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„Die klassische Stadt wird es nicht mehr geben“
Der Standard

Nicht mehr der Kirchplatz im Zentrum, sondern das Potential bestimmt zukünftig die Identität der Metropole, meint der Architekt Rem Koolhaas im Gespräch mit Maya Kandel.

31. März 1999 - Maya Kandel
Der 55jährige Niederländer Rem Koolhaas ist einer der großen Architekten unserer Zeit, eine hochgeschätzte und geschmähte Kultfigur, die niemand gleichgültig läßt. Vor seinem Studium an der Architectural Association in London arbeitete er als Reporter für ein Magazin und schrieb Drehbücher in Hollywood. Danach verbrachte er einige Zeit in New York und faßte seine Erfahrungen in dem Buch „Delirious New York“ zusammen, das 1978 erschien und wie eine Bombe wirkte.

Mit scharfem Blick und Ironie zeichnet Koolhaas ein radikales Portrait der Moderne. Seit 25 Jahren leitet er sein Office for Metropolitan Architecture (OMA) in Rotterdam, an der Harvard Universität hat er eine Forschungsgruppe aufgebaut, unter anderem für ein Projekt in Südchina, das einige Millionen Menschen umfaßt, und zur städtebaulichen Erforschung Afrikas.

Paris war die Weltstadt des 19., New York des 20. Jahrhunderts. Welche Stadt ist die Stadt der Zukunft?

Nehmen wir als Beispiel das Projekt im Delta des Perlflusses in Südchina, an dem ich gerade arbeite. Es handelt sich um eine Gruppierung von über zehn Städten nördlich von Hongkong, die größte davon ist Shengsen. Derzeit leben dort 12 Millionen Menschen, 2020 werden es 36 Millionen sein. Dieser Typus einer urbanen Einheit ist richtungsweisend für das 21. Jahrhundert. Die klassische Stadt mit einem deutlich sichtbaren Zentrum, mit Abgrenzungen, und einer Peripherie wird es nicht mehr geben. Im Gegenteil, die Idee des Stadtzentrums wird nicht einmal ansatzweise vorhanden sein, die Dichte wird ganz gleichmäßig auf das gesamte Stadtgebiet verteilt sein.

Es wird nicht mehr notwendig sein, vor einem gigantischen Hochhaus eine U-Bahnstation zu bauen, es wird keine Anhäufung von Wolkenkratzern mehr geben. Das Internet, neue Formen der Kommunikation werden sich explosionsartig weiterentwickeln. Berufe und Lebensstile verzweigen sich immer mehr, das steht im Widerspruch zur traditionellen Logik. Ein Wolkenkratzer am Rande eines Reisfeldes wird kein Widerspruch mehr sein. In Afrika - zum Beispiel in Lagos, Nigerien - und in Asien zeichnet sich diese Entwicklung bereits ab.

Werden auch westliche Städte diesen Weg verfolgen?

In Europa haben wir das traditionelle Konzept einer Stadt beibehalten. Wenn wir aber an Holland denken, ist Rotterdam und Amsterdam bereits durch eine Kette von Siedlungen verbunden. Die Diskussionen gehen bereits von einem neuen Ansatz aus.

Was wird die Identität einer Stadt im nächsten Jahrhundert ausmachen?

Bestimmt nicht der Kirchplatz im Zentrum. Die Identität wird vielmehr vom Potential einer Stadt abhängen. Shengsen zum Beispiel wurde in der Nähe von Hongkong gebaut, um vom Wirtschaftsleben Hongkongs zu profitieren. Daraus ist seine ganz spezifische Identität entstanden, mit besonderen Migrationen und Lebensabläufen.

Wir sind noch immer der Meinung, die Identität einer Stadt hängt von sichtbaren Merkmalen ab. Aber ich glaube, daß sie auch und vor allem vom Potential abhängt und anderen völlig verschiedenen Merkmalen. Die Stadt der Zukunft, die ich eine „wildwuchernde Stadt“ nenne, wird sich aus den Zwängen einschränkender, starrer Identitätsmerkmale lösen und in einen Zustand der Bewegung übergehen, der anpassungsfähiger ist.

Sie und Ihre Kollegen arbeiten überall auf der Welt. Führt das zu einer Globalisierung der Architektur, zur Schaffung der „Einheits-Stadt“?

Die Globalisierung ist ein komplexes Phänomen. Natürlich breitet sich eine bestimmte Bauweise aus, aber sie wird immer durch die lokalen Gegebenheiten verändert. Wenn man das Perlfluß-Delta-Projekt betrachtet, sind westliche Merkmale unverkennbar, aber es ist ebenso deutlich festzustellen, daß es sich weder um Städte in Amerika noch in Europa handelt. Wir machen nie den Versuch, ein vorgefaßtes Konzept durchzusetzen, vielmehr geht es uns darum, die Unterschiede zu erforschen und Lösungen zu finden.

Ziehen Sie es vor, an verschiedenen Plätzen zu arbeiten?

Ja, es ist ein ständiger Lernprozeß. Hier in Südchina zum Beispiel verwenden wir Materialien, die wir in Japan entdeckt haben.

