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Sehnsucht nach Utopia
Neue Zürcher Zeitung

Die siebte Architekturbiennale von Venedig

Grösser denn je zuvor präsentiert sich die Architekturbiennale von Venedig. Unter dem hybriden Titel «Città: Less Aesthetics, More Ethics» werden vom diesjährigen Biennaledirektor, Massimiliano Fuksas, im italienischen Pavillon, in den Corderie und im Arsenal rund 90 Architekturbüros vorgestellt. Ausserdem zeigen 34 Nationen in den Giardini und in der Stadt eigene Beiträge.

20. Juni 2000 - Roman Hollenstein
Seit Jahren schon sind die Kunst- und Architekturbiennalen von Venedig umstritten. Da ist es gar nicht so absurd, wenn die Schweiz den Zaungästen, die sich das Eintrittsgeld sparen möchten, gleich neben dem Haupteingang zu den Giardini die Möglichkeit bietet, über ein Gerüst in ihren Pavillon zu steigen und so auf informelle Art etwas Biennaleluft zu schnuppern. Dank dieser Kletterei kann man Bruno Giacomettis Ausstellungsbau, einen der schönsten auf dem Biennalegelände, aus intimer Perspektive kennen lernen. Unten im Ausstellungssaal, wo in besseren Jahren Herzog & de Meuron und Luigi Snozzi geehrt wurden, umfängt einem dann aber Leere. Vorbei an rassistischen Graffities, die wohl auf die multikulturelle «Stadt Schweiz» verweisen sollen, gelangt man an das verschlossene Eingangsgitter. Dort sieht man sich ganz plötzlich vom bunten Treiben auf dem Ausstellungsgelände ausgeschlossen. Statt sich zu ärgern, sollte man die Gelegenheit nutzen, hier in aller Ruhe kurz über die Mostra nachzudenken: Fordert doch der diesjährige Biennaledirektor, Massimiliano Fuksas aus Rom, der als Altachtundsechziger gegenwärtig in Wien zwei kommerzielle Wolkenkratzer realisiert, mit dem hybriden Motto «Città: Less Aesthetics, More Ethics» eine neue Haltung der Architekten gegenüber der Stadt und ein damit verbundenes Engagement «per il bene della collettività».


Ethik statt Ästhetik

Erstaunlicherweise steht jedoch der traditionsgemäss dem Biennalethema gewidmete italienische Pavillon weniger im Zeichen der Ethik als vielmehr einer zukunftsgläubigen Ästhetik. Zwar vermögen die zehn Videostelen, auf denen von Fuksas gekürte Vordenker ihre Wortmeldungen abgeben, einen Eindruck von der babylonischen Sprachverwirrung in der heutigen Architektur zu vermitteln. Doch schon im nächsten Raum schwebt das Riesenmodell einer Raumstation über glitzerndem Boden und kündet mit Sphärenklängen von einer besseren Welt. Dann geht es hinunter zu den Computerterminals und Screens, auf denen man die Beiträge für den im Vorfeld der Biennale ausgeschriebenen Online-Architekturwettbewerb einsehen kann. Spätestens hier wird klar, dass diese Schau vor allem den Flirt mit der Hochtechnologie sucht: Allenthalben blitzen Bilder aus dem Dunkel auf, glotzen Roboter starr vor sich hin, ertönen Stimmen und dumpf dröhnende Rhythmen: Die klanglich auf die Betrachter reagierende Installation von Kas Oosterhuis wird zum Conversation Piece der Techno-Generation, und bei Ben van Berkels Manhattan-Projekt herrscht endgültig Partystimmung. Bezirzt von bald nachtschwarzen, bald gleissend hellen Raumsequenzen, in denen mit Greg Lynns «Embryonical House» oder Zaha Hadids Architekturkunstwerken auch inhaltliche und inszenatorische Highlights geboten werden, übersieht man leicht, wie sehr sich hier im Grunde alles um schöne Formen dreht. Mit dem Zugeständnis an seine dekonstruktivistisch, neo-organisch oder expressiv ausgerichteten Favoriten, die ihnen zugeteilten Räume nach eigenem Gusto zu bespielen, hat Fuksas die Möglichkeit vergeben, die von ihm so oft beschworenen Utopien von heute zu veranschaulichen. Es fehlen vor allem konkrete Themen, zu denen die 90 geladenen Architekten (darunter mit Ausnahme des Wahl-New-Yorkers Bernard Tschumi kein einziger Schweizer) Lösungen hätten finden können. Dabei stünden im Zeichen von Ethik und Ästhetik so brisante Aspekte wie die explodierenden Drittweltstädte, die Nord- Süd-Migration, die Investoren- und Spekulantenarchitektur oder die Vorzüge mittelgrosser Städte im Zeitalter der Vernetzung zur Diskussion. Allerdings hätte man dazu neben Architekten auch Urbanisten, Landschaftsgestalter und Soziologen einladen müssen.

