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Das Ende einer Wiener Stadtikone
Spectrum

Vom Skandalprojekt zum Wahrzeichen einer Stadtepoche: das Rinterzelt – über Anfang und Ende einer Wiener Institution.

22. September 2019 - Peter Payer
Es ist Geschichte, Stadtgeschichte. Das sogenannte Rinterzelt – weithin sichtbare Landmark in Wien-Donaustadt, einst viel kritisiert, aber auch bewundert – wird seit einigen Monaten abgebrochen und in Bälde durch eine Neuanlage ersetzt. Der ehemalige Prestigebau der Wiener Müllverwertung ist nicht mehr zeitgemäß. Er weicht einem Abfallkompetenzzentrum, betrieben in Kooperation von Magistratsabteilung 48 und Wien Kanal.

Die vertraute Zeltform verschwindet allerdings nicht ganz, bleibt zumindest als Silhouette im Erscheinungsbild des Neubaus erhalten. Zu sehr ist sie mit dem Standort verknüpft, als dass man sie so leichtfertig aufgeben könnte. Doch wie konnte ein derart ungewöhnliches Gebäude sich so tief im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung verankern? Die Antwort darauf geht wohl weiter zurück, als zunächst gedacht.

Wiens Städtebau stand ab den 1960er-Jahren im Zeichen der Stadterweiterung. Vor allem die Bezirke jenseits der Donau mit ihren großen Flächenreserven wurden zunehmend verkehrsmäßig erschlossen und mit Industrie- und Wohnbauten verdichtet. Unter dem Motto „Wien wird wieder Weltstadt“ versuchte man bewusst an die sozialen und infrastrukturellen Leistungen des Roten Wien der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen, wozu nicht zuletzt eine an internationalen Maßstäben orientierte Abfallwirtschaft gehörte. Die Aufmerksamkeit der Stadtplaner richtete sich besonders auf die nordöstliche Peripherie, wo soeben der 22. Gemeindebezirk in seiner heutigen Gestalt gebildet worden war. Ein für die meisten Wiener noch relativ unbekanntes Terrain, selten aufgesucht, völlig untouristisch, stark landwirtschaftlich geprägt und mit der Mülldeponie am Rautenweg bereits mit einer wichtigen Entsorgungseinrichtung ausgestattet.

Das ideale Umfeld, wie es schien, für eine moderne Abfallverwertungsanlage. Bauherr und Betreiber Johann Prutscher hatte die Idee an die Stadt Wien herangetragen und dafür von Beginn an eine unkonventionelle Bauform gesucht, die sich von den übrigen Gebäuden des Industrieansiedlungsgebiets abheben sollte. Zur Realisierung seiner Vision gewann er den österreichischen Architekten Lukas Matthias Lang, der sich schon seit Längerem für jene überdimensionalen Zeltbauten begeisterte, die Frei Otto in Deutschland realisiert hatte. Als das Rinterzelt dann im Dezember 1981 mit seiner weltweit einzigartigen Holzdachkonstruktion (Entwurf und Statik: Julius Natterer) eröffnet wurde, war es nicht nur in Architektenkreisen eine Sensation. Ein beeindruckend großzügiger Raum war entstanden, 68 Meter hoch und mit einem Innendurchmesser von 175 Metern, bis auf einen Pfeiler in der Mitte frei von Stützen, beinahe weihevoll und bei richtigem Sonnenlicht mit der Atmosphäre einer Kathedrale. Eine ästhetische und statische Meisterleistung, die denn auch 1984 mit dem Österreichischen Holzbaupreis ausgezeichnet wurde.

Von Beginn an verstand die Rinter AG ihr Bauwerk als Signature Building. In einer frühen Werbebroschüre sprach man euphorisch von einem „neuen Wahrzeichen Wiens“ und einem „Industriebau als Gewinn für die Landschaft“. Die Zeltform avancierte zum einprägsamen Firmenlogo. Der Slogan dazu lautete: „Mit Abfall hört's auf – mit Abfall fängt's an. Rinter – ein Beitrag zur Lebensqualität.“ Der Firmenname selbst unterstrich den international ausgerichteten Ansatz: Rinter = R(ecycling) inter(national). Die Medien sollten später – wenngleich mit Ironie – vom „silbrig glänzenden Zelt am Donaustädter Stadtrand“ sprechen, welches das Stadtbild bereichert. Eine Stadtikone war entstanden, die von ihrer Form und Silhouette her an ein berühmt gewordenes Gebäude aus dem 19. Jahrhundert erinnerte: die 1873 zur Wiener Weltausstellung im Prater errichtete Rotunde. Der damals größte Kuppelbau der Welt avancierte zum international beachteten Monumentalbau. Mehr als 60 Jahre lang prägte die Rotunde das Bild der Donaumetropole, ehe sie 1937 ein Raub der Flammen wurde. Und wenngleich das Rinterzelt nur knapp 40 Jahre bestehen wird, erreichte es doch eine ähnliche identifikatorische Wirkung.

