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Die neue Sparsamkeit
Neue Zürcher Zeitung

Der soziale Wohnungsbau ist wieder im etablierten Architekturdiskurs angekommen. Das zeigt nicht zuletzt der Mies van der Rohe Award.

12. Oktober 2018 - Michael Klein
Ein beliebtes Bonmot sagt, dass es der Architektur immer dann gutgehe, wenn die Auftragslage schlecht sei. Werde viel gebaut, fehle die Zeit für eine eingehende Auseinandersetzung mit den Aufgaben der Disziplin. Die Behauptung ist natürlich Unsinn – keine Aufträge bringen den Büros bestenfalls Sorgen. Dennoch sollte man, ziemlich genau zehn Jahre nachdem der Dow Jones an der New Yorker Wall Street eingebrochen ist, noch einmal daran erinnern, dass ein Umdenken in den Architekturdebatten stattgefunden hat. Im Architekturzentrum Wien führt das eine Ausstellung zum Mies van der Rohe Award vor Augen: Im Zentrum stehen noch einmal die Siegerprojekte aus dem vergangenen Jahr, die sich um Strategien für bezahlbares Wohnen bemühen.

Seit Ende der achtziger Jahre kommt alle zwei Jahre eine Jury zusammen, um im Namen der Europäischen Union ein Preisgeld von 60 000 Euro an die Architekten der wichtigsten fertiggestellten Bauten sowie einen Nachwuchspreis zu vergeben. In den vergangenen Jahren konnte man in diesem Rahmen meist prestigeträchtige Vorzeigebauten bewundern: Konzerthallen, Museen oder Sportstätten, auch Verkehrsbauten wie Flughäfen oder Bahnhöfe – Gebäude also, denen eine grosse Öffentlichkeit zuteilwurde, in die viel Geld geflossen ist. Endlich aber konnten zwei Wohnbauten überzeugen: DeFLAT Kleiburg von NL Architects und XVW architectuur in den Niederlanden sowie das Navez Social Housing von MSA/V+ in Belgien, die den Young Talent Architecture Award erhielten.

Symbolischer Preis

Das Siegerprojekt ist ein Monster. Über 400 Meter und 11 Geschosse erstreckt sich der Betonriegel Kleiburg in der Siedlung Bijlmermeer im Südosten Amsterdams. Er war einer der letzten Reste, die noch standen, nicht wegsaniert worden waren von der Grosssiedlung, die auf Siegfried Nassuths Masterplan aus den sechziger Jahren zurückgeht. Bijlmermeer sollte eigentlich 40 000 Bewohnern eine moderne, durchgrünte Alternative zum Stadtzentrum bieten, sah sich aber bald mit ähnlichen Problemen konfrontiert, wie andere funktionalistische Projekte auch: spärlich ausgebildeter öffentlicher Raum, wenig soziale Infrastruktur, hohe Fluktuation und soziale Segregation. Die Siedlung war bald ein Anlaufpunkt für all jene, die am Wohnungsmarkt nicht anderswo unterkamen, sie galt als gesichts- und identitätslos. Bis 1992 dann ein Transportflugzeug der El Al in die Siedlung stürzte. Mit dem Unfall war Bijlmermeer zurück in die Aufmerksamkeit gekehrt, mit ihm begann der Ab- und Umbau des Quartiers.

Als 2011 die Entscheidung über den weiteren Verbleib des letzten, nun leerstehenden Gebäudes anstand, mehrten sich aber die Stimmen, man solle es nicht abreissen, sondern renovieren. Der veranschlagte Preis stand allerdings in keiner Relation zu einem wirtschaftlich vertretbaren Ergebnis. Man entschied, ein anderes, ökonomisch tragbares Nutzungsmodell für das Gebäude zu suchen, und bot es für den symbolischen Betrag von einem Euro an. Der realisierte Vorschlag von DeFLAT und den beiden Architekturbüros sah vor, die Renovierung auf die gemeinsame Infrastruktur des Hauses zu beschränken und die Wohnungen zu verkaufen. Die Eingriffe zielten darauf ab, den ursprünglichen Entwurf hervorzukehren und Neues zu ermöglichen. Hier wurde die Fassade nicht – wie sonst oft – bis zur Unkenntlichkeit differenziert, sondern mit einem durchgängigen System vereinheitlicht, nachträglich hinzugefügte Lifte wurden nach innen verlegt, Durchgänge grosszügiger gestaltet, Lagerräume vom Erdgeschoss in weiter oben liegende, unbelichtete Zonen verlegt, um die Sockelzone für andere Nutzungen zu öffnen.

