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Was heißt da „Grüner Prater“? Ein Lokalaugenschein
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Wien - die „grünste Stadt der Welt“, wie dieser Tage gemeldet? Ein Besuch im Prater weist auf anderes hin. Von brutaler Übernutzung, ungebrochener Bauwut und einer offenen Wunde namens Südosttangente: ein Befund samt Therapievorschlägen.

15. Mai 2020 - Mario Terzic
Gewaltig offenbaren sich gegenwärtig im Ökosystem Erde Fehlentwicklungen der Konsumgesellschaft. Sie zeigen sich in allen Maßstäben: vom hemmungslosen Verbrauch fossiler Bodenschätze bis zur Produktion von Nahrung und Bekleidung, von der modernen Medizin bis zum Transport von Grabsteinen aus Indien auf den Wiener Zentralfriedhof. Die Fakten liegen seit Jahrzehnten offen, doch sie werden von Führungskräften und von entscheidenden Wählerschichten ignoriert.

Schon ein Frühlingsspaziergang durch den Wiener Prater führt an zahllosen Beispielen paradigmatischer Zerstörungen vorbei. Ein erstes Entsetzen über den Zustand von sechs Quadratkilometer Grünland mitten in Wien löst weitere Begehungen aus. Neben Sichtungen an Ort und Stelle erzeugt ein Blick auf den Stadtplan von 1950 Schrecken: Welche Verluste! Wo blieben in den vergangenen 70 Jahren Naturschutz, Landschaftsschutz, das Naturdenkmal, der Biosphärenpark, Natura 2000?

In stundenlangem Gehen entstehen Vorstellungen von Reparatur, Umkehr und Heilung. Es braucht eine umfassende Neubestimmung der Restsubstanz der alten Donaulandschaft sowie entsprechend ordnende Maßnahmen gegen Vernachlässigung bei gleichzeitigem Druck vielfältig wuchernder Ansprüche. Herausgefordert sind Sportvereine, Stadtgartenamt, Kleingartenvereine, Hundebesitzer, Radfahrer und, und, und.

Durch Neuordnung der Landschaft wurde Wien im 19. Jahrhundert zur Großstadt. Die Anlage der Ringstraße begann nicht mit dem Bau der Neuen Hofburg, dem Parlament oder der Oper, sondern mit einem Wettbewerb zur Gestaltung des Freiraums Glacis. In der Folge wurde ein großzügiger innerer Grünring geschaffen – ein triumphaler Repräsentationsraum der Monarchie mit der Ringstraße, den Parks und den prägenden Bauten des Historismus. Ebenso bedeutend für die Stadt wurde, nach Jahrhunderten des vergeblichen Ringens mit dem Strom, die erfolgreiche Donauregulierung in den 1870ern. Abgetrennt vom Strom, entstanden so die Landschaftsfiguren der Alten Donau und der Praterinsel.

Immer deutlicher zeichnete sich auch ein großer äußerer Grünring ab, und schon 1905 fasste der Gemeinderat den Beschluss für einen „Wald- und Wiesengürtel“, wie ihn der Pionier Josef Schöffel initiiert hatte. Dieser Grünraum setzte sich eher informell aus dem Wienerwald, den Donauauen, Äckern und Weingärten zusammen. Mit der Schaffung der 21 Kilometer langen Donauinsel verdeutlichte sich der äußere Grünring, der das Potenzial für eine ökologische Metropole hat: 135 Quadratkilometer Wienerwald, der einzigartige Nussberg mit seinen Weinrieden, der Lainzer Tiergarten mit geschütztem Wildbestand, die Steppe am südlichen Stadtrand, Parkanlagen wie Schönbrunn und Oberlaa, Prater und Lobau als noch immer naturnahe Aulandschaften, die Donauinsel als grüne Eventarena, Sport- und FKK-Insel.

Diesen Reichtum zu restaurieren und deutlich zu machen ist eine vordringliche Verpflichtung für kommende Jahre. Das Aufstellen von Tafeln mit Hinweisen, Warnungen und Radfahrverboten, an die sich niemand hält, wird nicht reichen, auch nicht der heitere Wunsch der Umweltstadträtin: „Viel Spaß!“

Grünräume dienen der Bewegung der Bürger und zur Durchlüftung der Stadt. Selbstredend stellt sich dabei auch die Frage nach ihrer Qualität. Am Beispiel des Praters lassen sich dazu entscheidende Aspekte aufzeigen: 1990, also 85 Jahre nach dem ersten Gemeinderatsbeschluss, mussten die Biologen Peter Sehnal und Franz Tiedemann Maßnahmen zur Erhaltung der naturnahen Aulandschaft einfordern: Verbesserung der Grundwassersituation; Förderung standorttypischer Gehölze; deutliche Zonierung des Gesamtgebietes; Errichtung von Amphibienschutzzonen, notfalls befristete Straßensperren; Wiederherstellung zerstörter Habitate; Lenkung der Besucherströme; Reduzierung des öffentlichen und privaten Autoverkehrs.