Intensive Diskurse in den zeitgenössischen Medien hatten beide Gebäude populär und über die Stadtgrenzen hinweg bekannt gemacht. Im Positiven wie im Negativen. Wobei man die emotionalen Bindungen an das jeweilige Bauwerk nicht zuletzt an den Kosenamen oder auch an den Schimpfwörtern ablesen kann, die dafür in Umlauf kamen. So sprach man einst von der Rotunde als „Blechhaufen“, „Guglhupf“ oder „Käseglocke“, während das Rinterzelt als „Vesuv von Kagran“, „Mistwigwam“ oder schlicht als „Mistkübel“ bezeichnet wurde. In gewissem Sinne war das Rinterzelt also eine Wiederbelebung der durch die Brandkatastrophe allzu rasch verschwundenen Rotunde, die ersehnte Kompensation eines Verlusts verbunden mit einer architektonischen Aufwertung des jenseits der Donau gelegenen Stadtgebiets.

Die geopolitischen Verhältnisse waren damals noch deutlich anders als heute: Wien um 1980 war geprägt von extremer Randlage, knapp am Eisernen Vorhang, der Europa politisch, wirtschaftlich und kulturell bis 1989 teilte. Es war eine schrumpfende Stadt (von 1970 bis 1980 war die Wiener Bevölkerung um 100.000 Personen auf rund 1,5 Millionen gesunken). Politisch dominierte die SPÖ, seit 1945 erneut an der Macht und mit absoluter Mehrheit regierend, die bürgerlich-liberale Opposition verspürte jedoch stetigen Aufschwung. Eine längst überfällige Modernisierung der Gesellschaft und des politischen Establishments war im Gange. Moderner Journalismus mit kritischen Medien abseits der Parteilinie begann den öffentlichen Diskurs zu bestimmen. So waren 1970 die Politmagazine „Profil“ und „Trend“ gegründet worden, 1977 die Stadtzeitung „Falter“, und auch die seit Jahrzehnten bestehende „Wochenpresse“ war 1982 zum politischen Magazin mutiert. Mehrere groß angelegte Betrugsfälle und politiknahe Missstände wurden aufgedeckt, allen voran der Aufsehen erregende Bauring-Skandal (1974) und der AKH-Skandal (1980). Bundespräsident Rudolf Kirchschläger sprach angesichts dieser Situation in seiner Rede zur Eröffnung der Welser Messe im August 1980 die später berühmt gewordenen Worte von der notwendigen „Trockenlegung der Sümpfe und sauren Wiesen“.

Die Amtszeit von Leopold Gratz, von 1973 bis 1984 Bürgermeister von Wien, stand im Zeichen dieser politischen Turbulenzen. So war die Befürchtung groß, dass sich auch das Rinterzelt, von seinen Dimensionen her angepriesen als „bedeutendstes Recycling-Projekt Europas“, in die Reihe der Skandalprojekte einreihen könnte. Denn die Aufdeckung von betrügerischen Vorgehensweisen bei der Finanzierung des Projekts sowie grundlegende technische und logistische Mängel sorgten von Beginn an für beträchtliche mediale Erregung. Wien hatte seinen „Müll-Skandal“. Letztlich musste die Anlage, deren Mülltrennung und -verwertung nie wirklich funktionierte, im Jahr 1983 Konkurs anmelden.

Unfreiwillig war das Rinterzelt zum „Star“ der damaligen Medien geworden. Es schmückte die Titelblätter von Tageszeitungen und Magazinen. Aufdeckerjournalisten wie Gerald Freihofner („Wochenpresse“), Alfred Worm („Profil“), Kurt Tozzer und Alfred Payrleitner (beide ORF) sezierten sämtliche Facetten des Prestigeprojekts, dessen vertragliche Grundlagen zwischen Stadt Wien und Rinter AG – wie man polemisch anmerkte – „zum Himmel stanken“ und demzufolge bald unzählige gerichtliche Verfahren nach sich zogen. Nach Schließung der Anlage und dem Verwerfen von – nicht immer ganz ernst gemeinten – Alternativprojekten folgte 1985 die sukzessive Übernahme des Rinterzelts durch die Stadt Wien. Technisch neu ausgestattet, sollte es als „Abfallbehandlungsanlage“ fortan von der Magistratsabteilung 48 betrieben werden. Der Volksmund sprach aber weiterhin vom Rinterzelt, zu sehr war das Gebäude bereits in den Sprachschatz der Wiener eingegangen. Umfragen hatten gezeigt: Trotz der Kalamitäten stand man dem Rinterzelt grundsätzlich positiv gegenüber. Und Experten betonten, dass die Müllverwertung durchaus Zukunft habe und der Einsatz von Steuergeld sich jedenfalls rentieren werde.

