Artikel

In der Stadt dürfen Bäume nicht mehr dicht an dicht stehen, auf Balkonien aber schon?
Neue Zürcher Zeitung

Zwischen Mailands Hochhäusern wird eine neue Bibliothek der Bäume eingeweiht. Die Designerin Petra Blaisse stellt das Konzept für die Giardini di Porta Nuova in Zürich aus und wundert sich über so manch eine Sicherheitsvorschrift.

16. Oktober 2018 - Antje Stahl
Der Mailänder sieht das Haus vor lauter Bäumen nicht mehr, das dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Auf den Balkonen der Zwillingstürme, die der italienische Architekt Stefano Boeri dem Quartier Isola im Norden von Mailand vor die Füsse pflanzte, wuchert das viele Grünzeug jedenfalls inzwischen nur so vor sich hin. Die Luxusappartements, die sich in diesem vertikalen Wald, im Bosco Verticale, befinden, trafen bis zum Ende der Bauzeit 2014 zwar nicht bei jedem auf Begeisterung. Aber die prämierten Türme sollten sich bald als ökologisches Geschenk und ziemlich nützlicher Paravent herausstellen: Aus bestimmten Blickwinkeln wird einem der Anblick des Torre Unicredit zumindest erspart – dieser schrecklichen Bankfestung von César Pelli, bei der man ständig das Gefühl hat, gleich schiesse die Turmspitze wie eine Rakete ins All. Wird die nigelnagelneue «Bibliothek der Bäume», die Ende Oktober offiziell eingeweiht werden soll, Ähnliches leisten können?

Zu Füssen des vertikalen Walds wurden junge Himalayabirken, Silberpappeln und Chinesische Wildbirnen so in die Giardini di Porta Nuova gesetzt, dass sie viele schöne und mitunter konzentrische Kreise bilden. Dazwischen gibt es Holzbänke, Liegestühle und Spielplätze. Vielleicht soll das eine zeremonielle Andacht sein. Oder eine Hommage an das Punkteuniversum der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama.

Retrospektiv gesehen, ist es natürlich kein Wunder, dass ausgerechnet der Gestaltungsplan von Petra Blaisse und ihren vielen Projektpartnern 2004 den Wettbewerb für das Finale des wohl wichtigsten Master- beziehungsweise Sanierungsplans Europas gewann. Die Designerin aus Amsterdam ist berühmt dafür, dass sie Innen- mit Aussenräumen zusammenführt, architektonische Dialoge zwischen Fassaden und Gärten entstehen lassen kann: Biblioteca degli Alberi und Bosco Verticale, eine Baum-Bibliothek am Wald – besser hätte man sich das nicht ausdenken können. Trotzdem überrascht einen nach all den Jahren, dass nun wirklich und tatsächlich ein Park zwischen den Hochhäusern Unicredit, Pirelli und Bosco Verticale entstanden ist, dass eine zehn Hektaren grosse Fläche die Quartiere Isola im Norden, Garibaldi im Westen und Varesine im Südosten verbindet. In den vergangenen Jahren rauschte man an diesem Geschäftsviertel, das den Expo-Besuchern 2015 Mailands Wachstumsvermögen vor Augen führen sollte, lieber so schnell wie möglich mit dem Taxi vorbei. Ab sofort darf man zu Fuss von der Porta Nuova zu den alten Häuserzeilen spazieren, die so lange auf diesem verlorenen und staubigen Posten überlebten. Sogar mit dem Velo darf man sich hier fortbewegen.

Die Wegführung ist sehr grafisch und verläuft über an- und absteigende Diagonalen, die zwischen den umliegenden Hotspots, dem Mode-Quartier, dem Centrale, über U-Bahnen und Strassen hinweg gespannt wurden. Das finale Netz, erzählt Petra Blaisse, habe ihr Büro Inside Outside in Amsterdam erst nach dem Wettbewerb in Anlehnung an die vor allem auch unterirdisch gegebene Infrastruktur berechnet. Anhand von schwarzen und weissen Klebestreifen kann man sich gegenwärtig in Zürich sogar ein verkleinertes Bild davon machen. Seit der Eröffnung der Blaisse-Retrospektive (ein grosses Wort für das, was man dann tatsächlich im Hauptgebäude der ETH vorfindet) führen diese Linien durch den Semper-Bau wie die Wege durch die Giardini di Porta Nuova. Während der Vernissage sagte jemand, die Schau in Zürich sei wie eine Einladungskarte in 3-D für die Einweihung der Parklandschaft in Mailand. Schlecht ist der Vergleich nicht. In weissen Tüten wächst sogar ein wenig Gras und weisse Bürstenborsten in Kreisen stehen offenbar für die Bäume.

