Artikel

Architektur ist nicht ein Haus
Der Standard

Es geht was weiter in den Denklabors der jungen Generation: Ein Kongreß in Orleans brachte die quersten Architekturköpfe der Welt an einem Ort zusammen und besah sich die Zukunft.

24. April 1999 - Ute Woltron
Wir steuern auf Großartiges zu", pflegt die 92jährige Architektursibylle Philip Johnson neuerdings zu verkünden. Die ganz jungen Kollegen, tönt das alte amerikanische Lästermaul ungewohnt euphorisch, seien auf dem besten Weg, die Architektur für das kommende Jahrtausend neu zu definieren - radikal und aufregend und ganz anders.

Die Postmoderne mit ihrer gut verdaulichen, historisch vertrauten Architekturformensprache ist längst überwunden, die vielgeschmähte „Stilrichtung“ hat dennoch mitgeholfen, das weite Feld zu düngen, auf dem nun die neuesten Architekturpflanzen und Züchtungen in einem wilden Dickicht nebeneinander gedeihen und althergebrachte Elemente wie Wände, Dächer, Decken abreißen und in völlig anderen Formen und Materialien neu denken.

Welche der frischen Gattungen sich durchsetzen werden, welche überleben dürfen und ob es künftig überhaupt so etwas wie Stile geben wird, das kann nur die Zeit weisen. Doch an diverse Ismen - und das unterscheidet sie von ihren Vorgängern - denken diejenigen, die sie gerade erschaffen, nicht. Die jungen Architekten profitieren vom internationalen Trend des autistischen Egoismus, sie reagieren nicht auf Traditionelles sondern auf Aktuelles, sie tun einfach Neues, und sie brechen so althergebrachte Architekturkonventionen wie die Computer-Whizkids ihrerzeit die Altherrengesetze der Elektronikindustrie umgekrempelt und zu völlig Neuem geführt haben.

Die Architektur antwortet auf die Welt, in der sie entsteht. Warum also sollten Leute, die über zigarettenschachtelgroße Elektronikboxen mit anderen Leuten in Kuala Lumpur kommunizieren, während sie über die Copacabana spazieren, in den selben alten Haus- und Wohnungsformen leben, in denen früher verdrahtete Telefonmonumente aus Bakelit standen? Computer, Internet, Raves, Aids, Teleworking, Hypertext, Herztransplantationen, Genmanipulationen - die Welt verändert sich, und mit ihr verändert sich auch die Architektur.

Dreißig Querdenker im Alter zwischen 30 und 40 Jahren stürmten vergangene Woche untertags die Konferenzsäle und nächtens die Lokale und Bars der kleinen französischen Stadt Orleans, in der romanische Kirchlein, gotische Kathedralen, 60er-Jahre-Wohnblöcke und Stahl-Glas-Architekturen ein friedliches Stadtnebeneinander bilden, und sie diskutierten über dieses neue Wesen der Architektur, über eine neue Definition des Berufsbildes und über die Sinnhaftigkeit der Branche im allgemeinen. Bevor sie wieder abreisten, bauten sie in den fesch maroden Hallen einer alten Militärkaserne eine beachtliche Ausstellung auf, die unter dem Namen „ArchiLab“ noch bis 30. Mai Einblicke in die innovativsten internationalen Architekturbestrebungen gibt.

Organisiert hatte das heuer erstmals stattfindende internationale „ArchiLab“-Get-Together die Stadt Orleans mit dem "Fonds Régional d'Art Contemporain (FRAC). Man wollte aber, so Kurator Frédéric Migayrou, vor allem die Architekten zum konstruktiven Austausch zusammenbringen, die Ausstellung selbst bilde lediglich das Tüpfchen auf dem I. Die Konferenzen waren ausschließlich den Teilnehmern vorbehalten. In den kommenden Wochen werde man die Resultate auswerten, zu Papier bringen und veröffentlichen. DER STANDARD wird dann darüber berichten.

Vorerst steht die großzügige, vielfältige Ausstellung zur Besprechung zur Verfügung, sowie die Eindrücke der Kongreßgeladenen, die ihre Analysen nicht nur auf fachliche Argumentationen, sondern auch auf Beobachtungen bei alltäglichen Handlungen wie Whiskytrinken und Zigarrenrauchen stützen. Japaner wie Hideyuki Yamashita und Makoto Sei Watanabe, so berichten etwa alle anderen Nationalitäten übereinstimmend, hätten offensichtlich im Gegensatz zur restlichen Architektenwelt kaum mit ökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen. Architektur hat in einem Land, in dem ein Quadratmeter Baugrund so viel kostet wie hierzulande eine Luxusvilla, eben einen anderen Stellenwert und einen anderen Preis.

