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Auf die Dächer, fertig, Strom!
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Eine Million Solardächer: So lautet das neue Ziel der österreichischen Klima- und Energiestrategie #mission2030. Will man das erreichen, führt an der Fotovoltaik kein Weg vorbei. Und wie kann das aussehen?

13. Januar 2020 - Harald Gründl
Am Beginn des Dokumentarfilms „Die 4. Revolution – Energy Autonomy“ (2010) fährt der deutsche Politiker und Vorsitzende des Weltrates für erneuerbare Energien, Hermann Scheer, im Taxi durch Los Angeles und ärgert sich über die zahllosen Hochhäuser, die viel Energie verbrauchen, aber keine erzeugen. All diese Gebäude könnten mit einer Fotovoltaikfassade Strom erzeugen. 1999 bekam Hermann Scheer für sein Engagement um die Energiewende den alternativen Nobelpreis. Mitte der Neunzigerjahre schaffte es seine Idee der 100.000 Solardächer für Deutschland in das Wahlprogramm der SPD. Die österreichische Klima- und Energiestrategie #mission2030 (2018) bediente sich erneut dieser politischen Idee und machte sie zum Leuchtturmprojekt.

Die vergangene Woche neu angelobte österreichische Bundesregierung geht es aufgrund der Dringlichkeit der Klimakatastrophe nun etwas engagierter an: eine Million Dächer. Die Fotovoltaik wird so ein wichtiger Lösungsteil des Ziels bis 2030, den gesamten nationalen Strombedarf aus erneuerbaren Energiequellen zu decken. Der Anteil an Solarstrom soll dann elf Terrawattstunden pro Jahr betragen; derzeit beträgt er 1,4. Linear gedacht, heißt das jedes Jahr rund eine Terrawattstunde zusätzlich an Solarstrom. Der starke politische Wille ist neu, die Erkenntnis und wissenschaftliche Grundlage jedoch nicht.

Schon 2018 ist in der „Fotovoltaik Technologie-Roadmap“ des Bundesministeriums für Verkehr, Innovation und Technologie zu lesen, „dass nahezu alle besonnten und baulich geeigneten Dach- und Fassadenflächen benötigt werden, um die gewünschten Solarstrommengen zu erzeugen“. So gingen die Studienautoren von einer Projektion aus, die für 2050 mit rund 30 Terrawattstunden Solarstrom kalkulieren. Technologiebedingt ist es schwierig, den Flächenbedarf genau anzugeben; anschaulicher als die Energiezahlen ist es aber. Wien hat zum Beispiel eine Stadtfläche von 415 Quadratkilometern, davon sind 53 Quadratkilometer Dachflächen. 34 Quadratkilometer sind sehr gut oder gut für die Nutzung von Solarthermie oder Fotovoltaik geeignet. Das theoretische Fotovoltaikpotenzial in Wien beträgt beachtliche 5,4 Terrawattstunden pro Jahr, das entspricht der Hälfte der gewünschten solaren Energie 2030.

Jedes Dach in Wien ist im Solarpotenzialkataster erfasst, dort kann auf Knopfdruck die mögliche Menge an solarer Energie nachgeschaut werden. In der Stadt ist die Entscheidungsfindung zum Bau einer Solaranlage sicher anstrengender als beim Eigenheim auf der grünen Wiese. So braucht es auch hier neue Modelle der Eigentümerschaft von dezentraler Stromerzeugung. Die Informationsplattform PV-Gemeinschaft.at ist eine gute Anlaufstelle und stellt Musterverträge für verschiedene Betreibermodelle zur Verfügung.

Plug-and-play-Solarpaneele

Ein kleiner Schritt ohne Bürokratie sind Plug-and-play-Solarpaneele. Ein solches hat 2019 eine Nominierung zum Österreichischen Staatspreis Design erhalten. Das „Solmate“ von EET steckt man einfach in die Steckdose, eine Batterie ist ebenfalls Teil des Systems. Das über das Balkongeländer gehängte Solarpaneel ist jedenfalls ein sichtbarer Protestbanner für die Zukunft des solaren Stroms, und man hat durch die intelligente Steuerung auch immer das gute Gefühl, den erzeugten Strom wirklich selbst zu verbrauchen. Mit größeren Solaranlagen ist das dann nicht mehr so einfach der Fall. Ein Durchschnittshaushalt braucht im Jahr etwa 3000 Kilowattstunden Strom. Auf der Homepage von Fotovoltaik Austria findet sich ein praktischer Eigenverbrauchsrechner, der bei günstiger Ausrichtung der Solaranlage eine Fläche von 20 Quadratmetern errechnet. Ohne Speicherbatterie müsste die Anlage rund zwei Drittel des Ertrags im Netz einspeichern; das Verhältnis lässt sich mit Batterien verbessern.

Der Zukunftsdenker Jeremy Rifkin, der kürzlich das Buch „The Green New Deal“ veröffentlichte, plädiert für vollkommene Dezentralität und Autarkie. Um resilient und autark zu sein, rät er zum Schalter, um sich vom zentralen Netz abzutrennen. Wer dieser Idee folgen möchte, ist gut mit dem Know-how der Fotovoltaikpioniere Lukas Pawek und Franz Spreitz bedient. Auf ihrer Homepage autarkie.at findet man den besagten Netztrennschalter als auch Hinweise, wie eine hundertprozentige Selbstversorgung mit Strom und heutigen Technologien umsetzbar ist. Das Bottom-up-Wissen, Open Hardware und Open Source Software gehören offiziell stärker unterstützt, um die Energiewende selbstbestimmt voranzutreiben. Ein Angelpunkt dieses alternativen Netzwerks ist auch die genossenschaftlich organisierte Firma „Wohnwagon“, die fahrbare Tiny Houses baut und zeigt, dass Autarkie weitestgehend möglich ist – alles nur eine Frage des zukünftigen Lebensstils. Wer lieber seinen Solarstrom mit andern teilt, der bekommt bei den Ökostromanbietern E-Friends aus dem Waldviertel einen schönen Vorgeschmack auf die Zukunft. Die App des „Österreichischer Solarpreis“-Gewinners 2019 zeigt an, wer in der Nachbarschaft gerade Strom erzeugt. Wir emanzipieren uns von den wenigen großen Stromanbietern und werden zu solidarischen Stromanbietern – auch das ist Teil der Solarstromrevolution.

Rund 95 Prozent aller Solaranlagen werden auf bestehende Dächer geschraubt. Diese Anlagen werden auch in Zukunft die Energiewende vorantreiben. Aus Architektur- und Designsicht sind aber vor allem bauwerkintegrierte Solaranlagen (BIPV) interessant. Diese repräsentieren im Moment unter ein Prozent aller Anlagen. Damit es mehr davon gibt, unterstützt ein Innovationsaward BIPV. Ein Preisträgerprojekt ist die Renovierung des TU-Hochhauses in Wien mit einer Fassade, die aus dem Bestandsbau das weltweit erste Plus-Energie-Hochhaus macht. Geplant hat das Projekt die Arge Kratochwil-Waldbauer-Zeinitzer, die Bauphysik hat das Büro Schöberl & Pöll gerechnet. Dass Architektur und Bauherrenschaft nicht gedankenlos für die Zukunft bauen, beweist ferner das Projekt für den Windparkbetreiber Püspök Group im Burgenland. Der von Ad2-Architekten Doser-Dämon gebaute Firmensitz zeigt eine überzeugende Einbindung der Solarstromerzeugung in die Architektur. Der Sonnenflügel löst sich vom Baukörper ab und umschließt mit einer großen Geste einen offenen Innenhof. In seiner Materialität und Präzision bildet er dennoch eine Kontinuität mit den anderen Glasfassaden. Eine Inspiration für die weitere Million Solardächer bis 2030.
Energiewende: Solarstrom
BIPV Award 2020. Der Bundesverband Fotovoltaik Austria hat den „2. Österreichischen Innovations-Award für bauwerkintegrierte Fotovoltaik“ ausgelobt. Ziel ist es, zukünftig bei jedem Neubau und jeder Renovierung die auf das Gebäude einfallende Energie optimal zu nutzen. Eingeladen sind Architekten, Bauherren, Planer, Eigentümer und Unternehmen. Einreichungen bis 10. Februar. Informationen unter: www.pvaustria.at/bipv-award.
Das Buch „Autarkie. Leben in Freiheit. Schritt für Schritt zur eigenen Stromversorgung“ von Lukas Pawek und Franz Spreitz bietet Wissenswertes rund ums Thema Solarenergie (www.autarkie.at).

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