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Die Marxisten von der ETH
Neue Zürcher Zeitung

Eine Gruppe junger Architekten sorgte 1972 mit einem klassenkämpferischen Pamphlet über die Bauwirtschaft für einen Skandal. Seinen Ursprung hatte das Buch «Göhnerswil – Wohnungsbau im Kapitalismus» in einer pikanten Hochschulaffäre – ein Blick zurück.

10. Dezember 2018 - Marc Tribelhorn
Im Herbst 1970 erreicht die universitäre Protestbewegung auch die altehrwürdige ETH Zürich – und zwar in Person des Gastdozenten Jörn Janssen. Auf Druck der Studierenden und des Mittelbaus hat ihn das Architekturdepartement aus dem pulsierenden Berlin geholt.

Er soll dem als verschult, konservativ und dogmatisch kritisierten Curriculum in der Limmatstadt neue Impulse verleihen. Janssen lässt denn auch seine Studenten nichts am Zeichentisch entwerfen, sondern stellt Fragen nach der gesellschaftlichen Relevanz der Architektur. In seinem «Experimentierkurs» zu «ökonomischen Kriterien für Planungsentscheidungen» propagiert er «forschendes Lernen», wie es unter antiautoritären Professoren damals Mode ist.

In seinem Seminar wird hierarchiefrei diskutiert, basisdemokratisch entschieden sowie Marx und Gramsci zitiert. Bald gilt es als Hort «revolutionärer» Studenten, und die NZZ ätzt in ihren Spalten über die «befremdlichen Thesen» des «Agitators» Janssen. Die Angst vor einer kommunistischen Indoktrination ist während des Kalten Kriegs allgegenwärtig, auch an der ETH. Wehret den Anfängen!

«Revolutionäre Schwatzbude»

Die Schulleitung schaut dem Treiben nicht lange zu. ETH-Präsident Hans Hauri entlässt im Juni 1971 Janssen sowie zwei weitere Dozenten, die für die «Experimentierphase» eingestellt worden sind. Begründung: Die ETH «betrachtet die Schulung in politischer Ideologie nicht als Lehraufgabe». In der Presse erklärt Hauri vage, im Unterricht sei «eine politische Aktivität entwickelt worden (. . .), die auf den Umsturz unseres Staatssystems hinwirkt».

Die NZZ applaudiert, damit sei dem Versuch Einhalt geboten worden, die ETH in «eine revolutionäre Schwatzbude umzuformen». Und die Zeitung greift auch noch zu einem grotesken Vergleich: Für den linken Janssen seien Kapitalisten an allem Übel schuld, wie es die Juden für die Nationalsozialisten waren.

Die Studenten reagieren empört auf den Entscheid, rufen zu Störaktionen auf und besetzen das Büro von Präsident Hauri, der Sicherheitskräfte aufbieten muss, um aus dem Gebäude zu gelangen. Der Fachverein Architektura prozessiert gegen den Hinauswurf der Gastdozenten bis vor Bundesgericht, jedoch erfolglos.

Die Hochschulaffäre ist damit aber nicht zu Ende. Eine Gruppe von sieben Studenten und Assistenten führt die Forschungen weiter, die sie in Janssens Seminar begonnen haben. Als «Autorenkollektiv an der Architekturabteilung der ETH Zürich» veröffentlichen sie schliesslich im Sommer 1972 das Pamphlet «Göhnerswil – Wohnungsbau im Kapitalismus».

In den Medien ist die Rede von einer «Buchbombe ohnegleichen». Und tatsächlich stürmt die Schrift, für die Janssen ein Nachwort verfasst hat, sogleich die Schweizer Bestsellerliste. Verkauft werden rund 26 000 Exemplare. Die Autoren knöpfen sich darin den Massenwohnungsbau der Ernst Göhner AG vor.

Meister der Effizienz

Der Name Göhner steht damals für den berühmtesten Bauherrn des Landes. Der 1900 in kleinbürgerlichen Verhältnissen in Zürich geborene Ernst hat bereits als Zwanzigjähriger den elterlichen Glaserei- und Schreinereibetrieb übernommen und sich zum international tätigen Grossunternehmer hochgearbeitet.

Er geht Risiken ein, ist kaltschnäuzig und schlitzohrig. Mittels Standardisierungen von Produkten erzielt er Effizienzgewinne. Während der Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler den Detailhandel in der Schweiz revolutioniert, rationalisiert sein Freund Göhner den Wohnungsbau. Das Zauberwort lautet «Vorfabrikation». In Vororten von Zürich und Genf realisiert er ab den 1960er Jahren auf der grünen Wiese und in horrendem Tempo gigantische Wohnsiedlungen, deren Häuser aus vorgefertigten Elementen bestehen.

Seine Ernst Göhner AG macht als Generalunternehmerin alles selbst – vom Landkauf über den Bau und die Innenausstattung bis zum Verkauf oder der Vermietung. Die grauen, gesichtslosen Bauten sind nichts für Ästheten, aber sie lindern die Wohnungsnot, die den Wirtschaftsaufschwung und die Wachstumseuphorie nach dem Zweiten Weltkrieg begleiten.

