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Gebaute Umwelt
Neue Zürcher Zeitung

Die Metropolisierung und ihre Folgen

Die Städte in der Schweiz und anderswo umgeben sich mit Agglomerationen und bilden gemeindeübergreifende Stadtlandschaften. Das verändert sowohl das Erscheinungsbild unserer Umwelt als auch das Leben, das wir darin führen. Wissenschafter stellen fest: es besteht die Gefahr des Auseinanderdriftens - städtebaulich wie sozial.

4. Juni 1999 - Ursula Rellstab

Chancen und Risiken

Schon vor rund fünfzig Jahren wurde die Metropolenbildung in den USA diskutiert, seit zehn Jahren ist sie auch in Europa ein Thema. Meistens sind es Architekten und Planer, die sich mit dieser Entwicklung befassen, neuerdings - im Zusammenhang mit kommunalen und kantonalen Grenzen, die nicht mehr der gebauten Umwelt entsprechen - auch die Politiker. Erwähnt sei der Vorstoss von Nationalrat Philippe Pidoux, die Kantone Genf und Waadt zusammenzulegen, oder an die geplanten oder realisierten Gemeindefusionen in verschiedenen Kantonen. Der Stadtsoziologe Michel Bassand vom Institut de recherche sur l'environnement construit (IREC) der ETH Lausanne geht noch einen Schritt weiter und untersucht die Zusammenhänge zwischen der Gestalt der metropolisierten Städte und deren sozialer Entwicklung. Er benützt dazu vorab Beispiele aus der Schweiz und aus Frankreich. Metropolen und die Metropolenbildung findet Bassand weder gut noch schlecht. Im Zeitalter der Globalisierung bedeuten Metropolen eine Standortchance, gleichzeitig bergen sie soziale Risiken.

Die «grands ensembles» in Frankreich mit ihren 800 bis 1000 Wohnungen sind für Bassand so etwas wie ein Signal für die Metropolenbildung. Die soziale Segregation wird in diesen HLM (Habitation à loyer modéré) besonders deutlich. Die in einer Zeit der Wohnungsnot und der bautechnischen Innovation gebauten Scheiben- und Turmbauten mussten billigen Wohnraum anbieten. Das setzte einen preisgünstigen Standort voraus; Autobahn-, Bahn- und Industrienähe boten sich an. Ausserdem wurden Infrastrukturkosten gespart und deshalb Schulen, Läden und Nahverkehr vernachlässigt. Bewohner, die es sich leisten konnten, zogen an einen besseren Ort. Die HLM weisen keine homogene Bewohnerschaft auf. Die meisten möchten ausziehen, nur ein kleines Segment von erstaunlicherweise gutverdienenden Bewohnern lebt aus eigenem Antrieb in dem HLM. Es sind hochmobile Leute, die ihre Freunde und Vergnügen anderswo aufsuchen und selten Verantwortung übernehmen für ihre nächste Umgebung. Die Segregation innerhalb der HLM hat viele Ursachen: hohe Arbeitslosigkeit, monotone Bauweise, ungünstige Lage, Bewohner aus verschiedenen Kulturen.

Bassand geht noch weiter und untersucht Wohnungen, Nachbarschaften und Quartiere. In unserer Zeit der Mobilität und Globalisierung findet er diese kleinen Einheiten besonders wichtig. Sie sind wesentliche Elemente der Städte und Metropolen. Er verlangt Offenheit: Das Sichabschotten in der Familie, im Mehrfamilienhaus oder im Quartier sei schlecht, weil es einer Ghettoisierung Vorschub leiste und nicht zulasse, gemeinsam etwas zu einer Verbesserung beizutragen, zum Beispiel, sich gemeinsam mit den lokalen Behörden um das Wohnumfeld zu kümmern. Bassand glaubt nicht, wie andere Autoren, an ein Verschwinden des Quartiers, da es als Brücke zwischen den Bewohnern und der Stadt, der Grossagglomeration oder der Metropole nach wie vor eine Funktion habe. Bassand misst dem öffentlichen Raum viel Gewicht bei: der Organisation und der Gestalt der Strassen, Plätze, Höfe und Pärke einerseits und den Treffpunkten unter Dach, den Bahnhöfen, den Quartierhäusern, allen Einrichtungen für Kultur und Sport, anderseits. Sie ermöglichen nicht nur Begegnungen, sie gliedern und gestalten auch den städtischen Raum. Vor allem im öffentlichen Raum erfahren die Bewohner ihr Quartier, ihre Stadt, ihre Metropole und identifizieren sich damit oder eben nicht. Hier sind die Planer und Architekten angesprochen, welche den Raum zwischen den Bauten schlecht bearbeiteten, ihn zum Restraum degradierten.


Die Bedeutung der «Netze»

Es ist weniger die Ballung von Menschen, welche sich in einer Metropole negativ auswirkt, als vielmehr eine unerwünschte Morphologie und eine risikoreiche sozialräumliche Gliederung. «Netze» können das Auseinanderdriften einer Metropole vermeiden. Ein gut organisierter öffentlicher Raum ist eines der wichtigsten Netze. Hinzu kommt das Verkehrsnetz, das die Menschen- und Güterströme lenkt und die einzelnen Teile einer Metropole oder der Metropolen unter sich räumlich und zeitlich zusammenschweisst. Das Telekommunikationsnetz funktioniert lokal, aber auch weltweit, während sich die Netze von Trinkwasser, Abwasser und Elektrizität direkt auf die Versorgung der Stadtlandschaften auswirken. Damit wirft Bassand die Frage auf, wie die nachindustrielle Gesellschaft, die «société informationnelle et programmée», in Zukunft nicht nur die baulichen und sozialen Strukturen ihrer Stadtlandschaften, sondern auch ihren Föderalismus organisiert, um das zu erreichen, was wir uns eigentlich vorgenommen haben: eine nachhaltige Entwicklung unserer natürlichen, sozialen und gebauten Umwelt.

[ Michel Bassand: Métropolisation et inégalités sociales. Presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne 1998. 264 S., Fr. 49.50. ]

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