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Größe im kleinen Quadrat
deutsche bauzeitung

40 Wohneinheiten »La Quadrata« in Dijon (F)

Ein Traum von einem Wohnungsgrundriss: kaum Erschließungsfläche, alle Wohnräume gleich groß und frei von Nutzungsvorgaben, in einem Raster, das potenziell eine unendliche Reihung zulässt. Sophie Delhay treibt den Wohnungstypus mit zentralem Essraum auf die Spitze und bietet mit durchdachten Details dort Mehrwert, wo im sozialen Wohnungsbau sonst der Rotstift herrscht.

6. April 2020 - Achim Geissinger
Auch in Frankreich wird der soziale Wohnungsbau eher stiefmütterlich behandelt und lohnt sich für Wohnungsbauunternehmen nur, sofern der Staat, statt selbst zu bauen, ordentliche Wohnzuschüsse zahlt. In Paris brillieren einzelne Projekte, die mit neuen Konzepten tatsächlich räum­lichen Mehrwert für die Bewohner bieten, durch eine hochwertige Gestaltung gelegentlich sogar Prestige (s. z.B. db 4/2016, S. 44), das allerdings immer nur im kleinen Rahmen mit wenigen Wohneinheiten. Das Gros der annähernd 10 Mio. Menschen, die in den sogenannten HLMs (habitation à loyer modéré) leben, hat mit planerischer und üblicher Massenware auszukommen.

Die Pariser Architektin Sophie Delhay beschäftigt sich seit einiger Zeit schon mit dem Potenzial, das verdichteten Wohnformen innewohnt und das es dringend zu nutzen gilt. Sie konnte bei ihren Projekten Bauträger wie Bewohner vom Mehrwert gemeinschaftlich genutzter Flächen im selben Maße überzeugen wie sie stringent gereihten Grundrissstrukturen räumliche Vielfalt und Nutzwert zu entlocken versteht.

Für die Planung der 40 Sozialwohnungen in Dijon adaptierte sie den altbewährten Typus der großbürgerlichen Wohnung mit mehreren ähnlich geschnittenen Zimmern, deren jeweilige Nutzung erst der Bewohner festlegt. Der Grundgedanke dabei: das gesamte Haus hierarchiefrei aus lauter gleich großen, ungerichteten Räumen ohne spezifische Nutzungszuweisung aufzubauen.

In einem Wohnungsmodul, das der gesamten Anlage zugrunde liegt, sind vier quadratische Kompartimente in den Abmessungen 3,60 x 3,60 m um eine zentrale »Halle« herum gelagert. Eines der Quadrate ist als »Außenzimmer« ausgeformt – als Terrasse oder geräumige Loggia. Ihm ist eine (ein wenig zu klein dimensionierte) Küche mit Bezug nach draußen angeschlossen. Ihr wiederum gegenüberliegend trennt der fensterlose Nassbereich zwei der nutzungsneutralen Räume voneinander. Dazwischen breitet sich die sinnvollerweise zumeist als Esszimmer genutzte Halle aus. Die Erschließungsflächen ließen sich somit minimieren und stattdessen den Wohnräumen, v.a. der Halle zuschlagen. Obwohl innenliegend erhält diese über die Loggia ausreichend Licht, was vorab in Simulationen nachgewiesen wurde. Ein besonders großzügiger Eindruck ergibt sich, sobald eine oder mehrere der Holz-Schiebetüren geöffnet werden, um nahezu raumhohe, 1,20 m breite Durchgänge zu den Zimmern freizumachen. Eine der Mieterinnen berichtet bei der Besichtigung ihrer Wohnung stolz, wie ihre Freunde sie um die großzügig wirkende Wohnung beneiden – zu Recht.

Struktur und Ausnahme

So schön der Gedanke, alles auf dem Quadrat aufzubauen, so schwierig, die beschränkten Wohnflächen und die Mindestabmessungen von Nebenräumen zusammenzubringen. Das Quadratsystem geht nicht ganz auf; die innenliegende Raumspange muss ein wenig tiefer sein. So fällt der zentrale Raum leicht längsrechteckig aus und es braucht in einigen Wohnungen mitunter halbierte Quadrate und auch Durchgangszimmer, um die gewünschte Vielfalt an Wohnungsgrößen unterzubringen, namentlich eine gute Mischung aus Ein- bis Vier-Zimmer-Wohnungen mit 32, 45, 65 und 78 m².

Bei genauerer Betrachtung der Grundrisse lässt sich schnell erkennen, wie vielfältig sich einerseits das einmal gewählte Grundraster bestücken lässt – und wie andererseits das Klötzchenspiel letztlich zur mathematischen Übung und echten Anstrengung geraten ist. Denn hinzu kommt die städtebauliche Großform, deren terrassierte Kubatur zwischen der kleinteiligen Einfamilienhäuschen-Bebauung im Süden und den im Bau befindlichen Geschosswohnungsbauten im Norden vermittelt. Die Stadt Dijon betreibt hier massiv Nachverdichtung auf frei gewordenen und freiwerdenden Flächen eines aufgelassenen Gewerbegebiets, das sich entlang einer Bahntrasse stadtauswärts zieht.

