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CC BY 4.0 oder: Ein Stuhl steht in London
Spectrum

Gesucht: Strategien für einen Wandel zur Kreislaufwirtschaft. Was für den Kunsttischler Thomas Chippendale im 18. Jahrhundert Usus war, sollten wir als Blaupause für die Gegenwart heranziehen.

8. Februar 2020 - Harald Gründl
Am Tag des Brexit zeigte sich der Flughafen Heathrow schon mit neuer Orientierungsgrafik. Der ursprünglich als Europa Terminal (Frederick Gibberd, 1955) errichtete Flughafenteil wurde 2014 in zeitgemäßer und großzügiger Flughafentransparenz (Luis Vidal + Architects) neu eröffnet. Wo früher ein innereuropäischer Grenzübergang kontrolliert wurde, prangt jetzt ein gigantisches, blaues Leuchtschild über die gesamte Länge des Raums: „UK Border“. Beeindruckend selbstbewusste Typografie mit klarer Botschaft. Nichts Kleingedrucktes, keine Hinweispfeile, keine Fahne. Reisende mit europäischen und sonstigen Pässen reihen sich in eine Warteschlange ein. Nach erträglicher Wartezeit steht man vor einer künstlichen Intelligenz. Es geht wahrscheinlich deshalb so schnell, weil die automatisierten Grenzbeamten noch nicht so gesprächig wie ihre menschlichen amerikanischen Kollegen sind. Aber ein Chat mit einem Roboter wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Nach dem Scan von Gesicht und Pass öffnet sich die Glasschleuse. Der letzte Tag auf britischem Boden in der Europäischen Union beginnt. Am Abend werden vor dem Parlament die Fahnen geschwungen werden, europafeindliche Reden gebrüllt, und in der Downing Street 10 werden auf die schwarze Ziegelfassade der Union Jack und ein Countdown projiziert werden. Als letzte Machtgeste beginnt die neue Zeitrechnung nicht um Mitternacht, sondern um 11 p. m. Ortszeit. Immer schon hat es Übergangsriten bedurft, auch wenn diese heute eher über die Abendnachrichten ihre symbolische Wirkung entfalten müssen. Design als Propaganda und Werkzeug der Selbstversicherung einer gespaltenen Gesellschaft. Die englische Ritualforscherin Mary Douglas hat es treffend formuliert: Rituale sind Brücken und Mauern.

Hingegen sind die Museen in London fast utopische Orte, die einen wie die Tate Modern mit dem Slogan „Free and Open to All“ empfangen – das wirkt sich entscheidend auf die Kunstrezeption aus. Auch das Victoria and Albert Museum (V&A) ist nach dem Öffnen nach kurzer Zeit voll; für die permanente Sammlung benötigt man ebenso kein Ticket. Was man hingegen braucht, ist eine Menge Zeit, um die Sammlung des Kunstgewerbemuseums zu durchwandern. Nach Stunden komme ich in ein nicht allzu großes dunkles Zimmer, das von einem prächtigen Bett dominiert wird. Auf einem Wandpodest steht ein dekorativer Esszimmerstuhl. Die Möbel stammen vom Kunsttischler Thomas Chippendale (1718–1779), der sich in die Möbelgeschichte dank eines Katalogs seiner Erzeugnisse eingeschrieben hat. „The Gentleman and Cabinet Maker's Director“ (1754) ist eine Vorlagensammlung von 160 Stichen, die den damaligen Zeitgeist der Aristokratie traf: eine Sammlung von allerlei Möbel, von Bett über Tisch, Sessel und Kastenmöbel aller Größen. Die Begeisterung schlug von der Insel nach Europa und bis nach Amerika über. Das Werk war nicht das erste, aber das umfangreichste seiner Zeit. Das Portfolio an Stilen umfasste das französische Rokoko sowie Designs im chinesischen und gotischen Stil.