Wien hatte mittlerweile einen guten Ruf zu verteidigen. Österreichs Hauptstadt war im Begriff sich zu einer der saubersten Metropolen der Welt zu entwickeln. Das Bewusstsein für die Notwendigkeit von neuen Strategien im Umgang mit dem Müll war stetig gewachsen. Bereits 1978 hatte man im Rathaus eine Expertenenquete „Wiener Müll“ abgehalten, 1984 wurde die Großkampagne „Wien stoppt die Müll-Lawine“ gestartet. In einem in den Kinos gezeigten Werbespot mahnte man apodiktisch: „Wollen wir unsere Umwelt lebenswert erhalten – müssen wir umdenken und handeln.“

Die kommunale Übernahme des Rinterzelts (endgültig 1999) und dessen Weiterentwicklung als innovatives Labor der Wiener Abfallwirtschaft bewirkte einen nachhaltigen Imagewandel. Durch strategisch kluge PR-Kampagnen gelang es, das Bauwerk – abseits seiner ökonomisch-technischen Bedeutung – als einzigartiges Objekt der Populär- und Alltagskultur zu positionieren, als High-Tech-Ort, der gleichermaßen lehrreich, spannend und unterhaltsam war. Den Startschuss dazu gaben das „Mistfest“ und der „Mistflohmarkt“, seit 1989 mit großem Erfolg und steigendem Publikumsinteresse abgehalten und bis heute (wenn auch an anderen Standorten) existent. Auch in Wiens Filmgeschichte ging das Rinterzelt ein: durch Fernsehdokumentationen, vor allem aber durch die Filmsatire „Müllomania“, entstanden 1988 als zweite Folge der gesellschaftskritischen „Arbeitersaga“ (Regie Dieter Berner, Drehbuch Peter Turrini), eine köstliche Parodie und Abrechnung mit dem damaligen Zeitgeist.

Es folgten zahlreiche Reportagen, die der schillernden, auch sinnlich beeindruckenden Aura des Rinterzelts nachgingen. So berichtete die Stadtzeitung „Falter“: „Kaum ist die Autotür offen, hat er mich schon. Und er wird mich noch den ganzen restlichen Tag begleiten, selbst nachdem ich längst wieder in der Stadt bin: der eigentümliche Geruch der Abfallbehandlungsanlage, im Volksmund ,Mistzelt‘, am Rautenweg. Süßlich riecht es, ein bisschen faulig, näher kann ich das Odeur nicht bestimmen, aber es ist unverkennbar für eine Nase, die es einmal verkosten durfte.“ Die eigenwillige Duftmarke als olfaktorisches Kennzeichen des Ortes tauchte als Stereotyp immer wieder auf. Und sie trug dazu bei, das Rinterzelt zu einem „Schattenort von Wien“ zu machen, wie dies der Autor und „Spectrum“-Redakteur Wolfgang Freitag formulierte. Der Nimbus des Absonderlichen, das nur allzu gerne übersehen wird, war und ist langlebig.

Mit all seinen realen und symbolischen Überhöhungen konnte sich das Rinterzelt – mehr als andere Bauten der technischen Infrastruktur – nachhaltig einschreiben in die jüngere Stadtgeschichte. Unmittelbarer Ausdruck dafür war auch seine geänderte topografische Lage: Einst an der Peripherie auf freiem Gelände entstanden, war es zuletzt zur Gänze von Bebauung umgeben und von der Stadt gleichsam inkorporiert. Es hat geleistet, was es konnte, und bleibt nunmehr als Ahnung zurück.

[ Peter Payer, geboren 1962 in Leobersdorf, Niederösterreich. Dr. phil. Mag. phil. Historiker und Stadtforscher. Kurator im Technischen Museum Wien. Bücher: zuletzt „Der Klang der Großstadt. Wien 1850– 1914“ (Böhlau Verlag, Wien). Arbeitet derzeit an einem Forschungsprojekt über den Wiener Feuilletonisten Ludwig Hirschfeld. ]

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