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«Wir bauen ein Paradies»: die Geschichte des Shoppingcenters in der Schweiz
Neue Zürcher Zeitung

Mit der Eröffnung des ersten Einkaufszentrums des Landes beginnt vor 50 Jahren eine neue Ära im Detailhandel – ein Blick zurück.

9. März 2020 - Fabian Furter
Mit dem Slogan «Wir bauen ein Paradies» lanciert die Betriebsgesellschaft des künftigen «Shoppi» im September 1969 in der NZZ eine Serie von ganzseitigen Inseraten. Nicht nur das darin angekündigte Shoppingcenter ist etwas Neuartiges für die Schweiz, sondern auch die Werbekampagne. Ein halbes Jahr dauert die Marketingoffensive, dann zeigt sich, was in der Hochkonjunkturschweiz unter einem «Paradies» zu verstehen ist: eine vollklimatisierte Ladenstrasse mit über 50 Geschäften, 7 Restaurants, 8 Kegelbahnen, ausserdem ein Hallenbad, ein ökumenischer Andachtsraum, ein Raum für Kunstausstellungen und ein Springbrunnen. Dazu kommen 1550 Gratisparkplätze.

Am 12. März 1970 um 10 Uhr beginnt im aargauischen Spreitenbach für den Schweizer Detailhandel eine neue Zeitrechnung. Der Erfolg des ersten grossen Einkaufszentrums ist überwältigend. An Spitzentagen pilgern bis zu 70 000 Personen nach Spreitenbach, und zwar fast ausschliesslich mit dem Auto. Schon im zweiten Betriebsjahr stellen die sechs Millionen Besucherinnen und Besucher über zwei Millionen Autos auf die ausgedehnten Parkflächen. Sogar sonntags kommen sie in Scharen und schlendern durch die Mall – an einem Kilometer geschlossener Ladenfronten vorbei.

Ein Österreicher in den USA

Die noch junge Schweizer Konsumgesellschaft ist 1970 offensichtlich reif für diese neue Form des Einkaufens, die sich in den USA längst bewährt hat. Dort wird ihre Geburt schon Mitte der fünfziger Jahre gefeiert. Die Erfindung dieses amerikanischen Traums wird indessen einem Europäer zugeschrieben: dem österreichischen Architekten Victor Gruen. Als Jude sieht er sich 1938 zur Emigration in die USA gezwungen. Die Monotonie der amerikanischen Vorstädte frappiert den kulturaffinen und lebenslustigen Grossstädter. Gruen übersetzt noch in den letzten Kriegsjahren sein Heimweh nach der pulsierenden Wiener Innenstadt in die Skizzen einer «Shopping Town». Diese soll die Menschen in Suburbia vor der Degeneration schützen und ihnen ein Ort des Einkaufens, aber auch der Inspiration und des Austauschs sein. Gruen kämpft vehement dafür, dass Einkaufszentren keine reinen Konsumtempel werden. Er trotzt seinen ersten Bauherren Investitionen in grosszügige, konsumfreie Zonen ab, in Kleintierzoos, Skulpturen, Mehrzweckräume oder Spiel- und Sportplätze. 1954 wird in Detroit «Northland» eröffnet. Es ist das erste Einkaufszentrum der Welt.

15 Jahre sollen also vergehen, bis diese neue Bauform erstmals in grossem Stil in der Schweiz realisiert wird. In dieser Zeit lässt in den USA das Profitstreben des Kapitalismus die Idee der polyfunktionalen «Shopping Town» verkümmern, sie mutiert zur reinen Konsumwelt. Gruen als geistiger Vater verliert die Kontrolle über sein «Kind»: Er weigere sich, so Gruen, Alimente für die zigtausend Bastarde an Amerikas Stadträndern zu bezahlen. Der vielleicht einflussreichste Architekt des 20. Jahrhunderts nimmt sich aus der Verantwortung und kehrt 1968 zurück nach Österreich. Das ist zu der Zeit, als sich im Limmattal eine riesige Baugrube öffnet.

Pionierrolle Spreitenbachs

Warum entsteht ausgerechnet in Spreitenbach das erste Schweizer Shoppingcenter? Es gibt eine zeitliche Koinzidenz zwischen der Eröffnung von Northland in Detroit und dem Erwachen von Spreitenbach aus dem Dornröschenschlaf, nämlich diese: Das Bauerndorf zählt 1954 1200 Einwohnerinnen und Einwohner, als der Zürcher Architekt Mario Della Valle fernab vom Ortskern mit dem Bau eines Mehrfamilienhauses beginnt. Pläne muss er dafür keine einreichen, denn Spreitenbach hat zu dem Zeitpunkt – wie die meisten Landgemeinden – weder eine Bauordnung noch einen Zonenplan. Als der Bau im vierten Obergeschoss ankommt, regt sich Widerstand, da offenbar wird, dass Della Valle im Begriff ist, ein Hochhaus mit dreizehn, vielleicht aber auch zwanzig Geschossen zu bauen. So genau weiss das niemand. Der Regierungsrat verhängt einen Baustopp bis zur Klärung der planerischen Grundlagen.

