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Klinker mit Wimpern
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Musterbeispiel für eine nachhaltige Stadtentwicklung: das neue Öko-Viertel Clichy-Batignolles in Paris. Querkraft Architekten aus Wien lieferten gemeinsam mit dem Pariser Partnerbüro Sam Architecture einen wichtigen Stadtbaustein – mit charmanten Extras.

15. Juni 2019 - Franziska Leeb
Paris befindet sich im Wandel. Dieser steht im Zeichen einer ökologischen und sozialen Erneuerung und der besseren Vernetzung des Zentrums mit der Peripherie. Die über Jahre größte Baustelle befand sich im 17. Bezirk, knapp am Boulevard périphérique, der das Stadtgebiet umschließenden Ringautobahn. Das neue Stadtquartier Clichy-Batignolles war als Standort für das olympische Dorf ursprünglich Teil der Pariser Bewerbung für die Olympischen Sommerspiele 2012. Umgesetzt wurde das Öko-Quartier auf 54 Hektar ehemaligem Bahngelände dennoch. Der Neue Justizpalast von Renzo Piano an der Nordseite ist das markanteste Signal für die infrastrukturelle Aufwertung der bislang vernachlässigten Vorstädte. Neben Büro- und Geschäftsflächen entstanden 3400 neue Wohnungen: sozialer Wohnbau, Wohnungen mit begrenzter Miete und im Eigentum. Die Abkühlung des Stadtklimas, die Nutzung erneuerbarer Energie, Niedrigenergie-Designs für Gebäude sowie ein Regenwassermanagement sind die wichtigsten Eckpfeiler, um eine neutrale Kohlenstoffbilanz am Standort zu erreichen.

Als grünes Herz fungiert der zehn Hektar große Parc Martin Luther King. Bereits 2007 wurde der erste Abschnitt eröffnet, sieben Jahre später der zweite, sodass die Bewohner der Ostflanke bei Einzug eine fertige grüne Oase vor der Haustür vorfanden, während im Westen noch Großbaustelle war. Unter den letzten der dort fertiggestellten Bauten sind jene von Querkraft und ihrem Pariser Partnerbüro Sam Architecture. Das Ensemble umfasst einen 50 Meter hohen Turm mit Sozialwohnungen, ein siebengeschoßiges Arbeiterwohnheim und eine Kinderbetreuungseinrichtung. Das Weiterführen der Parklandschaft durch das Grundstück, die Sichtverbindung von der Straße zum Park, bestmöglicher Ausblick aus den Wohnungen und gut separierte Zugänge zu den verschiedenen Nutzungseinheiten waren die wesentlichen Entwurfsparameter.

Um all das unter einen Hut zu bringen, arrangierten die Architekten die Wohnhäuser diagonal gegenüberliegend. Als verbindendes Element fungiert das in Holz-Beton-Verbundbauweise ausgeführte sternförmige Kindergartengebäude, dessen Schenkel zwei gegenüber dem Straßenniveau abgesenkte Höfe umschließen. Dies schafft eine Reihe von Freiräumen auf verschiedenen Ebenen, die dank der Gestaltung der Landschaftsarchitektinnen des Atelier Roberta zu einem attraktiven Geländemuster verknüpft werden, das in den Park übergeht. Während auf der östlichen Parkseite die Bauten um die originellste Fassadenidee zu rittern scheinen, wurde an der Westseite Wert auf ein einheitliches Stadtbild gelegt. In Workshops präsentierten die Architekten ihre Projekte, um sie in Material- und Farbwahl aufeinander abzustimmen und allzu eigenwilligen Egotrips Einhalt zu bieten. Bei den Wohntürmen griffen Querkraft auf ihre Wiener Erfahrungen zurück und bewiesen Geschick im Umgang mit engen Kostenrahmen. Die unterschiedlichen Wohnnutzungen werden in formal differenzierter, in Materialität und Textur aber verwandter Fassadengestaltung ausgedrückt. Beide eint eine Hülle aus dunklen Klinkerriemchen, einem Material, das sich dank der koordinierten Planung in der Nachbarschaft immer wieder findet. Kostengünstiger Wohnbau für die Ärmeren der Bevölkerung darf nicht ärmlich aussehen, waren sich Architekten und Bauherr einig. Die Sozialwohnungen sollten zwischen den Nachbarbauten mit gutbürgerlichen Eigentumswohnungen nicht auffallen. Und so kam es zu ein paar attraktiven Details, die den Häusern Einzigartigkeit verleihen und der Schönheit dienen. Vor den Fenstern der Arbeiterapartments sind dies verschiebbare Brise Soleils aus Alu-Lamellen, die für Akzente sowie Sichtschutz sorgen. Zwar seien von dieser Lösung die Auftraggeber zunächst nicht recht angetan gewesen, berichten die Architekten, der Hinweis, dass sie „wie die Wimpern von Catherine Deneuve“ dem Gebäude einen poetischen Impuls verleihen, mag schließlich beigetragen haben, das Blatt zu wenden. Einzelne hell verfugte Fassadenfelder markieren öffenbare Blindfenster und sind zugleich Gestaltungselement.

