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Bodenhaftung verloren? Über unseren Verlust an Realitätssinn
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Wer sich selbst fremd bleibt, ist offen für fremde Führung. Das wirkt sich fatal auf Individuum und Gemeinschaft aus – und auf die Demokratie. Über verlorene Bodenhaftung, ungekochte Nudeln, alte Obstbaumalleen – und was all das mit dem Zustand von Land und Landschaft zu tun hat.

2. Februar 2021 - Roland Gnaiger
Ein Südtiroler Apfelbauer hat mir unlängst sein Leid geklagt. Derzeit erlöse er nur noch zehn bis 17 Cent für ein Kilo Golden Delicious. Sie wissen, dass wir für ein Kilo Äpfel bis zum 25-Fachen bezahlen? Wo bleiben die Gewinne? Denn selbst ihre schäbigen Prozente haben die Bauern mit Düngemittel- und Maschinenproduzenten zu teilen. Der Handel forciert gewisse Sorten, und wenn sich deren Hype verbraucht, beginnt in Südtirol der Kahlschlag. Riesige Plantagen werden gerodet, um eine neue Sorte anzubauen. So wie man in Vorarlberg nur noch auf Grünland trifft, begleiten einen in Kärnten entlang der Drau nur noch Maisplantagen, und über den wenigen Wiesen stockt die Luft vom Schweinemist.

Monokulturen sind allgegenwärtig, und je weiter die Produktionsverhältnisse unserem Blickfeld entrücken, umso brutaler ist ihr Vergehen an Mensch und Natur. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Zeit der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft weitgehend vorbei; die Arbeitsteilung war so weit vorangeschritten, dass dem Welthandel der Boden bereitet war. Ausbeutung ist als Begriff in der Landwirtschaft zwar nie angekommen, als System entzieht sie aber nicht mehr dem einzelnen Landwirt, sondern dem gesamten Stand die Existenz. Damit erliegt eine jahrtausendealte Kreislaufwirtschaft, verkümmert die Artenvielfalt, weiten sich Abhängigkeiten und Monokulturen aus und wird der Landbau zu einem Hauptverursacher von Umweltschäden und Klimawandel, zum Auslöser des fatalen Attraktivitätsverlusts eines Lebens auf dem Land und letztlich zu einer globalen Bedrohung unser aller Existenz. Heute sind Land und Landschaft Gestalt gewordene Ignoranz gegenüber ökologischen Zusammenhängen im Zusammenspiel mit ästhetischer Fühllosigkeit, das Ergebnis wirtschaftlicher Gier und verlorener Liebe zur Schöpfung.

Was sich 1783 ein in den Alterssitz weichender Bauer im salzburgischen Flachgau zur alljährlichen Unterhaltssicherung vom Hofübernehmer ausbedungen hat, lässt auf die einstmalige Bedeutung und das Bild des Landes schließen: „Drei Metzen Waiz, zwölf Metzen Korn, zwei Mäßl Bohnen, zwei Mäßl Hirse, drei Pfund wohlgeläutertes Schmalz, im Sommer täglich ein Viertel kuhwarme Milch, wöchentlich sechs Eier, im Winter ein Kändel Milch und drei Eier, dann den Bedarf an Kraut, Rüben, Salz, Schotten und Licht und auch den vierten Teil vom Obst.“ Je nach Region kamen Kartoffeln, Tees, Kräuter, Honig, Säfte, Most oder Wein und Schnäpse dazu.

Vier Tiergattungen, deren Produkte und Verwertung, verschiedenste Getreidearten, Gemüse- und Obstsorten, die Gewinnung von Brenn- und Bauholz, die Formen der Lagerung und Konservierung haben die ländliche Wirtschaftsweise und den Tageslauf bestimmt, die Zyklen und Rhythmen des Lebens und das Bild des Landes. Die ästhetische Dimension solcher Verhältnisse prägte die Gestalt der Landschaft und der Dörfer. Deren Vielfalt und Schönheit folgten nicht ästhetischen Konzepten. Kaum je in unserer Geschichte – und wenn, dann nur im Umfeld der Kunst, und auch in dieser selten erfolgreich – blieben Schönheit und Nutzen unverbunden. Unzählige Alleen, die einst die Gebiete der österreichisch-ungarischen Monarchie durchzogen, gehen auf Joseph II. zurück. Er verfügte, dass zur Marschverpflegung seiner Heere entlang von Landstraßen Obstbäume zu pflanzen sind.

