Artikel

Die Hütte: Einsam, aber schick im Wald
Spectrum

Der ewige Traum vom einfachen Leben – ein paar zusammengezimmerte Bretter als reale und imaginäre Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Natur. Die Hütte ist ein Vorposten der Zivilisation und zugleich ein vehementer Einspruch dagegen.

9. November 2019 - Anton Holzer
Mein Vater war ein Häuslbauer. Nie im Leben hatte er, der in ärmlichen Verhältnissen auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, davon geträumt, einmal in einer Hütte zu wohnen. Ein richtiges Haus musste es schon sein. 1958 war es so weit. Zusammen mit seinen Geschwistern schritt er ans Werk. Da Grund und Geld knapp waren, bauten sie ein gemeinsames Haus. Hütten hat mein Vater zwar auch gebaut, aber nur fürs Wirtschaften, nicht zum Wohnen, etwa für die Bienen, die Werkzeuge, später einen Unterstand fürs Auto.

Eine Generation später hat sich die Sache mit Haus und Hütte grundlegend geändert. Seit ich in der Großstadt lebe, wohne ich in einer Wohnung (nicht in einem Haus) und – begann von einer Hütte zu träumen. Einsam gelegen sollte sie sein, draußen in der Natur, im Grünen. Fürs Erste, dachte ich, könnte es ein Hütterl in einem Kleingarten auch tun. Seit zehn Jahren stehen wir inzwischen auf der Warteliste des benachbarten Kleingartenvereins. Wenn ich mir ansehe, in welchem Tempo in diesen Jahren aus den wunderbaren alten Holzhütten im Kleingartengelände „Auf der Schmelz“ kleine Villen geworden sind, vergeht mir aber der Traum von der Hütte im Grünen wieder. Die ehemaligen Gartenhäuschen wurden und werden bei fast jedem Besitzerwechsel abgerissen und von kleinen, grauenhaften Betonburgen verdrängt, mit gewaltigen Kellerarealen (weil die oberirdische Baufläche begrenzt ist), glatt rasiertem Rasen und scheinbar obligatem Pool, auch wenn dieser eine begehbare Randfläche hat, die gerade für ein Handtuch reicht. Nein, so ein Bauwerk hatte ich mir ganz und gar nicht vorgestellt!

Ist die Sache so einfach? Landbewohner lieben das Haus, Städter die Hütte? Arme Menschen träumen vom Haus, Emporkömmlinge von der Hütte? Wie hat sich das Verhältnis von Haus und Hütte verändert? Woher kommt die in den letzten Jahren zu verzeichnende neue Sehnsucht nach dem einfachen, einsamen Leben, woher kommt der Traum von der entlegenen Hütte? Ist sie wirklich der heilsame Gegenpol zum gestressten Großstadtleben? Oder doch nur eine Schimäre, die am Wochenende die Verkehrshölle auf den Straßen, die Hektik der Datenströme und die minutiöse Taktung des Arbeits- und Familienlebens vergessen machen soll? Wie groß die Sehnsucht nach der Natur neuerdings ist, zeigt sich bereits daran, dass der Zeitschriftenmarkt zum Thema ländliches Leben boomt. „Landleben“, „Auszeit“, „Land und Leute“, „Landgenuss“, „Landzauber“, so und so ähnlich heißen die vielen Hefte, die am Kiosk eine heile, ruhige, natürliche Welt am Land versprechen. Und auch der Buchmarkt bietet für temporär Ausstiegswillige Natur- und Landliebhaber ganze Regale an Neuerscheinungen. Neulich stand ich in einer Wiener Kunstbuchhandlung vor einer derartigen Zurück-zur-Natur-Wand mit Buchtiteln wie „Lob der Erde“, „Die Weisheit des Gärtners“, „Die wertvolle Medizin des Waldes“, „Green Escape“, „Arkadien“, „Von Pflanzen und Menschen“, „Wildlife“ et cetera. Und zwischen all diesen Neuerscheinungen entdeckte ich ein soeben erschienenes schmales Büchlein mit dem schlichten Titel „Hütten“, das mich gleich interessierte. Verfasserin ist die Journalistin Petra Ahne, es trägt den Untertitel „Obdach und Sehnsucht“. Besagtes Werk ist nicht zufällig in der von Judith Schalansky herausgegebenen Reihe „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz erschienen, einer Bücherfolge, die seit einigen Jahren der neuen Naturliebhaberei ein anspruchsvolles und zugleich höchst erfolgreiches publizistisches Profil gegeben hat.

Woher, so fragt die Autorin, rührt die neue Sehnsucht nach der Hütte weitab von der Stadt? Eine Sehnsucht, der sie, wie sie einleitend erzählt, selbst erlegen ist, hat sie doch kürzlich mit ihrer Familie ein abgewirtschaftetes 35-Quadratmeter-Holzhäuschen im DDR-Stil an einem verlassenen See in Berlins Umgebung gekauft, abgerissen und neu errichtet. Sie holt in ihrer flott geschriebenen kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Erkundung weit aus, um der Faszination der Hütte als idealisiertem Gegenpol zum städtischen Leben nachzugehen, von Adam und Eva über den römischen Bautheoretiker Vitruv bis hin zum amerikanischen Blockhaus der frühen Siedlerbewegung, dem Alexis de Tocqueville in den 1830er-Jahren einen wenig bekannten Essay widmet. Ihre Reise führt über die Einsamkeitstheoretiker des 19. Jahrhunderts bis in die jüngere Vergangenheit und die Jetztzeit. Sie erzählt von der berühmten Hütte des Aussteigerschriftstellers Henry David Thoreau, in der er in den 1840er-Jahren zwei Jahre verbrachte, um dann mit dem Bericht „Walden. Leben in den Wäldern“, in dem er die Freuden der Einsamkeit in der Natur Revue passieren lässt, weltberühmt zu werden. Heute besuchen an die 500.000 Besucher den See, an dem die Hütte Thoreaus einst stand. Die Autorin berichtet von einem Mann, der seit 55 Jahren allein in einer Holzhütte im Wald lebt. Und sie rekonstruiert die Geschichte des berüchtigten Unabombers Ted Kaczynski, der nach einer rasanten akademischen Karriere an den Eliteunis der amerikanischen Westküste mit einem Schlag sein Leben änderte, sich 1971 allein in eine drei mal dreieinhalb Meter große Hütte in der Einsamkeit Montanas zurückzog, von wo aus er zu einem radikalen Kreuzzug gegen das moderne städtische Leben ansetzte. Zwischen 1978 und 1995 schickte er 16 Briefbomben an Vertreter der gehassten modernen Welt, drei Menschen riss er in den Tod, 23 wurden verletzt.

Die einsame Hütte ist in diesem Fall das genaue Gegenbild zum heilbringenden Obdach, zum schutzbringenden Dach inmitten der unwirtlichen Natur. Das Beispiel Kaczynski zeigt aber auch, wie schnell das holzschnittartige Ideologem der erholsamen Abkehr von der betriebsamen Welt in ihr Gegenteil umschlagen kann. Die Hütte, so zeigt die Autorin, war stets beides: Rettungsanker und Labor einer bisweilen radikal anti-urbanen Gegenwelt, Flucht- und Wendepunkt an der realen und imaginären Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Natur. Sie ist, in ihrer extremen Ausgesetztheit, ein Vorposten der Zivilisation und zugleich ein vehementer Einspruch dagegen.

Es scheint also: Die neue Faszination des einfachen Lebens, die individualisierte Flucht aufs Land, der Traum vom entrückten Leben in der hölzernen Hütte ist nichts anderes als die Kehrseite des städtischen Lebens. Ohne das eine ist das andere nicht recht denkbar. Um diese Kombination von gewolltem Stadt- und erträumtem Landleben, die in den letzten Jahren einen regelrechten Sog entfacht hat, verstehen zu können, kann man große philosophische Theorien bemühen. Man kann aber auch, wie Petra Ahne dies tut, einfache Geschichten erzählen, Geschichten, die schlagender und unverblümter als jede soziologische Erklärung ein Licht auf die Hintergründe dieser neuen Ideologie der Einsamkeit wirft. Eine dieser Geschichten begann vor wenigen Jahren in New York. Ihr Protagonist heißt Zach Klein. Klein ist ein erfolgreicher Mann. Er ist noch keine 40 und schwimmt schon in Millionen. Seine beruflichen skills – interaktives Design – hat er gerade rechtzeitig erworben, um sie nach der Jahrtausendwende gewinnbringend im boomenden weltweiten Onlinemarkt einzusetzen. Zuerst mit einigem Risiko, dann auf Nummer sicher. Inzwischen hat Klein viel Geld mit dem Online-Videodienst Vimeo verdient. Er lebt in der pulsierenden Metropole New York City und könnte sich, wenn er wollte, längst zur Ruhe setzen. Und tat das auch – zwischendurch. Er suchte an den Wochenenden Ruhe vor dem hektischen Großstadtleben, indem er sein Geld in die Natur setzte, buchstäblich.

Nördlich von New York kaufte er ein großes unbewohntes Stück Land, taufte es Beaver Brook und begann darauf mit einfachsten Mitteln eine Holzhütte zu bauen. Eine Unterkunft, gebaut in Handarbeit, ohne technischen Schnickschnack, ohne Strom, ohne Internet. Zurück zur Natur, Kochen am offenen Feuer, Baden im Holzzuber – die neue Einfachheit. Seine Freunde folgten ihm. Noch eine Hütte entstand, dann noch eine, eine kleine Community hat sich inzwischen im Wald niedergelassen, zumindest zwischendurch, wenn die erfolgreichen Start-up-Gründer, Filmemacher, Designer und Musiker nicht gerade 60 Stunden in ihren New Yorker Stadtbüros arbeiten.

Wir würden von den einsamen Freuden Zach Kleins und seiner Freunde in den entlegenen Wäldern des Bundesstaats New York nichts wissen, wenn er seine Hütten und das erholsame Leben, das sich darin und drum herum abspielte, nicht fotografisch dokumentiert und mit großem Echo zurück in die Stadt gespült hätte.

2015 stellte er den farbenprächtigen Bildband „Cabin Porn“ vor, der zeigt, wie schick es sein kann, einsam und abenteuerlich im Wald zu leben, nicht nur in Beaver Brook, sondern weltweit. Cabin Porn hat nichts mit Sex zu tun, es sei denn, man empfindet den Blick durch beleuchtete Hüttenfenster oder auf das Baden junger Menschen am klaren Flusswasser als voyeuristisch. Die Gemeinschaft von Beaver Brook ist weit weg, und doch weiß sie, dass sie auf der Bühne agiert, dass die Bilder des entrückten Lebens zurückkehren in die Großstadt, und sei es nur in Form eines elitären Hypes, den sich die allermeisten Follower nicht in der Realität, sondern nur als Online-Zaungäste oder eben Buchkäufer leisten können. Die in suggestiven Bildern zusammengefasste Lebensphilosophie der neuen Einfachheit und Einsamkeit ist dabei, zum Markenzeichen zu werden. „Inspiration for your quiet place somewhere“ lautet dementsprechend der Untertitel des Buches Zachs, der die Ideologie des do it yourselfmit jener des do it for yourself verbindet. Inzwischen ist der Band in acht Sprachen auf dem Markt und erweist sich, weil er auf allen Medienkanälen beworben und verkauft wurde, als Bestseller.

Zach Kleins Hüttenfaszination wäre weiter nicht bemerkenswert, wenn sie nicht einen Trend aufzeigte, der weit über die schicke New Yorker Medienszene hinausreicht: Die Stadt ist out, das einfache Leben am Land ist in – so lautet zugespitzt der neue Slogan. Man kann, auch das zeigt das Beispiel, beides haben, wenn man es vermag. Das Haus hat man, die Hütte sucht man – für zwischendurch. Die Arbeit im Großraumbüro und globale blitzschnelle Kommunikation im Netz nutzt man in der Stadt, um sie am Land gegen Lagerfeuer, Gummistiefel und Gartenschaufel einzutauschen. Und dort will man auch eine kleine, möglichst rohe, möglichst simple Unterkunft, die einem das Gefühl gibt, auf Du und Du mit der Natur zu sein: eine Hütte eben.

Zach Kleins Beispiel zeigt auch etwas anderes: Dass nämlich die einfache Opposition hie Stadt, dort Land, hie Haus, dort Hütte, im Grunde gar nicht stimmt. Die scheinbar klare Trennung zwischen dem quirligen Leben in der städtischen Gemeinschaft und der Flucht ins menschenentleerte Land gibt es in Wirklichkeit nicht. Denn Zach Klein und seinen Freunden käme nie in den Sinn, ihr ganzes Leben in der Selbstversorgerhütte zu verbringen. Vielmehr sind sie exzessive Pendler zwischen der Metropole New York und der puren Natur. Der Traum von der einsamen Selbstfindung in der Natur war von Anfang an ein städtischer Traum. Als die bürgerlichen Hochgebirgstouristen um die Mitte des 19. Jahrhunderts Erholung in der Einsamkeit der Berge suchten, waren sie es, nicht die Einheimischen, die die Schutzhütten planten. Kaum jemand der städtischen Gebirgsfreunde wäre auf die Idee gekommen, die Schutzhäuser ganzjährig zu bewohnen. Die Hütte war dem Städter ein temporärer Schutzraum, der die städtische Unterkunft nur ergänzte, nicht ersetzte.

Nicht alle Hütten sind Refugien der Saturierten. Es gibt auch behelfsmäßige Unterkünfte, die nicht den Reichen, sondern den Ärmsten dienen. Als Schutzräume für jene Verfolgten und Geschlagenen, die die Hütten liebend gern hinter sich lassen würden, um, wenn sie nur könnten, in richtigen Häusern zu wohnen. Über 60 Millionen Menschen, die derzeit weltweit auf der Flucht sind, leben in provisorischen Unterkünften, in temporären Flüchtlingslagern und ärmlichen Verschlägen. Etliche dieser Hütten werden von internationalen Hilfsorganisationen wie dem UNHCR geliefert und aufgebaut, andere in Eigenregie gebastelt. Eine dieser vorgefertigten Hütten, die innerhalb weniger Minuten aus festen Bausätzen zusammengestellt werden können, stand 2017 mehrere Monate lang in den Ausstellungsräumen des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA). Leer, ohne Kratzer, mit dem Hinweis: Betreten verboten. Die Hütte mit dem sinnigen Namen „Better shelter“ stammte aus den Beständen des UNHCR und stand im Zentrum der Ausstellung „Insecurities: Tracing Displacement and Shelter“. Ich wage zu bezweifeln, dass irgendein zur Flucht Verdammter, der das Hüttenleben aus eigener Anschauung kennt, Gelegenheit hatte, diese Hütte auf der Bühne der Kunstwelt zu sehen.

Der Traum von der eigenen Hütte setzt, will man die städtische Basis nicht aufgeben, Mobilität voraus: von der Stadt aufs Land und retour, vielleicht sogar im Wochenrhythmus. Viel Autofahren, um Ruhe und Verlassenheit zu genießen. Mein eigener Traum von der entlegenen Hütte ist nicht zuletzt deswegen in den Hintergrund gerückt. Ein Freund, der vor etlichen Jahren in einem zweieinhalb Stunden Autofahrt entfernten ländlichen Refugium eine Hütte kaufte, hat mich schon öfter eingeladen. Bisher war ich noch nicht dort. Wieso? Vielleicht ist die Antwort ganz einfach: entweder richtig wegfahren, also ohne Hütte, oder gleich ganz dableiben. Also: daheim sein an einem Ort reicht. Jedenfalls beobachte ich: Seit das ganz große Interesse an der eigenen Hütte nachgelassen hat, blüht unser Balkon auf. Womöglich ein wenig Hüttenfeeling auf kleinstem Raum? Erreichbar in Unterhose und Badeschlapfen. Was will man mehr?
Anton Holzer. Geboren 1964 in Innichen (Südtirol). Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Philosophie in Innsbruck, Bologna und Wien. Dr. phil. Fotohistoriker, Publizist, Ausstellungskurator und Herausgeber der Zeitschrift „Fotogeschichte“.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: