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Der computergenerierte Wal hat einen Auspuff
Der Standard

Wie wird der Rechner die gebaute Umwelt künftig beeinflussen? Der Schritt von der Cyber- Architektur zum tatsächlich gebauten Projekt. Architektur und Computer, 2. Teil.

29. Mai 1999 - Ute Woltron
Heute sind in der Architektur nicht mehr Dinge wie Blickwinkel, Fassaden, Perspektiven interessant", meint der steirische Computer- und Architekturavantgardist Manfred Wolff-Plottegg, „sondern Lebensprozesse.“ Die Gewohnheit, Architektur bis zu einem gewissen Grad als Bild, als optische Erscheinung in der Landschaft, als ästhetisches Gebilde wahrzunehmen und zu beurteilen, beginnt sich aufzulösen.

Unterstützt wird die Entwicklung dieser neuen Architektur vom Computer, wie das ALBUM bereits vergangene Woche in Teil Eins der zweiteiligen Serie über den Einfluß der smarten Rechenmaschine in der Architektur ausführlich berichtete. Ein Gebäude ist so wenig Bild, wie der Computer Bildmaschine ist, weshalb die Hochzeit der beiden eine bis dato unbekannte und unmögliche neue Welt generiert, die die gebaute Umwelt der Zukunft nachhaltig beeinflussen wird.

In der Vergangenheit hat die Blechkiste schon wesentlich dazu beigetragen, als dienendes Element Entwurfsprozesse zu erleichtern. Sie half bei der Berechnung von Kräfteverläufen in Stützen und Trägern und bei der daraus folgenden Optimierung des Materialeinsatzes. Sie speicherte zweidimensionale Pläne, Schnitte, Ansichten und berechnete und zeichnete daraus die entsprechenden dreidimensionalen Abbildungen, um die entworfene Architektur via Bildschirm und Mausklick räumlich durchwandel- und in ihren Dimensionen gewissermaßen erfahrbar zu machen.

Geometrisch so komplizierte Konstruktionen wie etwa Frank O. Gehrys krummflächiges und titanbeschupptes Guggenheim-Museum für Bilbao wären ohne Computerberechnungen gar nicht realisierbar, und einige wenige Prototypen extrem technologisierter Häuser, etwa in Holland oder in Japan, zeigen, daß der Computer, als architektonisches Element eingesetzt, seine Bewohner bis in die privatesten Sphären betreuen könnte. Fernseher drehen sich per Fingerschnalzen auf, Blutdrucke werden automatisch nach dem Erwachen gemessen, Urinproben unaufgefordert analysiert, zur Neige gehende Kaffeevorräte per Internet automatisch nachbestellt. Die Zukunft wird uns mindestens so irre vorkommen, wie die Gegenwart unsere Ururgroßväter deuchte, wären sie noch am Leben.

Der nächste Schritt, nämlich der in Richtung Computerkreativität, scheint allerdings groß und weit entfernt, doch er erfolgt sogleich, wenn die Maschine nicht nur die von Menschenhand skizzierte Form analysiert und anschließend modifiziert wieder ausspeit, sondern wenn sie gleich selbst in einer Art Kreativprozeß Räume und Gebilde hervorbringt. Dazu wird sie mit den verschiedensten Parametern gefüttert und ersinnt darauf hin die entsprechende optimale Form.

Der Städtebau etwa, so Plottegg, sei längst nicht mehr durch Bilder und Ansichten beherrschbar, sondern allein durch die Erkenntnis der verschiedensten im Stadtgebilde ablaufenden Prozesse und das sinnvolle architektonische Entsprechen darauf. Die Resultate der Experimente computerisierter Stadtforscher dürfen mit Spannung erwartet werden.

Jede avantgardistische Szene hat sich seit ehedem dadurch ausgezeichnet, Branchengrenzen überschreitend zu denken. Eine der großen Leistungen des Computers ist es, je nach Programmierung und Datenfütterung komplizierteste Vernetzungen herstellen zu können, und diese segensreiche Eigenschaft machen sich die Architekturavantgardisten zunutze.

Eine der ersten computergenerierten Architekturen stellten die holländischen „Nox Architekten“ alias Lars Spuybroek vor zwei Jahren in Form des „Blow Out Toilet Block“ neben den in der Vorwoche bereits erwähnten „Freshwater Pavilion“ an den Sandstrand von Neeltje Jans. Die Angelegenheit sieht aus wie ein herausgeschnittenes Teilstück eines schwärzlichen, angeschwappten Wals und beinhaltet, wie der Name schon verrät, Toilettenanlagen. „Dieses Gebäude“, so der Architekt über seine experimentelle Erleichterungsanstalt, "hält das dynamische Gleichgewicht zwischen internen Drücken („ich muß mal“) und großen externen Kräften." Das computergenerierte Strandhaus entstand nach den Erkenntnissen der Strömungslehre und den am Standort vorherrschenden Windbedingungen erst einmal im Computerlabor, dann wahrhaftig in Stahl und Beton und wird aufgrund seiner Form beständig optimal von frischen Seelüften durchspült. Diese treten am „Grill“ auf der den Herren gewidmeten Seite ohne maschinelles Zutun ein, um aus dem „Abgasrohr“ der Damenhälfte automatisch wieder zu entfahren.