Im Grunde wurde nichts davon umgesetzt, die Forderungen haben jedoch an Dringlichkeit gewonnen. Zehntausende Radfahrer, ungezählte Hundeliebhaber schwärmen durch die verführerisch gschmeidige Freiheit und zerstören sie dabei fortwährend. Mit „Hier zieht Freude ein!“ werben Investoren für ihre ungebrochene Bautätigkeit in der Krieau. Tausende künftige Anrainer des „Grünen Praters“ könnten bald eine große Enttäuschung erleben. Welche Planer bedenken die alte Forderung nach „Lenkung der Besucherströme“? Der Prater muss endlich als umfassendes Großprojekt betrachtet werden, vergleichbar mit der Anlage der Ringstraße. Alternative ist das Entstehen einer Vergnügungssteppe. Während die seit Kaisers Zeiten von einer Mauer geschützten Gärten Lainz und Schönbrunn ihren Charakter ebenso bewahren konnten wie die Weinrieden des Nussbergs, sind der Wienerwald und der vergleichsweise kleine Grüne Prater hilflos der Übernutzung ausgesetzt.

Grundlage für eine neue Phase in der Entwicklung des Praters wäre zuallererst eine klare Zonierung in einen Sportbereich und eine Park- und Aulandschaft. Im 20. Jahrhundert wurde Sport zur bedeutendsten Berührungsebene zwischen Mensch und Natur – das sollte in einem neuen Maßstab eindrucksvoll dargestellt werden. Das historische WAC-Stadion wartet vergessen hinter Drahtgittern, zwei rote Linien verblassen auf der Hauptallee – Spuren des Marathonrekords von Eliud Kipchoge. Welches Potenzial liegt in den Legenden von Sindelar, Ilona Gusenbauer zur Gestaltung eines einzigartigen Sportparks!

Vor allem zur Wiederbelebung der ökologisch verletzlichsten Zone, der sogenannten Park- und Aulandschaft, muss endlich ein verbindliches Abkommen durchgesetzt werden. Die beschönigende Formel „naturnah“ – in der Praxis Minimalbetreuung trotz massiver Übernutzung – funktioniert nicht. Der Grüne Prater ist zurzeit nur mehr vernachlässigtes Gemeindegrün, das Ausgedinge für von Efeu und Misteln befallene Silberpappeln, er könnte aber zu einem prächtigen Augarten werden. Allerdings mit dem Management und der Pflege, die ein Garten eben braucht.

Starten könnte ein solches Großprojekt mit einer Informationsoffensive, ähnlich dem „Bahnorama“, das die mehrjährigen Bauarbeiten am Wiener Hauptbahnhof begleitete. Gleichzeitig beginnen überfällige Aufräumarbeiten: Entfernung von Tausenden Quadratmetern Asphalt- und Betonresten, Renaturierung von zahllosen Trampelpfaden und Brachflächen, Restaurierung der Bundesateliers in der Krieau und so weiter und so fort.

Bedeutendste gärtnerische Neuanlage wären sieben große Inseln, Pflanzen- und Tierschutzareale, die, von breiten Wassergräben umgeben, unbetretbar bleiben: 30 Hektar, die das Lusthaus-, das Mauthner- und das Krebsenwasser einschließen, 16 Hektar am Heustadlwasser, 25 Hektar im Fasangarten und vier weitere Inseln. Von den äußeren Ufern, vielleicht von Bänken und Terrassen aus, könnte man das Leben des befreiten Waldes jenseits des Wassers betrachten und belauschen.

Die Lebensqualität von ganz Wien wird von der Wahrung der Rechte der Tiere und der Respektierung ihrer Biotope abhängen: Wie absurd ist die Aufregung um Pandabären in Schönbrunn – wichtiger sind die frisch gelegten Eier des Eichelhähers am Dammhaufen!