Wäre es ein Wunsch von Ihnen, wie Le Corbusier oder Oscar Niemeyer, die Chandigarh bzw. Brasilia gestaltet haben, eine ganze Stadt aufzubauen?

Nein. Das wäre heute unrealistisch. Ich sage das ohne Bedauern, denn es ist ungesund, einem Architekten diese Machtfülle zu übertragen. Das Wesen einer Stadt basiert auf Koexistenz, auf Gegensätzen, Widersprüchen. Ein Mensch allein kann dieser Vielfalt nicht gerecht werden. Es ist ein unrealistisches Projekt.

Sie sagen, daß die Architektur eine Mischung aus Macht und Ohnmacht ist. Was meinen Sie damit konkret?

Es gibt keine Situation, in der man machen kann, was man will. Immer wird es den einen oder anderen sozialen Widerstand geben. Die Wünsche der Menschen, die in den Gebäuden leben sollen, können wir nicht brutal ignorieren. Die Architektur ist eine ständige Auseinandersetzung mit zahllosen Widerständen.

Das sage ich nicht aus Frustration, im Gegenteil, es ist der Schlüssel zum Verständnis der Architektur. Verhandeln, Hindernisse überwinden, um ans Ziel zu gelangen, das interessiert mich fast mehr als die Architektur selbst. Es ist ein heilsamer Prozeß. Was mich immer wieder verblüfft, ist die Tatsache, wie schnell jeder Widerstand verschwindet, sobald der Bau fertig ist. Nehmen wir als Beispiel die Glaspyramide von I.M.Pei vor dem Louvre in Paris. Widerstand, Kontroversen, alles längst Vergangenheit. So besehen ist die Geschichte der Architektur eine Erfolgsgeschichte.

Wenn ich von Macht und Ohnmacht spreche, sehe ich mich als Teil des Triumphalismus der Architektur. Der Architekt als Held, der alle rettet. Aber hinter seiner Kreativität, hinter seinen Theorien, gibt es ein unsichtbares Geflecht von Strukturen, in deren Rahmen seine Arbeit abläuft.

Um auf die Stadt des 21. Jahrhunderts zurückzukommen: Sie sagen, die Idee von Zentrum und Peripherie ist tot. Wird das die Probleme der Vorstädte lösen?

Das Problem ist vor allem durch eine bessere Aufteilung zu lösen. Die wichtigsten Aktivitäten einer Stadt ereignen sich traditionell im Zentrum. Daraus ergibt sich, logischerweise, daß Bewohner in den Randbezirken das Gefühl haben, benachteiligt zu sein. Die Ironie dabei ist, daß die Mehrheit der Stadtbewohner gar nicht mehr im Zentrum lebt.

Gibt es für Städte wie Paris eine andere Lösung?

Das ist ein politisches Problem. Paris könnte sich genau so entwickeln wie London. Die britische Hauptstadt besteht aus vielen kleinen Zentren. Die Tate Gallery wurde auch in einer ganz uninteressanten Gegend gebaut. Dieses städtebauliche Konzept sollten alle zuständigen Behörden übernehmen.

Urbanistik hat also noch immer einen Sinn, und Städteplaner sind noch immer wichtig?

Ein Plan mit starren Anordnungen für die nächsten 20 oder 30 Jahre wird nicht mehr möglich sein. Vielmehr geht es um eine städtebauliche Strategie, ein Konzept, das Platz für Überlagerungen und Gleichzeitigkeit läßt. Urbane Gebiete sind multipolare Systeme - Menschen, Märkte, Wirtschaft, Handel - daraus entwickelt sich eine Dynamik. Es wäre Sache des Stadtplaners, diese Wechselbeziehungen zu überblicken und darauf zu achten, daß das System funktioniert. Er ist kein Prophet, heute weniger als je zuvor.

Konkret gesagt, was halten Sie von der Evolution der Stadt, und welche Rolle spielen die Städteplaner und Verantwortlichen?

Der Unterschied zwischen Stadt und Land verschwindet überall immer mehr. Es gibt ein Plankton von Vorstädten, eine Überlagerung von Städten. Es kann sich die Natur in den Weg stellen, ein Berg, dessen Bebauung zu aufwendig wäre und der daher unberührt bleibt. Hier haben wir ein Stück Natur in der Stadt.

Das ist etwas ganz anderes als die Planung von Landschaften. Der Versuch, die Natur in die Stadt zu verlegen, ist ein neues Phänomen. In unserem Harvard-Forschungsprojekt suchen wir nach einem entsprechenden Vokabular, um diese Zwitterbildung zu beschreiben. „Scape“ - cityscape/landscape - heißt Landschaft und Stadt in einem. Die Tragik der Architekten und Städteplaner liegt darin, daß sie von der Evolution überrannt werden. Um das zu erkennen, fehlt ihnen die Distanz. Lieber weinen sie alten Zeiten nach.

Welchen Stempel wollen Sie der Geschichte aufdrücken?

Ich sehe mich lieber als Kraft in einem fortlaufenden Prozeß und bin weniger an Endresultaten interessiert. Alles ist offen, das Unvorhersehbare kann sich ereignen.

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