Idyllische Bauerndörfer mutieren in wenigen Jahren zu Schlafstädten mit Plattenbauten für die Mittelschicht, wie zum Beispiel Volketswil im Zürcher Oberland. Dort stampft Göhner die Siedlung «Sunnebüel» mit 1114 Wohnungen aus dem Boden. Es ist dieses «Göhnerswil», das Jörn Janssens Architekturstudenten zum Gegenstand ihrer «Untersuchung über die Bedingungen und Auswirkungen der privatwirtschaftlichen Wohnungsproduktion» auserkoren haben.

Sagenhafte Gewinne

In der 242-seitigen Schrift deklinieren sie am Beispiel des «Sunnebüel» die marxistische Mehrwerttheorie durch. So soll die Ernst Göhner AG mit ihrer Wohnbauproduktion sagenhafte Gewinne eingestrichen haben, die in andere Geschäftsbereiche der Firmengruppe gepumpt worden seien, obwohl dieser Mehrwert den Bauarbeitern zu verdanken gewesen sei.

Diese angebliche Ungerechtigkeit wird schon zu Beginn des Buches polemisch-plakativ dargestellt – mit Bildern der Villa Göhners am Zugersee, des Plattenbaus in Volketswil und einer Baubaracke von Fremdarbeitern. Gegeisselt wird zudem die planerische Inkompetenz der Standortgemeinden, die von der Ernst Göhner AG geschickt und ganz legal ausgenutzt wird.

Tatsächlich hat sich die Volketswiler Bevölkerung deutlich gegen das Bauprojekt «Sunnebüel» ausgesprochen – vor allem wegen der teuren Erschliessung mit Infrastruktur, die mit Steuergeldern finanziert werden muss. Der Zürcher Regierungsrat ist dem mächtigen Göhner indes zu Hilfe geeilt und hat den Beschluss der Gemeinde als «unzweckmässig» zurückgewiesen.

Konstruktive Kritik oder Verbesserungsvorschläge finden sich im Buch allerdings nicht. Es schliesst mit einem Zitat von Friedrich Engels: «Um dieser Wohnungsnot ein Ende zu machen, gibt es nur ein Mittel: die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen.»

Ghettos der Mittelschicht?

Das «Magazin» des «Tages-Anzeigers» lobt die Ausführungen in einem Vorabdruck als «reichhaltig, aufschlussreich, lohnend». Eine derartige Durchleuchtung der Vorgänge des Wohnungsbaus habe es bisher nicht gegeben. In der Zürcher «Arbeiterzeitung» schimpft das SP-Schwergewicht Helmut Hubacher über den «organisierten Diebstahl», die «Gewinnrafferei und miese Mentalität» der Ernst Göhner AG: «Wie lange sollen wir diese modernen Raubritter noch dulden?»

Die bürgerlichen Blätter hingegen sehen das anders. Die «Handelszeitung» schreibt von einem «pseudowissenschaftlichen Machwerk», die «Tat» vom «Versuch einer Manipulation»; und die «Weltwoche» spottet: «Marx macht’s möglich.»

Die angeschossene Ernst Göhner AG wehrt sich mit einer grossangelegten Inseratekampagne und eigenen Berichten gegen die «Diffamierung des privatwirtschaftliche Wohnungsbaus» durch «politische Agitatoren». Doch selbst die NZZ bezeichnet die Abhandlung wegen der Nennung raumplanerischer Versäumnisse als «lesenswert», auch wenn «viele Thesen masslos überspitzt oder gar völlig absurd» seien.

«Göhnerswil» bleibt während Wochen in den Schlagzeilen. Nicht zuletzt, weil fast zeitgleich mit dem Erscheinen des Buchs das Schweizer Fernsehen den Film «Die grünen Kinder» von Kurt Gloor ausstrahlt, der die Göhnersiedlungen als trostlose «Ghettos» der konsumgetriebenen Mittelschicht zeigt, in denen vor allem die Kinder zu leiden hätten. Buch und Film sorgen für einen nachhaltigen Imageschaden für Göhners Wohnmaschinen.

Der Patron und Baupionier erlebt die Kritik an seinem Lebenswerk indes nicht mehr. Er stirbt im November 1971. Sein Vermögen fliesst in die Ernst-Göhner-Stiftung, die heute eine der bedeutendsten gemeinnützigen Stiftungen der Schweiz ist. Viele seiner damals verteufelten Siedlungen prägen noch immer das Siedlungsbild.
Im Rahmen der Ausstellung «Imagine 68» findet am 13. Dezember im Landesmuseum Zürich ein Themenabend über Architektur und Städtebau nach 1968 statt, an dem u. a. Jörn Janssen als Podiumsgast auftritt. Tickets unter reservationen@nationalmuseum.ch.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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