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Die Stadt wird zum Computer
Neue Zürcher Zeitung

Smarte Städte verwandeln urbane Systeme in Megarechner. Doch wenn Städte zu Computern werden, werden dann die Bewohner zu Prozessoren degradiert?

13. November 2017 - Adrian Lobe
Fenster, die sich bei Sonnenlicht automatisch abdunkeln. Sprinkleranlagen, die bei Trockenheit den Rasen befeuchten. Sensoren, die automatisch die charakteristischen Wellen von Sirenen eines Rettungsdienstes erkennen und die Ampelschaltung takten. So werden die intelligenten Städte von morgen aussehen. Und so sehen sie zum Teil heute schon aus.

Im südkoreanischen Songdo ist eine futuristische Planstadt entstanden, die sich weitgehend selbst regulieren soll. Millionen Sensoren liefern Daten an einen Zentralrechner, der die städtischen Dienste so effizient wie möglich steuert. Ampelschaltungen orientieren sich nach dem aktuellen Verkehrsaufkommen, Abfälle aus Büros und Haushalten gelangen über Rohre in ein unterirdisches Entsorgungssystem, wo der Müll automatisch sortiert und rezykliert wird. Auf Bildschirmen können die Stadtplaner das Stadtgeschehen in Echtzeit verfolgen: Verkehr, Luftbelastung, Kriminalität. Für Planer sind Städte wie Songdo City ein Labor, in dem sich mit modernster IT Gesellschaftsentwürfe erproben lassen – ein digitales Utopia.

Entscheide nach Echtzeitdaten

Songdo erinnert an eine Neuauflage des Projekts «Cybersyn», bei dem die sozialistische Regierung Chiles unter Präsident Salvador Allende in den 1970er Jahren die Wirtschaft kontrollieren wollte. Im Operations-Room, so beschreibt es Eden Medina in ihrem Buch «Cybernetic Revolutionaries: Technology and Politics in Allende’s Chile», sollte die Staatsführung auf Grundlage von Echtzeitdaten politische Entscheidungen auf Knopfdruck treffen und die wirtschaftlichen Parameter konfigurieren – eine Art computergestützter Kommunismus.

Damals gab es noch nicht die technischen Mittel; das Projekt scheiterte. Doch mit den Fortschritten der Informationstechnologie scheint diese Utopie möglich: Die Stadt Boston hat unter der Ägide des digital affinen Bürgermeisters Martin J. Walsh eine Kooperation mit dem Navigationsdienstleister Waze und dem Fahrvermittler Uber abgeschlossen. Der Deal: Die Stadtverwaltung teilt Waze Streckenschliessungen mit, im Gegenzug erhält die Stadt Einsicht in den wertvollen Datenstrom. Die Verkehrsdaten enthalten unter anderem Live-Updates über Staus, Unfälle und andere Vorkommnisse. Auf dem City Score können die Datenanalysten die «Performanz» in Echtzeit ablesen: wie viele Schlaglöcher es gibt, wie die Ampelschaltung funktioniert, wie viele Besucher gerade in Bibliotheken sind und sogar die Wahrscheinlichkeit von Schiessereien. Die Vision ist, dass die Stadt zum Computer wird.

Sie sind der Cursor

Es verwundert daher nicht, dass auch Google an der Software für smarte Städte tüftelt. Die Städtetochter Sidewalk Labs hat in New York 7000 ausrangierte Telefonzellen zu WLAN-Hotspots aufgerüstet. Und in Toronto plant Google eine High-Tech-Stadt aus dem Boden zu stampfen, in der Taxibots die Leute von A nach B kutschieren. In seinem Buch «Triumph of the City» argumentiert der Harvard-Ökonom Ed Glaeser, dass Städte soziale Suchmaschinen seien, die dazu dienten, ähnlich gepolte Menschen zusammenzubringen. Und das ist bekanntlich Googles Kerngeschäft.

Der Programmierer Paul McFedries entwickelte diesen Gedanken weiter. Er schreibt: «Die Stadt ist ein Computer, das Strassennetz das Interface, und Sie sind der Cursor. Ihr Smartphone ist das Input-Gerät.» Smartphones sind Messgeräte, mit denen wir nicht die Stadt vermessen, sondern die uns bei deren Exploration vermessen. Doch wenn die Stadt ein Computer ist, was ist dann der Bürger? Ein Prozessor? Ein Chip?

Der Maschinenethiker Jathan Sadowski und der Rechtswissenschafter Frank Pasquale schreiben in ihrem Paper «The spectrum of control: A social theory of the smart city»: «Der Stadtbewohner wird besser verstanden als ein urbaner Cyborg: einer, der nicht in der Stadt lebt, sondern Teil der Stadt ist.» Die «Cyborgifizierung des Stadtlebens» werfe kritische Fragen nach Teilnahme, sozialer Gerechtigkeit und Privatsphäre auf. Die Steuerungsformen in computerisierten urbanen Systemen wie etwa Überwachungskameras oder biometrische Authentifizierungssysteme stellten ein «biopolitisches Management» im Foucaultschen Sinn dar, mit dem Individuen oder ihre in Daten zerfallenen digitalen Doppelgänger, die Dividuen, auslesbar und kontrollierbar sind.

Kein Raum für Protest

Durch die Sensoren und Kameras spanne sich ein Panoptikum auf, in dem jedes Verhalten überwachbar wird: Wer raucht in seiner Wohnung? Wer frequentiert wie häufig welche Etablissements? Wer erhält nachts Damenbesuch? Wer erscheint zu spät auf der Arbeit? Plötzlich wird jede Abweichung von der Norm sichtbar – und wird eine Diktatur der Daten etabliert. Biometrische Systeme, die funktional und/oder physisch unsichtbar seien, würden über uns herrschen und uns möglicherweise autoritativ den Zugang zu öffentlichen Einrichtungen wie Bibliotheken oder Schwimmbädern verweigern, befürchten Sadowski und Pasquale. Die Autoren sehen die Offenheit der Stadt bedroht in einer Umgebung, in der Tech-Giganten die Zugangs- und Nutzungsbedingungen festlegen: «Indem polizeiliche Aufgaben an technologische Systeme wie algorithmische Agenten, Robotik und Sensoren delegiert werden, werden Möglichkeiten für Dissens und Protest minimiert.»

Wie eine solche Dystopie aussehen könnte, zeigt sich derzeit in China. In Städten wie Shenzhen, Chongqing und Fuzhou werden Gesichtserkennungssysteme installiert, die Verkehrssünder, die bei Rot über die Strasse laufen oder zu schnell fahren, identifizieren und auf einem riesigen Bildschirm öffentlich an den Pranger stellen. Mittelalterliche Methoden paaren sich mit moderner Informationstechnologie. Auch in der Ukraine schaut Big Brother zu: Im Januar 2014 erhielten Demonstranten bei Protesten in Kiew von den Behörden eine Meldung auf ihr Smartphone: «Lieber Abonnent, Sie sind Teilnehmer eines Massenaufstands.» Die Botschaft, die im Subtext mitschwang, lautete: «Wir beobachten Sie!»

Jeder wird erfasst

Der französische Philosoph Gilles Deleuze notierte in seinem 1995 erschienenen «Postskriptum über die Kontrollgesellschaften»: «Félix Guattari malte sich eine Stadt aus, in der jeder seine Wohnung, seine Strasse, sein Viertel dank seiner elektronischen (dividuellen) Karte verlassen kann, durch die diese oder jene Schranke sich öffnet; aber die Karte könnte auch an einem bestimmten Tag oder für bestimmte Stunden ungültig sein; was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die – erlaubte oder unerlaubte – Position jedes einzelnen erfasst und eine universelle Modulation durchführt.»

Während Kontrolle in der Disziplinargesellschaft in der Fabrik ausgeübt wurde, wird sie in der Kontrollgesellschaft durch Computer sichergestellt. Die Frage ist, wer die Verfügungsberechtigten in einer Smart City wären, wo ein Grossteil der Infrastruktur von privaten Konzernen wie Google oder Cisco bereitgestellt wird. Darf man in einer Google City autonome Fahrzeuge nur nutzen, wenn man ein Gmail-Konto hat? Oder fährt das autonome Fahrzeug bestimmte Stadtgebiete schon gar nicht an, wenn die Bordcomputer feststellen, dass dort eine hohe Kriminalitätsrate herrscht oder der Fahrgast einen (zu) hohen «Risiko-Score» hat? Der Code selektiert subtil. Die Vorstellung, dass das sichere Überqueren einer Fussgängerampel von der Zahlung einer Mikrotransaktion abhängig gemacht wird und etwaige Vergehen instantan bestraft werden, ist ein Szenario, das längst auch in Publikumsmagazinen wie «The Atlantic» diskutiert wird.

Icons urbanen Lebens

Es scheint in diesen auf Optimierung getrimmten urbanen Systemen («coded space») keinen Raum für Regelübertretung zu geben. Jede Interaktion ist determiniert, alles läuft in vorgegebenen Bahnen. Wo Tech-Konzerne mit der Steuerung der Ampelschaltung automatisierte Verwaltungsakte vollziehen, wird der Code zum Gesetz. Der Architekt Rem Koolhaas formulierte in einem Positionspapier für die EU-Kommission eine geharnischte Kritik: «Die Bürger, denen die Smart City zu dienen vorgibt, werden wie Kinder behandelt. Wir sind gefütterte, niedliche Icons des urbanen Lebens, ausgestattet mit harmlosen Geräten, kohärent in angenehmen Diagrammen, wo die Bürger und Geschäfte von mehr und mehr Dienstleistungen umgeben sind, die Kontrollblasen kreieren.» Individuen degenerieren zu Steuerungsobjekten, die in den Zentralen der Entscheider nur noch als Kuchendiagramme auftauchen. Der Dataismus macht alles gleichförmig: vom Abfall über den Verkehr bis hin zur Politik. Der Bürger ist im Kontrollnetzwerk der Smart City bloss ein Datenpaket.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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