Regelmäßig schlenderte ich als Kind durch die Birnbaumallee, die das Haus meiner Großeltern mit dem Dorfzentrum verband. Sie wurde mir zur Lehrmeisterin von Raum und Poesie. Gründete ihre Schönheit gar auf einem militärstrategischen Motiv?

Der einstige Generalstabschef Othmar Commenda benannte als ranghöchster Verteidiger Österreichs in seinen Vorträgen wiederholt den mangelnden Selbstversorgungsgrad als unser größtes Sicherheitsrisiko. Während beispielsweise Vorarlberg bei Milch und Käse weit überversorgt ist, werden nur sieben Prozent des Bedarfs an Gemüse und ein Prozent des konsumierten Getreides im Lande produziert. Auch wenn diese Verhältnisse in anderen Teilen Österreichs weniger krass sind, im Falle eines versiegenden Treibstoffnachschubs wären die Unterschiede angesichts fehlenden Handgeräts und mangelnden Know-hows gering.

Wieso bleibt dieser Sachverhalt in allen politischen Debatten ausgespart? Wieso wird angesichts des gesellschaftlich prioritären Bedürfnisses nach Sicherheit das von Kriminellen, Terroristen und Asylwerbern angeblich so gefährdete Eigentum und Leben als einzige Sicherheitsbedrohung suggeriert – selbst in den von Kriminalität am wenigsten betroffenen Regionen der Welt? Wieso stellen wir keine Verbindung her zwischen einer labilen Weltlage und dem Landbau als Sicherung unserer elementarsten Lebensgrundlage? Bedürfen wir der Autorität eines Generals – oder müsste nicht ein wenig politische Bildung, ein Restbestand historischen Wissens ausreichen, um die diesbezüglichen Zusammenhänge zu verstehen?

Eigentlich meine ich, ein Blick ins Land sollte genügen. Aber ohne Liebe scheint biologisches Wissen vergebens, und ohne Begeisterung bleibt ästhetische Erziehung folgenlos. Ich fürchte, das Wesentlichste lernen wir in der Schule nicht. Zumeist bleiben die Inhalte formaler Bildung abstrakt, zu selten verknüpfen sie uns mit der konkreten Welt.

Wäre es möglich, dass unsere Fremdheit gegenüber dem Land und seiner existenzsichernden Dimension mit etwas Größerem zu tun hat? Mit mangelnder Realitätswahrnehmung, mit fehlender „Bodenhaftung“, mit Ausweichmanövern vor dem „mit der Hand zu Greifenden“?

Könnte Elias Canetti diese Wirklichkeitsverdrängung gemeint haben, als er formulierte: „Zu den unheimlichsten Phänomenen menschlicher Geistesgeschichte gehört das Ausweichen vor dem Konkreten. Es besteht eine auffallende Tendenz, erst auf das Fernste loszugehen und alles zu übersehen, woran man sich in nächster Nähe unaufhörlich stößt. Die Situation der Menschheit heute, wie wir alle wissen, ist so ernst, dass wir uns dem Allernächsten und Konkretesten zuwenden müssen.“

Vor etwa 25 Jahren besuchte uns ein befreundetes Ehepaar inklusive Schwester beziehungsweise Schwägerin – eine US-amerikanische Ernährungsberaterin. Deren Aufgabe bestand in der Unterstützung junger Mütter bei der Versorgung ihrer Babys. Ihre Schilderungen haben mich sensibilisiert für einen bestürzenden Sachverhalt: Sie erzählte von Klientinnen, die ihren Babys steinharte, in Öl angeröstete Nudeln kredenzen, weil sie nicht wissen, dass Nudeln gekocht werden müssen. Die Grundform dieser Realitätsferne und Weltfremdheit ist die Unverbundenheit mit sich und der Welt, mit Orten, Bedingungen und Situationen, und ein mangelndes Wahrnehmen der eigenen Empfindung.

Als Architekt sind mir Menschen begegnet, die erst nach Bezug ihrer neuen Wohnung festgestellt haben, dass im Norden keine Sonne scheint. Als vor Jahren Übereckbadewannen hoch im Kurs standen, erzählte mir ein Wohnungsverkäufer, eine dieser Wannen im Verkaufsplan erspare ihm nervende Fragen und Diskussionen – wohl zu jenen Themen, die den Kern des Wohnens berühren. Dieses Nicht-bei-sich- und Nicht-bei-der-Sache-Sein, die Fremdheit gegenüber konkreten Situationen und Verhältnissen ist kein schichtspezifisches Phänomen, auch kein Ausdruck fehlender formaler Bildung. Nicht selten habe ich im akademischen Umfeld der geerdeten Intelligenz mancher Handwerker gedacht. Eine Studentin erzählte mir von ihrem Professor, einem hoch dekorierten Juristen und Inhaber eines renommierten Lehrstuhls. Dieser trug immer ein Thermometer bei sich, und dieses Messgerät befand über das Maß seiner Bekleidung, selbst im Hörsaal befahl es: Sakko aus! Oder: Sakko an!

Warum, wäre zu fragen, erscheint inmitten eines explizit philosophischen Traktats folgende Feststellung: „Bewegt man sich, so friert man nicht; verhält man sich ruhig, macht einem die Hitze nicht zu schaffen.“ Seit 2600 Jahren ist das zu lesen und wurde gemäß der Legende von Lao Tse formuliert.

Dass unser Temperaturempfinden auch von der Luftbewegung oder der Oberflächentemperatur der Umgebungswände, von Zugluft und Strahlungsenergie abhängt, muss man nicht wissen, würde man jedoch, hätte der Physikunterricht eine Verbindung zu unserem täglichen Leben hergestellt. Freilich: Dass unser Maß an Schlaf oder Bewegung über unseren Wärmehaushalt mitentscheidet, sollte die Erfahrung lehren. Aber was zählt schon eigene Erfahrung, wenn der Blick auf ein Messinstrument oder die Mode körperliche Empfindung ersetzen und man wärmegestresst die Fenster aufreißt, selbst wenn es draußen um sechs Grad heißer ist? Irritiert müssen wir feststellen, dass Selbstwahrnehmung zu den aussterbenden Gütern zählt und Fachkompetenz nicht zu Selbst- und Weltverhältnis führt.

Es fehlt uns an Verbundenheit mit dem Konkreten und Nächstliegenden. Es mangelt uns am Verstehen, aus dem Verständnis wächst. Wir leiden an unterentwickelter emotionaler Kompetenz und Empathie – auch der sogenannten Eliten. Sinneseindrücke hinterlassen keine Eindrücke, Emotionen wabern unbeachtet durch unseren Empfindungsraum, auf kulturelle und religiöse Traditionen gestützt, fristet unser Körper ein Dasein unter der Wahrnehmungsgrenze. Vor die konkrete Welt wurde die vorgestellte Welt gestellt.

Vor 20 Jahren plakatierte McDonald's großflächig und quer durch den süddeutschen Raum: „Butterbrot ist tot.“ Und in eindrücklicher Hellsichtigkeit ließ Luigi Pirandello bereits vor mehr als 80 Jahren in seinem Stück „Die Riesen vom Berge“ den Zauberer Cotrone sagen: „Zwar fehlt es uns am Nötigsten, aber von allem Überflüssigen haben wir mehr als genug.“

Die Mode hat Entfremdung zur Marke gemacht, und die Werbung hat sie zur Stilform erhoben. Und beide lassen uns unablässig wissen, dass wir nicht genügen. Als primäre Triebkraft des Wachstums höchstinstanzlich legitimiert, hebeln die psychologische Gerissenheit der Werbung und ihre dreiste Verheißung unser ganzes Bildungswesen aus. Erklärt sich daraus die erstaunliche Karriere der Wörter „hier“ und „jetzt“? Geht es dabei doch gerade darum, den Kontakt mit dem Augenblick und dem Ort, die Bewusstheit für Raum und Zeit zurückzugewinnen. Was sich aus östlicher Tradition ableitet, können wir aber durchaus mit uns kulturell vertrauteren Begriffen benennen: „Innehalten“ etwa.

Mein Freund C. T. liebt es, eine Begegnung mit der Frage zu eröffnen: „Was ist gerade in dir lebendig?“ Er erzählt mir, dass diese Nachfrage den Menschen als Zumutung erscheint, dass sie darauf verstört oder verärgert reagieren. Ist es ungehörig, ernsthaftes Interesse am Befinden des Gegenübers zu bekunden? Ist deshalb ein interessiertes „Wie geht es dir?“ im schnellen „Wie geht's?“ zu einer Phrase verkommen, von der sich niemand mehr wirklich angesprochen fühlt? Wir scheinen es vorzuziehen, von unserem Befinden gesteuert zu werden, statt bewusst zu ihm vorzudringen.

Den Prototypus verflachten Innenlebens und eines sich selbst fremd gewordenen Menschen hat Stefan Zweig in der Figur des Barons Friedrich Michael von R. geschaffen, der bei sich bemerkt: „Ich sagte es ja schon, dass ich auch Dinge, die mich selbst betrafen, mit Gleichgültigkeit hinnahm. Auch zum Leiden hatte ich nicht mehr genug Gefühl. Es genügte mir, dass dieser seelische Defekt außen so wenig wahrnehmbar war, und sosehr ich mich auch anstrengte, etwas zu fühlen, ja mich mit Verstandesgründen zu Gefühlen überreden wollte, es kam keine Antwort aus jener inneren Starre zurück.“

Oft erstaunt mich, mit welcher Ausdauer sich mancher Intellektuelle an ohnehin jederzeit ersetzbaren Mächtigen, Verführern und Manipulatoren in Politik und Wirtschaft abarbeitet, an deren moralischer Halt- und Orientierungslosigkeit, ohne das grundlegendere Dilemma zu benennen.

Von mangelnder Anteilnahme sind auch die Struktur und das Bild unserer Städte und Dörfer geschunden. Wie wäre anders erklärbar, dass niemand schreit angesichts einer Hässlichkeit, zu der sich in unserer Geschichte kein Vergleich finden lässt? Monoton, fantasie- und endlos gleich ist die effizienzgetrimmte Stadtgestalt jedem Einklang mit Menschen überdrüssig. Sie lässt keinen Ort, kein Dorf und erst recht keine Stadt entstehen und gibt keiner Begegnung oder Gemeinschaft Struktur und Zuhause. Im Sog des Marktes hat sich der Landbau von seiner Tradition verabschiedet, tatkräftig unterstützt auch von Bauern, ihren Beratern und Vertretern. Ohne Respekt und Sinn für die Kultur der Land- und Bodenpflege, befreit vom Blick auf die Folgen des eigenen Tuns, ohne Perspektive und Vision und ohne Mitgefühl gegenüber dem unermesslichen Leid in den Tierfabriken, hat der älteste und elementarste Wirtschaftszweig seine Bestimmung pervertiert.

Und doch, auch wenn mich über Jahre die Frage sorgte, wie meine Studierenden, ohne dem historischen Modell ländlicher Lebens- und Wirtschaftsweise persönlich je begegnet zu sein, neu eine nachhaltige Architektur und Lebensweise entwickeln können: Heute gärtnern viele von ihnen – selbst in beengten und urbanen Räumen –, sie bauen selbst an ihrem Zuhause und verweigern sich dem verordneten Leistungszwang. Das sinnliche, körperlich konkrete Tun und Erfahren erlebt Zuspruch. Landwirte und Handwerker erzählen mir von Studierenden und Akademikern, die sich um Praxisplätze bewerben. Selbst Hofübernahmen bleiben nicht mehr am Letzten hängen, zunehmend interessieren sich die am besten Ausgebildeten dafür. Und ebenso nimmt die Zahl der Bäuerinnen und Bauern zu, deren Eigenversorgung zum Auftakt ihrer wachsenden Produktpalette wird.

Während der vielen Jahre meiner regelmäßigen Zugreisen fiel manche Fahrt auf einen Samstagvormittag – die verlässlich ruhigste Reisezeit der Woche. Häufig teilte ich einen Großraumwaggon mit nur drei oder vier Mitreisenden. Dabei beobachtete ich wiederholt, wie neu Zugestiegene hundert freie, bessere Plätze, fußfrei und mit Tisch, ignorierten, um, programmiert und fremdgesteuert von ihrer Platzreservierung, den schlechtesten Platz zu wählen – hinein in eine enge Zeile, vor die Fensterkonsole und mit dem Rücken zur Fahrtrichtung!

Wenn der Kontakt zur Situation und zu sich selbst fehlt, finden weder die Umstände eines Orts noch die eigenen Bedürfnisse zu ihrem Recht, weder die inneren noch die äußeren Bedingungen. Wer sich aber selbst fremd bleibt, wird fremdbestimmt, ist offen für Verführung und fremde Führung. Das wirkt sich fatal auf Individuum und Gemeinschaft aus – und auf die Demokratie, denn was diese legitimiert und mit Leben füllt, sind Weltzugewandtheit, Anteilnahme und die Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger. Es sind diese Ferne zu den Dingen und unsere Fühllosigkeit, die uns stumm bleiben lassen vor dem Rückzug der Demokratie, der Verrohung der Sprache und dem Monogrün unserer sogenannten Wiesen, die uns untätig sein lassen angesichts der unfassbaren Banalisierung der städtischen Peripherien, des Insekten- und Vogelschwunds und des maßlosen Leids in Flüchtlingslagern. Es gibt eine Daseinsform, die keine Rückkoppelung mit der Welt kennt, weder mit der persönlichen Geschichte noch mit der kollektiven. Psychologisch würde eine Existenz ohne wechselhafte Bezüge zur sozialen, wirtschaftlichen oder kulturellen Wirklichkeit wohl als Autismus diagnostiziert oder als Narzissmus – deren Beschaffenheit uns seit ihrer amerikanischen Personifizierung so drastisch vor Augen steht. In dieser Weise programmiert, wird die äußere Welt zum schändlichen Abbild der inneren. Schon bei Hugo von Hofmannsthal ist zu lesen: „Es ist den Menschen im Allgemeinen nicht gegeben, zu sehen, was ist.“

Kaum treffender sind die Verhältnisse zu charakterisieren als mit dem vom 27. Februar 2014 aus Moskau überlieferten Geschehen: Nachdem sich nicht mehr hatte geheim halten lassen, dass das Parlament der Krim gewaltsam besetzt worden war, stand die Frage im Raum: Gibt es Krieg? Unsicherheit und Angst waren zum Greifen, Hotelgäste wurden aufgefordert, die weitere Entwicklung im Haus abzuwarten. Ungläubig und verzweifelt war deren Reaktion: „Heißt das, wir können nicht shoppen gehen?“

Eingenommen von der eigenen Unersättlichkeit und der des Marktes, im Hinterhalt der Werbung brainwashed, verloren in virtuellen Welten, gebannt von der Sorge um die eigene Existenz, vom Kompensationsbedürfnis erlebter Bedeutungslosigkeit getrieben, aufgelöst im Sog großer Ideen, in Ideologien verrannt und von Vorurteilen konditioniert, bedrängt von Zielen und Ansprüchen, im Fluchtreflex vor den misslichen Seiten des Lebens verheddert, wirr von medialer Dauerbeflutung, vom Hass gegen fremdes Sein verzehrt, von fremden Imponiergesten eingeschüchtert, außer Atem gesetzt vom eigenen Stress, von Ehrgeiz gejagt, gezerrt vom Hang und Zwang zur Weltverbesserung, vom Aufmerksamkeitsgeheische ermüdet, angestiftet von der Emotionalisierungswut des Boulevards, im Füllen innerer Leere ausgebrannt, abgetaucht in der Permanentunterhaltung, besessen von Verschwörungsfantasien, vom eigenen Erfolg betört oder gelähmt von der Angst, auf der Strecke zu bleiben, geblendet von vermeintlicher oder echter Bedeutung, und beherrscht vom ewigen „nicht genug“.

In der Gefangenschaft unserer persönlichen Konditionierung sind wir von uns selbst und von der Welt getrennt, von der Tiefe und Breite der Empfindungen, die das Leben intensiv machen und reich. Ich spreche nicht von „den anderen“, sondern von dem eigenen Erleben. Eine meiner Fallen liegt in einer Aufmerksamkeit, die mir meist zwei oder drei Schritte vorauseilt und sich nur widerstrebend einfangen lässt. Ich war acht Jahre alt, als unser Lehrer, Herr Schneider, ab Dreikönig allmorgendlich die sich ändernde Uhrzeit, zu der die Morgensonne über dem Pfänder aufblitzte, an den linken Rand der Tafel schrieb. Diese stattliche, nüchterne Zahlenreihe ist noch heute von Begeisterung und meinem Staunen derart geladen, dass sie sich als Bild von Wandel und Verbundenheit tief und warm in meine Erinnerung grub.

Im Lichtkegel unserer Aufmerksamkeit wachsen Verantwortung und Verstehen. Sorgfältige Hinwendung und absichtsloses Wohlwollen lassen Leben erblühen: Seelen, Kinder, Gärten und die Welt.

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