Beim höheren Wohnturm findet sich in Form der Balkonbrüstung aus Aluminiumlatten ein Motiv wieder, mit dem Querkraft bereits dem Wiener Citygate Tower zu Signifikanz verhalfen. Da in Paris aufgrund der Abstandsregelungen auf dem knapp bemessenen Bauplatz keine Ausbuchtungen der Balkonzone möglich waren, erzeugen unterschiedlich dichte Anordnungen der Latten sowie gewellte und gezackte Ober- und Unterkanten in der Art eines Trompe-l'œil Bewegung. Dafür wurde der Balkonzaun in Paris, wo eine schöne Fassade einen hohen Stellenwert hat, höherwertig beschichtet und schimmert silbrig. Dank Rücksprüngen des Baukörpers entstehen dennoch ausreichend tiefe Aufenthaltsbereiche. Zu deren rascherer Aneignung wurde den Bewohnern ein Möblierungsset – Sonnenschirm, Blumentrog und Wäschetrockner – übergeben. Die parkseitigen Wohnungen bieten eine der schönsten Aussichten auf die Stadt – zum Eiffelturm oder zu den Hängen des Montmartre mit der Basilika Sacré-Cœur. Das alles zu Kosten, die der Hälfte einer „normalen“ Pariser Monatsmiete entsprechen. Konkret sind es laut Auskunft des Bauträgers 500 Euro für eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit 44 Quadratmeter Wohnfläche plus Balkon, 1300 Euro für eine 91 Quadratmeter große Fünf-Zimmer-Wohnung.

Während Außenräume, Entrée und Fassade durchaus repräsentativ sind, wurde der Sparstift an Stellen angesetzt, die in Österreich tabu wären. So reichte als Fluchtweg ein Stiegenhaus mit Wendeltreppe, anstatt einer Schalldämmung zwischen Wohnungen und Gang gibt es eine akustisch wirksame Bespannung an der Gangdecke. Als Trittschalldämmung in den Wohnungen reicht eine dünne Auflage unter dem Linoleumboden, die Balkone sind als nackte Rochbetondecke ausgeführt.

Eine Besonderheit ist die pneumatische Müllsammelanlage, an die sämtliche Gebäude im neuen Stadtteil angeschlossen sind und die den Müll in eine Anlage nächst der Ringautobahn transportiert. So werden Lkw-Verkehr sowie Lärm- und Schadstoffemissionen reduziert. „Energieeffizienz allein ist im Gegensatz zu Österreich hier nicht das ganz große Thema“, erklärt Architektin Milena Karanesheva, deren auf bioklimatische Architektur spezialisiertes Büro Karawitz die Ausführungsplanung verantwortete. „Es geht um die Gesamtbilanz. Zu der tragen der Einsatz nachhaltiger, hochwertiger Materialen ebenso bei wie das viele Grün.“ Um Greenwashing hintanzuhalten, wurden messbare Effekte gefordert, die Einhaltung der Umweltkriterien streng überprüft. Vier Prozent des Grundstückspreises erhalten die Bauträger zurück, wenn sie alle Vorgaben einhalten.

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