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Wie aus einem Guss?
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Stein auf Stein, Decke auf Wand, Horizontales auf Vertikales, Neues zu Bestehendem: So fügt sich eins ans andere im architektonischen Alltag. Manchmal freilich misslingt eine Fügung – etwa wenn ein Gebäude ergänzt, eine Altstadt rekonstruiert werden soll.

5. Februar 2021 - Karin Tschavgova
Immer schon dachte ich mir, dass dem Fügen in der Architektur mehr Beachtung geschenkt werden sollte, ist doch schon jedes Bauwerk die Summe seiner Einzelteile, auch wenn das fertige Werk „wie aus einem Guss“ wirken kann. Stein auf Stein, Decke auf Wand, Horizontales auf Vertikales, oft auch Neues zu Bestehendem – so fügt sich eins ans andere im Bauen. Anfügen, Einfügen und somit Verdichtung entsprechen dem Wesenszug der historisch gewachsenen Stadt und sind sozusagen ihr Alltag, wenngleich das Weiterbauen selten unumstritten erfolgt.

Wir kennen die Rekonstruktion als Anlass des Fügens und die Diskussionen dazu. So wurde etwa in Frankfurts Zentrum von 2012 bis 2018 auf einer Brache, die seit der weitreichenden Zerstörung der historischen Mitte 1944 leer geblieben war, die „Neue Frankfurter Altstadt“ errichtet. 35 Gebäude, mittelalterlichen Stadthäusern nachempfunden, mit Gassen und kleinen Plätzen als neues Altstadt-Wohnquartier, ein ganzer Stadtteil in historisierender Gewandung. Kein Wunder, dass die Initiative des durch die Politik unterstützten Immobilienentwicklers begleitet war vom vielstimmigen Lärm unzähliger Befürworter und Kritiker – meist Stadtbewohner auf der einen und Baufachleute auf der anderen Seite. Das Einfügen der Neu-Altstadt zwischen der Kunsthalle Schirn und dem Dom nach dem Muster von schützenswerten Denkmälern fand breiten Zuspruch.

An die Geschichte erinnern soll auch die Wiedererrichtung des Alten Schlosses auf der Spreeinsel in Berlin, das wohl meistdiskutierte öffentliche Projekt der vergangenen Jahre. Die detailgetreue Rekonstruktion von drei Fassaden des riesigen Schlosses, einst Kaiserresidenz und ein Hauptwerk des norddeutschen Barocks, ist ein symbolischer, wenn nicht ideologischer Akt. Nachdem es im Zweiten Weltkrieg ausgebrannt war, sollte es danach wieder hergestellt werden. Als es Teil des DDR-Territoriums wurde, ließ die neue Führung es 1950 sprengen und errichtete auf dem Areal Jahre später den Palast der Republik, der nach der Wiedervereinigung bis 2008 abgerissen wurde. Ein Neubau, das heutige Humboldt Forum, sollte an die frühere Bedeutung des Hohenzollernsitzes anknüpfen. Der siegreiche Entwurf des Architekten Franco Stella fügt nun also die originalgetreu nachgebauten Barockfassaden an die streng gerasterte Steinfassade des Ostflügels. Neu-Alt trifft um die Ecke auf Neu – aber wie? Selbst ein Laie kann erkennen, dass diese Art der Fügung, dieser Zusammenschluss nicht gelungen ist.

Ideenreich und subtiler stellt sich der Wiederaufbau eines Flügels im Museum für Naturkunde in Berlin dar. Auch dort haben die Schweizer Architekten Diener & Diener auf die Neufassung eines städtischen Ensembles gesetzt. Der Ostflügel des Museums war im Zweiten Weltkrieg bis auf Fassadenreste zerstört worden und bis 2006 als Ruine stehen geblieben. Die Hauptgeschoße des Museums führen die Architekten im neuen Trakt weiter. Die Notwendigkeit, lichtempfindliche Tierpräparate optimal aufzubewahren, nützten sie, um die umgebende Gebäudehülle fensterlos zu gestalten. Dafür nahm man von den originalen Fassaden Abdrücke ab, die mit Beton ausgegossen wurden. Diese Fertigteile wurden in die zerstörte Fassade eingefügt und füllen nun die Leerstellen. Rhythmus und Form der Fassade wurden aufgenommen, der graue Beton setzt sich jedoch deutlich erkennbar von der erhaltenen Bausubstanz mit den Fenstern, die zugemauert wurden, ab. Hier stellt das An- und Einfügen für die Architekten nicht eine Rekonstruktion des Baudenkmals im eigentlichen Sinn dar, sondern eine in Szene gesetzte Bewahrung von Geschichte.

Es lassen sich auch Beispiele von (Ein-)Fügung finden, die erst heute übereinstimmend als vorbildlich gelten. In die Architekturgeschichte eingegangen ist der Gerichtshof in Göteborg von Gunnar Asplund. Bereits im Jahr 1913 hatte der Architekt einen Wettbewerb für den Um- und Zubau des Gerichts gewonnen, der eine völlige Transformation der Hülle nach einer national-romantischen Idee bedeutet hätte. Umplanungen erfolgten, wurden verworfen, und erst 1937 wurde die jetzige Form fertiggestellt. Asplund nahm die horizontale Gliederung des Bestands auf, interpretierte Fensterachsen und Säulengliederung neu, hielt sich präzise an die Traufenhöhe und stimmte den Anbau farblich mit dem Altbau ab. Die Fuge bildet ein schmaler, fensterloser Rücksprung, hinter dem sich eine Nebentreppe befindet.

Vorhandene Charakteristika und Qualitäten einer historischen Architektur aufzunehmen und sie gleichermaßen respektvoll wie abstrahierend in Neues zu transformieren schien mir immer richtiger als ein Kopieren des Vorhandenen. „Man wird begreifen müssen, dass jede Baukunst an ihre Zeit gebunden ist und sich nur an lebendigen Aufgaben und durch die Mittel ihrer Zeit manifestieren lässt. In keiner Zeit ist das anders gewesen“, schreibt Mies van der Rohe in einem Aufsatz. Bauten sieht er als Schöpfungen ganzer Epochen, ihrem Wesen nach unpersönlich, aber „reine Träger eines Zeitwillens“.

Beim Thema des Weiterbauens – dem An- und Einfügen – wird der Historie nur dann mit Wertschätzung begegnet, wenn man sie nicht versteckt, übertüncht oder geistlos kopiert. Genaues Schauen und lustvolle Auseinandersetzung mit diesem Thema wurde zur persönlichen Erkenntnis, die sich mit den Jahren vertieft hat.

Einer, der dieses Wissen mit großer Sorgfalt und Kreativität bei all seinen Bauten angewandt hat, ist Klaus Kada, der im vergangenen Dezember achtzig Jahre alt wurde. Nicht nur als Architekt, sondern auch als Meister des Fügens ist ihm dieser letzte Absatz gewidmet. Kadas Gesamtwerk als Zeitwille zu entdecken lohnt allemal. Glas und neue Glastechnologien sind darin nicht nur Ausdruck ihrer Zeit, vielmehr spannt das Material Räume und Schichten unterschiedlicher Entstehungszeit und Funktionen unter sich auf. Glas bildet eine transparente, Licht bringende Zäsur und zugleich eine feine Verbindung, die sich als Gestaltungselement nicht in den Vordergrund drängt. Diese gekonnte Art des Fügens kann man bei Kada auch an Bauten entdecken, die zur Gänze neue Architekturen sind, wie das Festspielhaus in Sankt Pölten. Am deutlichsten wird sie, wo Alt und Neu zum Ganzen vereint werden soll: dem Glasmuseum in Bärnbach, einem Schlüsselwerk im Œuvre des Architekten. Von allen kann man lernen.

Mehr noch, davon sollten Architekten lernen. In letzter Zeit werden vermehrt Wettbewerbsentwürfe abgegeben, in denen das Erweitern – das Weiterbauen am Bestand von Schulen etwa – zu spannungsloser Scheinharmonie verkommt. Eine Fassade, gleich über Alt und Neu gezogen – und schon ist Geschichte nicht mehr sichtbar. Die Größe von Baukörpern, ihre Proportionen, auch ihr Verhältnis zu Freiraum und Landschaft wirken dann nicht mehr stimmig. Wollen wir das?

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