Kein Wunder also, dass die Schau im italienischen Pavillon zu einem Sammelsurium selbstverliebter Inszenierungen und pseudokünstlerischer Attitüden ausuferte. Diese finden ihre Fortsetzung in den Corderie und im Arsenal, wo man mit enormem Materialaufwand den Mangel an konzeptionellen Inhalten zu überspielen suchte, dabei aber jeden Zusammenhang verlor. Dies trotz einer 280 Meter langen Leinwand, auf der - von schrillen Geräuschen untermalt - aus den Fugen geratene Megastädte sich als Orte menschlichen Elends zur erkennen geben. Die beklemmende Bilderflut findet eine Fortsetzung in Gary Changs grün erhellten Schlafkäfigen oder in den Ruinenwelten von Sohn-Joo Minn. Ihnen antworten die jungen Spanier von E-City und Metápolis mit einer dem Rationalismus verpflichteten urbanistischen Ethik, während japanische Stars von Hasegawa über Ito und Sejima bis Yamamoto ihre Entwürfe als magisch erhellte Idealwelten anpreisen. Mit seinem Kartonhaus für die Erdbebenopfer von Kobe holt Shigeru Ban diese Träumer zurück auf den Boden der Realität.


Hang zum Sublimen

Als Verfechter eines nachhaltigen Urbanismus postuliert Richard Rogers einmal mehr die «Stadt für einen kleinen Planeten», die «schön, kompakt, gerecht, kreativ, ökologisch und vielfältig» sein soll, und illustriert sie mit seinem Projekt für das walisische Parlament in Cardiff. Den Meinungen von zwei weiteren Moralisten - Siza und Snozzi - begegnet man hingegen nirgends. Aber auch Rem Koolhaas, der an der letzten Documenta Asiens Riesenstädte bewunderte, wurde übergangen. Dafür spiegelt sich sein Hang zum Sublimen in Beiträgen von MVRDV, von Michael Chan aus Hongkong oder von Fernando Romero aus Mexiko. Auch an Stimmen aus Afrika und Indien war Fuksas offensichtlich nicht interessiert; und Südostasien, das im Malaysier Ken Yeang eine respektierte Stimme besitzt, kommt nur mit dem Postmodernisten William Lim aus Singapur und dem jungen Indonesier Eko Prawoto zu Wort. Stattdessen darf man mitverfolgen, wie der futuristische Formalismus der beiden Amerikaner Greg Lynn und Hani Rashid, der Stars dieser Biennale, in den organischen Architekturplastiken des Pariser Naço-Teams, der Londoner dECOi-Architekten oder des Holländers Lars Spuybroek weiterwuchert.

Auch die beim Publikum noch immer höchst populären Länderschauen werden von Lynn und Rashid dominiert, die mit ihrem Forschungslabor im amerikanischen Pavillon eindrücklich die Rückkehr der USA auf die Bühne der Architektur markieren. Sehenswert ist aber auch der Beitrag Rumäniens zur Neugestaltung von Bukarest, sind die Beiträge Deutschlands und Koreas zur Verwandlung von Berlin und Seoul oder derjenige Hollands, der den vernetzten Haushalt feiert. Übersichtsausstellungen bieten Belgien, England, Griechenland, Österreich und Spanien. Die Tschechen und Franzosen machen mit Worten auf die Probleme der Globalisierung und des Städtebaus aufmerksam, die Japaner fliehen unter der Ägide von Kazuyo Sejima in eine blütenweisse Mädchenwelt, und die Russen zelebrieren mit Zeichnungen und Fotos à la Piranesi den Respekt vor ihrem gefährdeten baukünstlerischen Patrimonium. Hier spätestens wird man wachgerüttelt aus der Theme-Park-Trance, in die einen diese Biennale mit Techno-Sound und Arbeiten wie dem im Hafenbecken des Arsenals schwimmenden Zen-Garten von Hans Hollein einlullt. Dass schliesslich die Jury den Goldenen Löwen ausgerechnet dem Global Player und Schönbauer Jean Nouvel verliehen hat, zeigt, wie wenig sie an Fuksas' Ethik-Appell glaubt. - Als Inspirationsquelle für Laien und Ideenbörse für angehende Architekten vermag sich diese Mostra aber durchaus zu behaupten.


[ Die 7. Mostra Internazionale di Architettura der Biennale von Venedig dauert bis zum 29. Oktober. Katalog 120 000 Lire. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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