Ein Dutzend weitere Inseln könnten den Auwald tief in den zweiten Bezirk hineintragen, würden den Prater wieder ausweiten. Unsinnige Kiefernpflanzungen wie im Viertel Zwei würden entfernt und durch Au-typische Gehölze ersetzt. Wassergräben und Silberpappeln am Elderschplatz, in der Venediger Au, an der Innstraße. In öffentlichen Aquarien könnten staunende Kinder und schweigende Pensionisten ihre Donaufische sehen.

Der Wassermangel im gesamten Prater muss durch eine adäquate Investition ausgeglichen werden. Was die Experten beim Bau des Kraftwerks Freudenau installierten, hat sich nach der Erfahrung von 20 Jahren als nicht ausreichend erwiesen. In der Seine wurde im 17. Jahrhundert ein mächtiges Pumpwerk erbaut, es versorgt Hunderte Wasserspiele im Garten von Versailles, die noch dazu fast 200 Meter höher liegen als der Fluss. Was die „Machine de Marly“ für die Repräsentation König Ludwigs XIV. leisten konnte, sollte doch heute zur Schaffung einer Gartenlandschaft für die Großstadt Wien technisch machbar sein.

Eine Vision: Nahe der Wirtschaftsuniversität, an der Kaiserallee, erhebt sich ein fast schwebend erscheinender Pavillon. Im Innenraum gedämpftes Licht, wenige Stufen, und man erreicht die rundum laufende Galerie. Unter der Brüstung im Zentrum erstrahlt auf einer Fläche von 30 mal 15 Metern die Donaugrafie, eine computergenerierte Videoproduktion, entwickelt aus historischen Landkarten. Sie zeigt die Geschichte der Donau bei Wien. Das Mäandern des Stromes in der Ebene östlich der Wiener Pforte ist mit einem feinen Orientierungsnetz unterlegt, auf dem die gegenwärtige Stadtstruktur zu erkennen ist. Wieder im Freien betritt man wie tastend den soeben erkannten Schwemmboden.

Die schwerste Verletzung

Die wohl schwerste Verletzung, räumlich wie akustisch, wurde dem Prater mit dem Bau der Südosttangente zugefügt. Acht Fahrstreifen plus zwei Pannenstreifen zerschneiden, als Hochstraße angelegt, den Wald auf einer Länge von 1,9 Kilometern. Lärmschutzwände wurden erst Jahre nach der Inbetriebnahme installiert. Der Verkehrslärm bleibt trotzdem eine dominante Störung. Er reicht auf beiden Seiten der Autobahn mindestens 100 Meter tief in den Wald, was insgesamt einer beschallten Fläche von rund 45 Hektar entspricht. Es sollte jede Anstrengung wert sein, wenigstens eine Anmutung von Stille zu erzielen. Im Schatten, unter den Fahrbahnen, zwischen den Stützen wächst kein Grashalm mehr, liegt nur noch kahler Schotter.

Das Heustadlwasser ist durch eine Stützenreihe und deren Fundamente mitten im Wasser total entstellt. Beim Bau hat sich kein Experte der Frage gestellt, wie dieses Verkehrsgebäude in die Landschaft zu integrieren wäre. Ich schlage vor, es „heulendes Monster“ zu nennen und als Ganzes einzutunneln. Das Dach könnte mit einer Fotovoltaikanlage ausgerüstet werden und so Strom für 1000 Haushalte liefern. Sowohl Schrebergärtner als auch Myriaden von Insekten wären die direktesten Profiteure der technischen Beruhigung, der Prater wieder stiller.

Manche der skizzierten Vorstellungen mögen realitätsfern scheinen, doch nur, wenn man von den Maßstäben der gegenwärtigen Amtspflege ausgeht. Das Wiener Stadtgartenamt ist mit der Erhaltung des Praters gänzlich überfordert. Eine umfassende Neuorganisation wäre die Voraussetzung für eine reiche Zukunft. Die Vision dieses „Augartens“ könnte das Wiener Beispiel einer Landschaftsrestaurierung sein, wie sie unter der „Thames Landscape Strategy“ umgesetzt wurde. Ausgehend vom großartigen „Restoration Management Plan“ für die „Ham Avenues“ von Kim Wilkie wurden mehr als 20 Kilometer des Themse-Tales flussaufwärts von London nach Jahrzehnten des Verfalls saniert. Es geht also!
Mario Terzic
Geboren 1945 in Feldkirch. Studium des Industrial Design in Wien. Gründete 2000 die Klasse für Landschaftsdesign an der Universität für angewandte Kunst, an der er bis 2013 lehrte. Lebt und arbeitet in Wien als Ausstellungsmacher und Gestalter von Gärten und öffentlichen Räumen.

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