Die Holländer wie Nox Architekten und Oosterhuis Associates, die derzeit als die wohl innovativste bereits bauende Architekturtruppe von Kritikern in den Architekturolymp geschrieben werden, verweigerten wiederum die gemeinsamen abendlichen Barbesuche, sprachen über nichts anderes als über ihre Architekturen und waren deshalb allgemein bald als humorlose Fachmieselsüchtler verschrieen.

Auch Arbeitsweise und Zugang variieren zwischen den einzelnen Nationen: In Ländern wie den USA und Holland, wo stinkreiche Privatuniversitäten ihre Studenten an kostbaren Superrechnern experimentieren lassen, entwickelt sich eine Architektenszene, die mit dem Computer umgeht wie Oscar Niemeyer mit dem Zeichenstift, also mit schlafwandlerischer Sicherheit. Während in Japan die Blech-Chip-Maschine allerdings als schlichtes, praktisches Arbeitsinstrument angesehen wird, ist sie den Amerikanern und Holländern Quell der Inspiration. Formationen wie Nox Architekten oder der kalifornische Entwurfsavantgardist Greg Lynn entwerfen ihre Architekturen eher nach Maßgaben des Computers als nach Aufgabenstellungen.

Apropos Formationen: Die meisten der künftigen Baukünstler sind im Gegensatz zu den machthabenden Stars zur Zusammenarbeit fähig: Sie verbünden sich zu Zweier-, Dreier-, Vierergruppen, ein Trend, der übrigens seit ein paar Jahren auch hierzulande greift. Als einzige Österreicher waren Wolfgang Pauzenberger und Michael Hofstätter, alias „Pauhof“, geladen, obwohl sie sich selbst als „zu alt“ und als „untypisch“ erachteten. Sie präsentierten ihre einigermaßen brutalen, unverschnörkelten Entwürfe für das Museumsquartier und den österreichischen Pavillion für die Expo 92 in Sevilla, sowie das realisierte „Haus P“ in Gramastetten.

Wer im übrigen glaubt, daß Österreich in der Architekturavantgarde keine Rolle spielt, der irrt. Auf irgend eine Art und Weise war das heimische Baugeschehen auf jedem dritten ArchiLab-Stand dokumentiert. Asymptote (USA), Van Berkel & Bos (NL) und Reiser + Umemoto (USA) zeigten ihre Wettbewerbsbeiträge für das Grazer Musiktheater, Nasrine Seraji unterrichtet Architektur an der Wiener Hochschule für bildende Kunst, Ben van Berkel, Helena und Hrvoje Njiric an der Technischen Universität Graz. Die Kroaten zeigten außerdem einen Entwurf für einen Baumaxx-Megamarkt in Maribor, Slowenien, der allerdings aufgrund der aktuellen Balkan-Ereignisse noch nicht realisiert wurde.

Tatsächlich Gebautes stand überhaupt im Hintergrund auf der Ausstellung in Orleans - auch das ein Trend der Zeit. Viele Bau-Denker sind bereits bekannt und werden international diskutiert, bevor sie einen Stein über den anderen geschlichtet, eine Membran gespannt, einen Stahlträger aufgerichtet haben. Die avantgardistische Architektur beginnt sich immer stärker über Ausstellungen, Kunstevents und theoretische Abhandlungen zu verkaufen, und es ist ein Trugschluß, zu glauben, nur das tatsächlich Gebaute hätte Geltung. Auch wenn die vielgepriesene neue Schlichtheit gerade ihre wunderschönen glatten Boxen auf Wiesen stellt, an Seeufern verankert und mit Architekturpreisen bedenkt: Die Zukunft schaut gar nicht nur nach Euklid aus.

Tatsächlich regieren schon jetzt, wie Rem Koolhaas zu sagen pflegt, die vielen Wahrheiten der Architektur. Ob Dekonstruktion oder neue Schlichtheit, ob Traditionalismus oder Avantgardismus - (alters)kurzsichtig diejenigen, die im Architekturmatch Sieger oder Verlierer erkennen wollen.

Der alte Johnson war immer schon weiser. Er hat in den 80ern durch seine dicke Brille die Dekonstruktivistenentwürfe gesehen, die sich heute allerorten dreidimensional und für heftige, gesunde, ordentliche Architekturdiskussionen sorgend aus den Erdböden schrauben. Bekannt wurden sie allerdings als Entwürfe und in Form einer Ausstellung.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: