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Im Herzen Tangers verrottet ein prächtiges Jugendstil-Theater. Nun gibt es Zukunftsperspektiven
Neue Zürcher Zeitung

Zu seiner Zeit war das Gran Teatro Cervantes das grösste Theater Nordafrikas. Caruso trat hier auf, und zum ersten Mal wurde auf seiner Bühne ein Shakespeare-Stück auf Arabisch gespielt. Nachdem es mehr als vierzig Jahre lang dem Verfall preisgegeben war, soll es nun zu neuem Leben erweckt werden.

18. Februar 2019 - Beat Stauffer
Seit Jahrzehnten steht eine düstere Bauruine mitten in Tanger: das Gran Teatro Cervantes. Das einst prachtvolle Jugendstilgebäude, von einem reichen spanischen Geschäftsmann 1913 errichtet, ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Seit Jahrzehnten dem Verfall preisgegeben, dämmert das einstige Zentrum des lokalen Kulturlebens still vor sich hin. «Das Gran Teatro Cervantes ist eine einmalige Kulisse», sagt Florian Vetsch, Autor einer Anthologie über Tanger. «Eine morbide, verfallende Ruine mit einem hauchdünnen Schimmer des verblichenen Glanzes von einst.»

Shakespeare und Ringkämpfe

In den ersten drei Jahrzehnten seines Bestehens erlebte das Theater mit seinen über 900 Plätzen eine Blütezeit. Enrico Caruso und andere berühmte Sänger traten hier auf, Opern und Zarzuelas wurden aufgeführt, Flamenco-Truppen gaben Vorstellungen. Das aus Stahlbeton erbaute Theatergebäude mit seiner üppig dekorierten Jugendstilfassade wurde zum Treffpunkt des spanischen und jüdischen Kulturbürgertums, aber auch der Repräsentanten des internationalen Tanger.

Nachdem der Besitzer das Theater 1928 an den spanischen Staat verkauft hatte, versuchten die Verantwortlichen auch das marokkanische Publikum vermehrt einzubeziehen. So wurde hier Shakespeares «Othello» in arabischer Übersetzung aufgeführt. Das Cervantes diente aber auch als Bühne für Variété-Aufführungen und sogar für Ringkämpfe.

Die Erlangung der Unabhängigkeit Marokkos im Jahr 1956 und die Aufhebung des internationalen Status von Tanger läuteten den Niedergang des prächtigen Theaters ein. Die meisten Spanier verliessen die Stadt, und die jüdische Gemeinde, die einst rund 15 000 Personen gezählt hatte, schrumpfte auf ein paar wenige Dutzend. Ein paar Jahre noch überlebte das Teatro als Kino, bis es 1962 definitiv geschlossen wurde. Zehn Jahre später überliess der spanische Staat die ungenutzte Immobilie leihweise der Stadt Tanger. Doch diese verfügte über kein Budget für den Betrieb und hatte wohl auch kein grosses Interesse an diesem Bau, der an die spanische Fremdherrschaft erinnerte. Langsam zerfiel das Cervantes.

Wettlauf gegen die Zeit

Seit fast zwanzig Jahren versuchen Kulturschaffende und um den Erhalt des wichtigen Baudenkmals besorgte Bürger von Tanger, das Teatro Cervantes zu retten. Treibende Kraft war dabei der Autor und Historiker Rachid Taferssiti. 2004 gründete er mit Gleichgesinnten die «Association Cervantes d’Action Culturelle et d’Amitié Hispano-Marocaine» und betrieb unermüdlich Lobbyarbeit für den Erhalt des gefährdeten Baudenkmals.

Im Jahr 2007 gelang es den Aktivisten immerhin, die Mittel aufzutreiben, um die dringend nötige Abdichtung des Dachs und andere Sicherungsmassnahmen zu finanzieren. Doch für mehr reichte es nicht. Auch die Unterschutzstellung des Cervantes durch die marokkanischen Behörden konnte den langsamen Zerfall nicht aufhalten. Das Problem lag vor allem darin, dass der spanische Staat als Besitzer nicht bereit war, für eine im Ausland befindliche Immobilie Millionen auszugeben.

Ende 2015 kündete Spanien die Abtretung des Theaters an Marokko an. Doch erneut kam es zu Verzögerungen, dieses Mal aufgrund von Regierungswechseln in beiden Ländern und von unterschiedlichen Auffassungen über die Mitsprache der spanischen Regierung.

Doch nun ist, wenn nicht alles täuscht, ein Durchbruch erzielt worden. Nachdem sich Marokko verpflichtet hatte, das Theater zu renovieren und wieder zu eröffnen, beschloss die spanische Regierung am 9. Februar 2019, das Cervantes definitiv und unwiderruflich Marokko zu überlassen. Einzig die Validierung des Vertrags durch das spanische Parlament steht noch aus. Noch in diesem Frühjahr soll eine Studie zur Renovation in Auftrag gegeben werden. Dafür sind mindestens fünf Millionen Euro veranschlagt.

Ein Bau mit Symbolwert

Simon-Pierre Hamelin, Direktor der legendären Buchhandlung des Colonnes, geht davon aus, dass es nun rasch vorwärtsgehen wird und auch der politische Wille vorhanden ist, das alte Theater zu neuem Leben zu erwecken. Davon ist auch der Historiker Rachid Taferssiti überzeugt. Angesichts einer fehlenden Theatertradition in Marokko wird es allerdings nicht einfach sein, eine Bühne dieser Grössenordnung zu betreiben. Das Cervantes werde sich, wie schon in den dreissiger Jahren, für kulturelle Aktivitäten und Spektakel aller Art öffnen müssen, meint Taferssiti. Auch ein kleines Museum der reichen Theater- und Filmgeschichte von Tanger könnte an diesem einzigartigen Ort entstehen.

Die Renovation des alten Theaters hat eine Bedeutung weit über Tanger und Marokko hinaus. Denn das Gran Teatro Cervantes ist ein Symbol des einst durch verschiedene Kulturen und Religionen geprägten Maghreb, der in den vergangenen Jahrzehnten stets homogener geworden ist. Wenn es gelingt, das prachtvolle Jugendstilgebäude dereinst mit neuem Leben zu füllen, wird auch die Erinnerung an diese Zeiten wachgehalten, in denen vor allem Tanger eine wahrhaft kosmopolitische Stadt war. Und diese Erinnerung, so meinen viele, darf nicht verloren gehen, weder in Tanger noch anderswo.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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