Urban Farming

Viele Jahre liessen die italienischen Behörden und der Entwickler überhaupt nichts von sich hören. Bis Petra Blaisse 2008 zum Telefon griff und sich nach der Entschädigung erkundigte, die laut Vertrag dem Sieger ausbezahlt werden würde, sollte das Projekt nicht realisiert werden. Schliesslich durfte sie doch noch die Bibliothek mit Rot-Ahorn, Zierapfel, Weiss-Esche, Tulpenbäumen und Babylonischen Trauerweiden ausstatten – die Liste der Baum-Auswahl, die sie der Redaktion netterweise zur Verfügung gestellt hat, ist sehr lang und exotisch. Fast könnte man meinen, Blaisse wolle hier dem botanischen Garten, der Bildungsreise durch die Kontinente in Italien noch ein letztes Denkmal setzen.

In den umliegenden Ländern überzeugt ja längst ein anderer landschaftsarchitektonischer Kunstgriff. Urban Farming heisst die grosse Zukunftsvision für unsere Städte, wie nicht zuletzt der Masterplan von Herzog & de Meuron für das Dreispitzareal in Basel beweist. Auch dort sollen Hochhäuser, genau genommen drei Wohntürme, entstehen. Anders als in Mailand werden ihnen die weitläufigen Grünflächen jedoch kaum exotisches Flair, sondern eher so etwas wie dörfliche Bodenständigkeit verleihen: Auf den Bildern, die die Jury überzeugten, kann man natürlich nicht erkennen, ob die «didaktische Lebensmittelproduktion» Stadtkindern wieder beibringen soll, Kartoffeln anzupflanzen und Karotten zu ernten; aber die Pferde, die vor einem Kirchturm galoppieren, sollen die Basler definitiv wieder zurück zum Glauben an das idyllische, behütete Landleben führen. Landschaftsarchitektur will eben nicht nur eine ökologische, sondern auch eine pädagogische, wenn nicht sogar gesellschaftspolitische Funktion übernehmen. Ob sie diese allerdings erfüllen kann, hängt von anderen Mitspielern ab.

Verstecken verboten

Die sicherheitsverliebte und durchbürokratisierte Gegenwart verlangte von Petra Blaisse und ihren Partnern, wie sie erzählt, dass die Bäume einen Mindestabstand von neun Metern haben und die Gräser, aus denen bereits hübsche bunte Blumen herausragen, nicht höher als fünfzig Zentimeter in die Höhe spriessen. Solche Auflagen sind der Albtraum für jeden Designer und verdeutlichen vielleicht zum ersten Mal, wie die furchtbare Metapher der «gesellschaftlichen Auswüchse» eigentlich entstehen kann: Je undurchsichtiger ein Park werde, desto grösser würden die Verstecke für Roma, Geflüchtete, Drogendealer, gibt Blaisse in Zürich zu verstehen. So werden Freiräume buchstäblich beschnitten. Es könnte leider sogar sein, dass diese grosszügigen Giardini di Porta Nuova umzäunt werden müssten.

Aber die Gestaltungs- und Bauvorschriften für Bäume, Gräser und Zäune kündigen noch eine weitere bizarre Entwicklung an: Anders als im Hochhaus, in Stefano Boeris Balkonien, scheint es unten in der Stadt nicht mehr möglich zu sein, einen dichten Wald zu pflanzen. Und wenn man die Symbolik solch einer Verlagerung der Natur von der Erde in die Höhe ernst nimmt, werden in Zukunft nur noch wenige Menschen Zugang zum literarisch so viel beschriebenen Unterschlupf haben. Dave Eggers liess eine Figur aus seiner dystopischen Erzählung «The Circle» zu guter Letzt ja nicht umsonst in den Wald fliehen. Nur dort, dachte Mercer Medeiros, könne er sich vor der Datensammelwut und der Überwachungstechnologie retten. Auch wenn der Romanheld sich geirrt hat – was in einem vertikalen Wald, hinter all den Pflanzen und Bäumen in über hundert Metern Höhe vor sich geht, kann man zumindest von der Strasse aus nicht mehr sehen.
Anlässlich der Ausstellung in der ETH Zürich von Petra Blaisse wird Rem Koolhaas am Donnerstagabend um 18 Uhr 30 einen Vortrag über Inside Outside halten.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: