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Urbanität mit Rufzeichen
Spectrum

Richard Sennetts Plädoyer für „Die offene Stadt“: so wichtig wie aus der Zeit gefallen.

6. Oktober 2018 - Wolfgang Freitag
Die offene Stadt“: Ein solcher Titel ist in Zeiten, da sich alles ums Abschließen, Ausschließen, um Zäune, Grenzen, ums Auseinanderdividieren dreht, fast schon eine Provokation. Knapp 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat sich die vormals hochgeschätzte Idee der Öffnung vom Sehnsuchtsziel zur Drohgebärde gewandelt, und wo einst das Gemeinsame gesucht wurde, scheint heute nur mehr das Trennende von Belang.

Dennoch: Richard Sennett macht „Die offene Stadt“ zu seinem Programm. Ja schlimmer noch: In Tagen, da die Vereinfacher allenthalben gefeiert werden, redet der US-amerikanische Soziologe der Komplexität das Wort. Und verweist auf – wen sonst? – die alten Griechen. Schon bei Aristoteles finde sich ein Plädoyer für die Verschiedenheit, denn: Aus ganz gleichen Menschen könne „nie ein Staat entstehen“. Sennett weiter: „So nahm Athen in Kriegszeiten eine Reihe von Stämmen auf und auch Exilanten, die dann in der Stadt blieben. Obwohl der Status dieser Flüchtlinge unklar und unsicher blieb, brachten sie doch neue Denkweisen und neue Handwerke in die Stadt.“ Im Übrigen hätten „fast alle antiken Autoren, die über die Stadt schrieben“, festgestellt, „dass vielfältige, komplexe Ökonomien einträglicher seien als ökonomische Monokulturen“.

Die Syntax der Stadt

Auch stadtplanerische Überlegungen macht Sennett am Altgriechischen fest: am Unterschied zwischen Agora und Pnyx. Hier der Hauptplatz der Stadt, an dem so ziemlich alles geschehen konnte, und das gleichzeitig, da die streng geordnete Welt des Amphitheaters mit seinem klar abgegrenzten Nebeneinander der Menschen und Hintereinander der Funktionen. „Diese beiden Räume“ verkörperten, so Sennett, „unterschiedliche Gefahren“: „Platon fürchtete die geisttötende Macht der Rhetorik in der Pnyx. Die passive, sitzende Menge konnte zum Opfer der Worte werden.“ Die Agora wiederum mochte „in kognitiver Hinsicht geisttötend“ sein, „da sie für eine Anhäufung zusammenhangloser Eindrücke sorgte“.

Dass Sennett eher dem Agora-Modell anhängt, wird nicht zuletzt angesichts des Buchtitels niemanden überraschen, aber: „Wenn man den stimulierenden Charakter der Agora nutzen, den verwirrenden Charakter aber möglichst gering halten möchte, muss der Ort in einer Weise markiert werden, die Orientierung ermöglicht.“ Markierungen vergleichbar Interpunktionen, die ja auch in der Abfolge der Worte für die Betonung der Struktur sorgen: Rufzeichen oder Strichpunkte im urbanen Gefüge, die auf je eigene Weise durch die Syntax der Stadt führen und zugleich die Besonderheit einzelner Orte definieren. Denn: „Der heilige Gral der Stadtplanung ist die Schaffung von Orten mit einem besonderen Charakter.“

Sennetts stadtplanerisches Vademecum weist über Antike, Mittelalter, Gründerzeit bis zu jenen Projekten, an denen er selbst beteiligt war, auch solchen, die gescheitert sind – und warum sie gescheitert sind. Über allem steht die tiefe Überzeugung, dass die Zukunft unserer Städte nicht „in einer selbstzerstörerischen Betonung von Kontrolle und Ordnung“ liegen könne, sondern in der Bereitschaft, Komplexität und Vielfalt von Bedeutungen „über deren bloße Klarheit zu stellen“. Das festzuhalten, sollt's keinen Weisen aus Amerika brauchen, dafür reicht schlichter Hausverstand. Aber den, wir wissen es, gibt's offenbar nur mehr in der Billa-Werbung.

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