folgten die von Licht und Freiraum umspielten Wohnscheiben. Die Trennung von Wohn- und Versorgungsbauten entsprach den modernen Städtebauideen. Die Gruppierung der Bauten zu Nachbarschaften sollte das Wohngebiet dem Ideal eines sozialistischen Wohnkomplexes nahe bringen. Die geplante funktionale und bauliche Verdichtung entlang der Karl-Marx- Allee wurde indes nie erreicht. Das Schicksal, ein Torso zu sein, teilt dieses Gebiet freilich mit vielen anderen neuen Stadtteilen aus jener Zeit – auch im Westen. Die Nähe zum Stadtzentrum kompensiert gewisse Versorgungsmängel, und das Gebiet erfreut sich bei den Bewohnern nach wie vor grosser Beliebtheit.

Der für die grundeigentümerverbindliche Planung des Gebietes zuständige Stadtbezirk Mitte beauftragte 1996 das Ostberliner Architekturbüro MBHS (Peter Meyer, Jan Bach, Wolfgang Hebestreit, Andreas Sommerer) mit der Untersuchung städtebaulicher Entwicklungspotentiale. Hintergrund waren Sondierungen von Investoren, aber auch die im neuen gesellschaftlichen Kontext deutlicher sichtbar werdenden Mängel. Das Büro MBHS übertrug den bis anhin aus Gründerzeitquartieren bekannten Ansatz der behutsamen Stadterneuerung auf dieses Wohnquartier der sechziger Jahre. Mit Respekt vor der räumlichen Ordnung, der Architektur sowie den vorgefundenen sozialen Qualitäten entwickelte es eine Strategie der schrittweisen Nachverdichtung. Dazu behandelt es das Wohngebiet fast wie ein Denkmal: Alle baulichen Eingriffe haben sich dem bestehenden «Ensemble» unterzuordnen.


Rückbau heisst Abriss und Neubau

Das konsequente Durchexerzieren dieser Haltung zeigt, wie – trotz allen Mängeln – der Bestand eine Ressource darstellen kann gemäss der Devise: nutzen, was brauchbar ist, weiterbauen, wo sich Chancen eröffnen. Das «Weiterdenken» des vorgefundenen Ordnungsgerüstes führt zur Entwicklung neuer städtebaulicher Qualitäten. Das Gebiet lässt sich in Richtung dichter, kompakter, vernetzter, abwechslungsreicher städtebaulicher Strukturen weiterentwickeln. Das Büro MBHS stellt sich diese Verdichtung als einen langwierigen Prozess mit offenem Ausgang vor. Es definiert dafür Baufelder und schlägt «Bauspuren» vor, an denen sich Neubautätigkeiten orientieren können. Eine Anreicherung des Gebietes mit Dienstleistungs-, Handels- oder Gewerbenutzungen wäre wünschbar und baulich möglich. Inwieweit sie wirklich erwartet werden kann, ist offen. Bereits um den nahen Alexanderplatz bestehen dafür erhebliche Entwicklungspotentiale. In einer ersten Phase sollte die räumliche Verdichtung entlang der Karl-Marx-Allee vorangetrieben und die Verkehrsmagistrale zum «Strassen-Park» umgebaut werden. Zu dieser Strategie des schrittweisen Weiterbauens gehört eine geeignete Form der Bewohnerbeteiligung.