Chippendale wandte Strategien an, die heute unter anderen Namen wieder zeitgemäß und innovativ erscheinen. Seine Werkstätte lag in der St Martins's Lane, einer Straße, in der auch andere Möbeltischler ihre Werkstatt hatten. Das Modell der Handwerkerstraßen ist aus den Städten verschwunden, aber allerorts kommen wieder Orte, die als Hub, Co-Working Space oder Accelerator eine Gemeinde gleichgesinnter Geschäftstreibender an einem Platz versammeln. So wie der Mix aus unterschiedlichen Geschäftsideen für alle produktiv sein kann, so hatte vielleicht das Nebeneinander von gleichen Werkstätten eine motivierende Synergie für alle Beteiligten. Zur Zeit der Publikation beschäftigte Chippendale 40 bis 50 Kunsthandwerker. Er agierte als Manager dieser Großwerkstatt – und er kämpfte sicher mit denselben Problemen wie Start-ups heute. Der schottische Kaufmann James Rannie half Chippendale in einer schwierigen finanziellen Phase als Investor aus. Zudem mussten aufgrund der Zahlungsmoral der Aristokratie laufend Finanzengpässe überbrückt werden.

Wollte man heute den „Open Design Catalogue“ mit den aufwendigen Kupferstichen finanzieren, wäre eine Plattform wie „Kickstarter“ die erste Wahl. Die Strategie war im 18. Jahrhundert nicht unähnlich, da sich in der Buchproduktion das Prinzip der Subskription für teure Werke etabliert hatte. Die Namen der Interessenten des Möbelkatalogs wurden in der ersten Auflage namentlich und mit Beruf abgedruckt; eine beeindruckende Liste von vornehmlich anderen Möbeltischlern, die durch ihr Interesse die erste Auflage erst ermöglicht hatten. Ging Chippendale durch die Möbeltischlergasse und sammelte Interessensbekundungen seiner Berufskollegen? Heute fürchtet man sich vor dem Kopieren, hetzt Anwälte aufeinander, investiert Millionen in den Schutz geistigen Eigentums. Chippendale zeigte, dass es anders geht. Die offene Lizenz würde im Rechtsschema der „Creative Commons“ heute als „CC BY 4.0“ veröffentlicht. Das heißt, dass unter der Bedingung der Namensnennung des Designers keine weiteren Rechtseinschränkungen bestehen. Man kann das Werk kopieren, verändern und damit selbst Geschäfte machen. Genau das passierte mit den Vorlagen von Thomas Chippendale.

Im V&A befindet sich ein Stuhl, über dem die Frage steht, ob er denn ein Original sei. Eine Videodokumentation vergleicht die Kupferstiche mit den Details an dem Möbel, versucht eine Einschätzung über die Qualität der Schnitzkunst und kommt schließlich zu dem Schluss, dass nur eine Originalrechnung ein sicherer Beweis wäre. So verbreitete sich die Idee der Chippendale-Möbel weit über die Möglichkeiten der Werkstatt hinaus; statt eines konnten viele Handwerker davon leben. Ist das nicht eine Alternative zu den globalisierten Möbelproduzenten?

Lokale Fertigung, Handwerk und Bioökonomie sind gestern wie heute wichtige Ingredienzien für eine nachhaltige Produktion. Dass die Stühle heute zu Höchstpreisen gehandelt werden, spricht nicht nur für die Qualität ihres Entwurfs, sondern auch für deren Langlebigkeit. Materialen wurden damals lokal nach Verfügbarkeit variiert. Waren die Stühle in London aus Mahagoni, so zimmerten die deutschen Kollegen die Möbel aus Kirschholz. Die Zapfenverbindungen wurden mit einem Leim zusammengefügt, der sogar 100 Jahre später durch leichtes Erhitzen auseinandergebaut werden kann. Ein Stuhl kann überall in der Welt repariert werden, man braucht nur ein gut getrocknetes Stück Holz, aus dem das Ersatzteil hergestellt wird.

Wir benötigen dringend neue Strategien und Modelle für einen Wandel zur Kreislaufwirtschaft. Das Beispiel Chippendale zeigt eine Blaupause, die mit den heutigen Technologien noch größere Wirkung entfalten könnte. Es braucht nur das Vertrauen in die Wirkung von Kreativität als Gemeingut.
Harald Gründl
Geboren 1967 in Wien. Studium des Industrial Design an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Dr. phil. habil. Designer, Designtheoretiker. Partner bei EOOS Design. Gründer und Leiter des Institute of Design Research Vienna. Lehrt Designtheorie und Designpraxis am Institute of Industrial Design in Taipeh.

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