Die Wohnungen selbst blieben unrenoviert, die Mehrheit wurde sogar im Rohzustand für den Selbstausbau verkauft, die übrigen sind heute Mietwohnungen. Öffnet man mit dem Verkauf der Gentrifizierung das Tor? Nicht unbedingt, meint Xander Vermeulen Windsant, einer der Preisträger. Es gebe in Amsterdam insgesamt zu wenig leistbaren Wohnraum und die Wohnungen von Kleiburg seien zu einem Preis verkauft worden, bei dem der monatliche Aufwand für eine Kreditrückzahlung etwa im Bereich einer Miete im sozialen Wohnungsbau liege, wenn man beim Ausbau selbst Hand anlege. Der Verkauf hat neue gesellschaftliche Gruppen angezogen und nach Bijlmermeer gebracht, sie sind es aber auch, die dem sozialen Stigma des Ortes aktiv etwas entgegensetzen könnten.

Altbestand als Ressource

Trotz den Immobilien- und Bankenkrisen hat sich die Konjunktur wieder erholt, so scheint es, vieles aber hat sich seither verändert: Rezession und Sparprogramme hinterliessen tiefe Spuren in den öffentlichen und privaten Kassen. Besonders dramatisch waren nicht nur die Auswirkungen der Spekulationsblasen und dass die grossen Aufträge ausblieben; der regelrechte Boom von Investitionen in die stabile Währung Beton treibt den Preis für das Wohnen in die Höhe und strukturiert die Produktion von Stadt von Grund auf neu. Auch wenn die Politik diese Entwicklung endlich ernst zu nehmen scheint, wie man angesichts von Wohnungsgipfeln in Kanzlerämtern (Berlin) annehmen darf: Wohnraum wird seit langer Zeit nicht mehr als Grundversorgung gesichert, sondern als Ware behandelt.

Kleiburg stellt sicherlich kein Modell dar, das sich einfach auf andere Fälle übertragen lässt. Nicht überall werden Grossstrukturen günstig vergeben, und dass mit Eigentumsbildung die heutige Wohnungsfrage nicht gelöst werden kann, steht ebenfalls ausser Frage. Was Kleiburg aber zukunftsweisend zeigt, ist, dass Altbestand, so problembehaftet er manchmal auch sein mag, eine enorme Ressource darstellt. Und dass die Herausforderung, tragfähige Modelle jenseits des etablierten Repertoires zu entwickeln, herausragende Architektur hervorbringen kann.

Beim Mies van der Rohe Award fanden sich auch weiterhin Kulturbauten unter den Finalisten: ein Gemeindehaus der Kirche in Ribe von Lundgaard & Tranberg, Gedenkstätten wie das Katyn Museum von BBGK, Kalina und Maksa oder jenes des Internierungslagers in Rivesaltes von Rudy Ricciotti. Dennoch fällt auf, dass das kommunale Alltagsleben einer neuen unaufgeregten Architektur zur Anerkennung verhilft: eine temporäre Markthalle von Tengbom, ein kleiner Aussichtsturm von Monadnock, Pumpenstationen von Johansen Skovsted Arkitekter, eine Gemeinschaftswerkstatt von Boidot Robin architectes. Alison Brooks Architects zeigen ausserdem gemeinsam mit dem Bezirk Brent in London, South Kilburn, wie man einen öffentlichen Wohnungsbau in einem Viertel aus den sechziger Jahren, das schon bessere Tage gesehen hat – und dem man das auch ansieht –, ergänzen und stärker in seine Umgebung einbetten kann.

Einige solcher Projekte des Mies van der Rohe Award dürfen als Ansätze verstanden werden, die heutigen ökonomischen Herausforderungen in der Architektur zu verhandeln. Viele von ihnen warten mit grundsoliden Lösungen auf, nur manchmal schimmert eine Sehnsucht durch nach einer Zeit, in der die Welt noch einfacher begreifbar schien, bisweilen in einer Architektur, die in ihrer Nüchternheit dem Diktum der Wirtschaftlichkeit fast schon erlegen scheint. Was offen bleibt, ist, wie wir die Ästhetik der neuen Sparsamkeit lesen sollen. Ist es der Wegfall der grossen Aufträge in den letzten Jahren, der diese Architektur hervortreten liess? Oder aber haben wir Krise und Austeritätsprogramme mittlerweile so sehr verinnerlicht, dass der Entwurf anderer Welten geradezu unvorstellbar scheint? Die nächste Nominierung wird es zeigen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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