Gleichzeitig und völlig unabhängig von dem vorgenannten Gutachten hatte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie das «Planwerk Innenstadt» in Auftrag gegeben. Für das Zusammenwachsen der geteilten Stadt sollte ein städtebaulicher Rahmenplan erarbeitet werden. Die City West bearbeiteten Fritz Neumeyer und Manfred Ortner, das historische Zentrum im Osten Dieter Hoffmann- Axthelm und Bernd Albers. Das 1996 veröffentlichte «Planwerk» versucht u. a. durch «kritische Rekonstruktion» des historischen Stadtgrundrisses in strategischen Bereichen städtebauliche Bindeglieder zu schaffen, die räumlich vernetzen sollen, «was zusammengehört». Aus dieser gesamtstädtischen Sicht werden ganz andere Vorschläge für den Umgang mit dem Wohngebiet Karl-Marx-Allee abgeleitet. Die sternförmig auf die Mitte Berlins verweisenden historischen Strassenzüge sollen demnach als zentrierende räumliche Führungen im Netzwerk der Stadt wiederhergestellt werden. Die Wiederablesbarkeit der «Königsstadt» im Stadtgrundriss versetzt den gegenwärtigen Bestand des Wohngebietes Karl- Marx-Allee ins historische Unrecht und erzwingt tendenziell seine Preisgabe.

Mit der Neuüberbauung der reparzellierten Strassengevierte soll ein «neu-altes», von urbanen innerstädtischen Nutzungsmischungen geprägtes Stück Bürgerstadt im Herzen Berlins entstehen. Skrupel im Umgang mit dem Baubestand aus den sechziger Jahren scheinen für Hoffmann-Axthelm und Albers nicht angebracht: Seine Zukunftstauglichkeit wird bezweifelt, und schliesslich hat der Städtebau damals auch die überlieferte Stadt in Frage gestellt und baulich-räumlich ignoriert.


Am Ende eine Collage?

Dieser Rück-, Um- und Neubau des Gebietes in dem im Planwerk vorgeschlagenen Umfang verlangt nach einer gewissen Sicherheit bezüglich des ökonomischen Entwicklungspotentials an dieser Stelle in nächster Zeit. Inwieweit Stadt im traditionellen Sinne durch ästhetische Operationen wie die vorgeschlagenen tatsächlich ökonomisch, funktional und sozial «rekonstruiert» werden kann, wäre noch zu beweisen. Die bisher dazu gemachten Andeutungen überzeugen angesichts der Unsicherheit und Geschwindigkeit wirtschaftlicher Entwicklungen nicht, und die Zukunftstauglichkeit dieses Bildes von Stadt wäre zu überprüfen. Ein Verdienst ist aber zweifellos, dass das Planwerk die Auseinandersetzung mit überformten historischen Spuren beim Umbau und Ausbau der wiedervereinten Stadt anmahnt und städtebauliche Vernetzungen im Dienste der Gesamtstadt fordert. Die Planungsaufgabe des Büros MBHS bezog sich demgegenüber nur auf das untersuchte Wohngebiet.

Herausgefordert durch das Planwerk, muss man sich fragen, ob man sich beim «Weiterbauen» am Wohngebiet Karl-Marx-Allee nicht etwas stärker auf einzelne besonders relevante Spuren des historischen Stadtgrundrisses beziehen kann, ohne dabei gleich den Bestand in grossem Umfang zu gefährden. Dafür bestünden sogar noch einige Fragmente der «Vorgängerstadt». Es müssen ja nicht gleich überall Massnahmen im Bereich des Hochbaus sein; auch mit landschaftsarchitektonischen Mitteln der Freiraumgestaltung könnten Zeichen gesetzt und Beziehungen hergestellt werden. In diesen Tagen kehren die eigentlich fast unfreiwillig zu Kontrahenten gewordenen Planer an den Verhandlungstisch zurück. Für die «Planungswerkstatt Karl-Marx- Allee» zur Konkretisierung des Planwerkteils von Hoffmann-Axthelm/Albers wurden MBHS mit einem Co-Gutachten beauftragt. Ziel der Planungswerkstatt ist explizit ein Konsensplan. Am Ende wird aus dem Entweder-Oder also vielleicht doch noch ein «Und», das dem kollektiven Gedächtnis der Stadt, ihren Hoffnungen und ihren Entwicklungsmöglichkeiten entspricht: Eine Collage aus historischen und modernen Elementen, die in einem kontrollierten Transformationsprozess entsteht, der sich vermutlich über Jahrzehnte hin erstrecken wird.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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