Ein nicht weniger drängendes Problem versuchen die Amerikaner Lise-Anne Couture und Hani Rashid, alias „Asymptote“ zu bewältigen: Sie erarbeiten für den New York Stock Exchange eine völlig neuartige Darstellung der Stock-Daten mit Hilfe der Architektur. Was heute noch in abstrakten, an Wandschirmen dahinlaufenden Zahlenkolonnen nur für Insider Aktiengewinn oder Verlust anzeigt, könnte bald als „Virtual Environment“ die verschiedensten Datenströme zusammenfassen, analysieren und optisch aufbereiten. Das Resultat: Ein Raum, in dem auf einen Blick und ohne Zahlenübersetzung anhand der sich stets ändernden architektonischen Beschaffenheit ablesbar ist, ob etwa der Dow-Jones steigt oder fällt.

Der holländische Kollege Ben van Berkel speiste wiederum für seinen „Quick Times Pavilion“ diverse Parameter und Vorgaben in den Computer ein und sah zu, was dabei herauskommt, wenn die Maschine ohne gesetzte Prioritäten alle vorgegebenen Bedingungen als ebenbürtig wichtig in ihre Berechnungen einbezieht. Das Ergebnis ist eine seltsam fließende, amorphe Angelegenheit, ohne Ecken und Kanten, ein unendlicher Raum, ähnlich jenem, den sich Friedrich Kiesler schon seinerzeit ganz ohne Rechenmaschine ausgedacht hat.

Ohne Computer entwickelten auch die Dekonstruktivisten vor nicht allzu langer Zeit ihre ersten architektonischen Würfe. Sie dürfen sich zugute halten, einen krassen Paradigmenwechsel in der Architektur, eine Befreiung der Form und des Architekturdenkens herbeigeführt zu haben. Diese Entwicklung, die immer wieder totgesagt wird, obwohl in allen Weltgegenden die Gegenbeweise der Reihe nach aus Fundamenten in die Höhe wachsen, wird sich mit Hilfe der Computer fortsetzen. Es wird ein spannendes nächstes Architekturjahrtausend.


Weitere Links und Winks zum Thema Architektur und Computer

Alle hier aufgelisteten Websites sind unter http://derstandard.at/supplements/album/arch.htm abrufbar.

Interfacing Realities Conference

http://www.v2.nl/Organisatie/V2Text/Theory/
GSAP/Columbia University 220 Minute Museum

http://www.arch.columbia.edu/Projects/Studio/Fall98/Rashid/index.html
Blur: an architecture of augmented reality

http://www.arch.columbia.edu/Projects/Studio/Sum98/Rashid/
Informing - Interiorites

http://www.arch.columbia.edu/Projects/Studio/Fall97/Rashid/index.html
Columbia Graduate School of Architecture, Preservation and Planning, New York

http://www.arch.columbia.edu/Lars Spuybroek V2Lab
http://www.v2.nl/
Lars Spuybroek at Archilab 99

http://www.frac-centre.asso.fr/archilab/artistes/noxa01en.htm
Freshwaterpavillon

http://www.archis.org/archisarte1997/archisart9709ENG.html
Softsite

http://www.v2.nl/DEAF/96/nodes/NOX/
Kas Oosterhuis oosterhuisassociates

http://www.oosterhuis.nl/
Kas Oosterhuis at Archilab 99

http://www.frac-centre.asso.fr/archilab/artistes/oost01en.htm
Saltwaterpavillon

http://www.archis.org/archisarte1997/archisart9709ENG.html
TU Darmstadt SHARE.WORLD

http://www.shareworld.de
CAD in der Architektur

http://www.cad.architektur.tu-darmstadt.de
archi

http://www.tu-darmstadt.de/fb/arch/
Ars Electronica - Futurelab

Telezone http://www.telezone.at
Ars Electronica Center

http://www.aec.at/
Futurelab

http://www.aec.at/futurelab/index.html
MVRDV

http://www.archined.nl/mvrdv/mvrdv.html
Ken Sakamura

http://tronweb.super-nova.co.jp/15th-tron-symp.html

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