Was sich in den folgenden Jahren in der Limmattalgemeinde abspielt, ist pionierhaft. Die Behörden erkennen dank der Hochhaus-Episode, welche Veränderungen dem Dorf drohen, und engagieren den jungen Ortsplaner Klaus Scheifele. Dieser entwirft zusammen mit weiteren Fachkräften einen Richtplan für den Bau von Neu-Spreitenbach auf der Grundlage der Charta von Athen, des wesentlich von Le Corbusier geprägten Manifests zur Stadt der Moderne. 1960 wird die vorbildliche Ortsplanung rechtskräftig. Das Werk stösst auf grosses Interesse. Planer, Politiker und Investoren reisen nach Spreitenbach und lösen einen gewaltigen Bauboom aus. Das Bauerndorf verdreifacht seine Einwohnerzahl bis 1970. Dies, obwohl den Investoren die Finanzierung nachgelagerter Infrastrukturen abverlangt wird. Im Gegensatz zu anderen Wachstumsgemeinden gerät Spreitenbach so nie in finanzielle Schieflage. Scheifeles Planungsinstrumente bewähren sich und finden teilweise Eingang in das Aargauer Baugesetz von 1971.

Wer kann so etwas bauen?

In Scheifeles Richtplanwerk taucht 1957 erstmals die Idee eines Einkaufszentrums auf, und es ist der Denner-Boss Karl Schweri, der sich über seinen Immobilien-Anlagefonds Interswiss früh das dafür vorgesehene Stück Land sichert. Interswiss sucht nun einen Architekten mit «Amerika-Erfahrung» für die Planung des ersten Schweizer Einkaufszentrums und findet diesen in Walter Hunziker. Der Zürcher Architekt und Stadtplaner ist Anfang der 1950er Jahre in die USA ausgewandert und befindet sich eigentlich nur auf der Durchreise, als ihm sein Vater das entsprechende Inserat in der NZZ zeigt. Hunziker beschliesst zu bleiben und gründet zusammen mit dem Ökonomen Fritz Frey die Transplan AG. 1961 beginnt er mit dem Entwurf eines multifunktionalen Stadtzentrums von Spreitenbach, ganz im Geiste von Victor Gruen.

Hunzikers Ausbildung und seine Referenzen bescheren der Transplan AG schnell volle Auftragsbücher. Inzwischen ist das Rennen um den Bau des ersten helvetischen Einkaufszentrums lanciert. Der Schweiz-Amerikaner profitiert vom grossen Entwicklungsvorsprung in den USA, er plant gleichzeitig in Spreitenbach, Luzern und Regensdorf. Hunzikers Spreitenbach-Projekt entwickelt sich von einer offenen Zentrumsbebauung hin zu einer geschlossenen Mall mit Scheibenhochhäusern als Landmarken. Das «Shoppi» mit seinem Springbrunnen im zentralen Lichthof wird zum Prototyp für Dutzende von Nachfolgeprojekten.

1967 berichtet die «Schweizer Filmwochenschau» über die Grundsteinlegung und zeigt einen sichtlich stolzen Karl Schweri. Bei der Standortwahl hat er das richtige Gespür bewiesen. Spreitenbach befindet sich in der geografischen Schnittmenge der beiden Agglomerationen Zürich und Baden. Die abgeschlossene Ortsplanung gewährleistet eine rasche Realisierung des Vorhabens, und von den Aargauer Behörden liegt die Zusicherung für einen täglichen Abendverkauf vor. Absolut entscheidend ist auch der Faktor Autobahn: Deren Abschnitt durch das Limmattal wird im Herbst 1970 eröffnet.

«Falscher Fortschritt»

Im Zuge der Energiekrise nach 1973 wird Spreitenbach indes zum Fanal eines vermeintlich «falschen Fortschritts» erklärt. Auch die bürgerliche NZZ berichtet 1974 über die «halbwüchsige Stadt», wo die Jugendlichen, statt Hausaufgaben zu machen, im Einkaufszentrum «herumblödeln und Klautouren organisieren». Spreitenbachs Kritikerinnen und Kritiker werden nie mehr verstummen, dem kommerziellen Erfolg des «Shoppi» können sie gleichwohl nichts anhaben. Nach einem Lebenszyklus fusioniert dieses 2001 mit der einstigen Konkurrentin nebenan zu «Shoppi Tivoli», und es beginnt ein langjähriger Ausbau- und Revitalisierungsprozess. Die Doyenne unter den Schweizer Einkaufszentren behauptet sich bis heute gut – trotz der allgemeinen Krise des Detailhandels.

[ Fabian Furter ist Historiker und Ausstellungsmacher. Sein Dokumentarfilm «Türöffnung zum Paradies» über das erste Schweizer Einkaufszentrum ist am 13. März auf Tele M1 und auf www.zeitgeschichte-aargau.ch zu sehen. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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