Die Abtreppung der beiden Gebäudeschenkel nimmt der Baumasse die Wucht und eröffnete die Möglichkeit, einigen Wohnungen eine Terrasse vorzuschalten. Um auch die Erschließungsflächen zu minimieren, sind einige Wohnungen in den unteren Geschossen direkt über die Loggia oder über eine Terrasse zugänglich – südländisch geprägten Bewohnern kommt dies entgegen, so mancher findet dagegen die Aufstellung von Sichtbarrieren zwingend. Die individuelle Aneignung hat bereits ihren Lauf genommen.

Bei nur wenigen Wohnungen stolpert man direkt in den Wohnbereich hinein, es gibt sogar Varianten mit veritablen Fluren. Die Bäder und WCs sind im Grunde zu groß, da ein pauschales Gesetz selbst in jenen Wohnungen rollstuhlgerechte Maße verlangt, die gar nicht barrierefrei zu erreichen sind. Der ursprünglich vorgesehene Vorraum vor dem Nassbereich ließ sich dadurch nicht umsetzen – jetzt monieren die Mieter den direkten Zugang vom Ess-Raum aus samt der akustischen Nachteile.

Nutzwert und Raumgewinn

Sehr vorteilhaft hingegen fällt die Umsetzung kluger Detailideen der Architektin aus, die sich z.B. fragte, wie der fehlende Stauraum zu kompensieren sei, und in der Folge für jedes Zimmer ein System aus Einbauschränken entlang der Außenwände durchsetzte. Auf der mit außenliegendem Sonnenschutz bestückten Hofseite ergibt sich, nach Art der Fensterbank in einer Burg, direkt am großflächigen Fenster eine Fläche zum Lümmeln, oder auch als Ablage für allerlei Nippes. Zur Straße hin bildet ein Alkoven einen quasi-urbanen Vorplatz, auf den hin die Schranktüren öffnen – und eben nicht ins Zimmer hinein, das unbeeinträchtigt und somit frei möblierbar bleibt. Die nahezu quadratischen Zimmerflächen nutzen im Übrigen viele Mieter dazu, größere Betten aufzustellen, was v.a. Jugendliche sehr zu schätzen wissen.

Ein Kasten über dem Alkoven sichert die Grundbeleuchtung – mit einem transparenten Kunststoffpaneel zum Raum hin und handgroßen kreisrunden Löchern nach unten, über die sich das Leuchtmittel leicht auswechseln lässt. Weiche, lichtdichte Vorhänge ermöglichen die völlige Verdunkelung.

Die vergleichsweise dünnen Sperrholzbretter der unterschiedlich tiefen Schränke lassen den Sparzwang erahnen; sie schließen mitunter schon nicht mehr sauber. Typisch für Frankreich: Eine Trittschalldämmung gehört nicht zum Standard; der himmelblau gewölkte PVC-Boden muss genügen.

Beitrag zum Selbstwert

Sophie Delhay mag es, in ungewöhnlichen Begriffen zu denken und zu kommunizieren, und damit den Geist zu öffnen. In Bezug auf die Einbauschrank-Alkoven etwa spricht sie von »bewohnten Fassaden«, bei einem weiteren Wohnprojekt in Dijon überhöht sie die zweigeschossigen Wohnzimmer, die sie dort dem Bauträger unter Weglassen jeglicher Oberflächenveredelung ­abtrotzte, zu »Kathedralen«. In diesen Begriffen wird die Wertschätzung deutlich, die Delhay den Bewohnern über die Angebote ihrer Architektur zukommen lassen möchte – und die durchaus wahr- und angenommen werden. Sie wirken der Stigmatisierung, der sich die typische HLM-Bewohnerschaft ausgesetzt sieht, in dem Maße entgegen, in dem der bauliche Mehrwert spürbar, nutzbar und nicht zuletzt vorzeigbar wird.

Um ihre von eingeübten Standards abweichenden Gedanken umsetzen zu können, schaltete sie der näheren Planung Workshops mit dem Bauträger vor. Die zumeist völlig unabhängig voneinander agierenden Abteilungen für Bau und Hausverwaltung lernten dabei einander und die unterschiedlichen Herangehensweisen ebenso kennen wie den allseitigen Nutzen ungewohnter Lösungen.

Am Ende konnte Delhay die Verantwortlichen von »La Quadrata« sogar von der Einrichtung ­eines Gemeinschaftsraums überzeugen, der sich, ausgestattet mit separat ­gelegener Küchenzeile und Nassraum, für allerlei Freizeitaktivitäten eignet. Die geräumige Loggia davor tritt am Hochpunkt der Anlage zwei Geschosse hoch in Erscheinung und bietet einen Ausblick auf das zukünftige Ökoquartier auf der anderen Straßenseite. Noch ist die Möglichkeit der Nutzung durch die Bewohnerschaft nicht offiziell kommuniziert – Andeutungen dazu lassen aber staunende Vorfreude aufkommen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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