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Mehr Judo in den Städtebau!
Mehr Judo in den Städtebau!, Foto: Manfred Seidl
Mehr Judo in den Städtebau!, Foto: Manfred Seidl
Spectrum

Die funktionale Verknüpfung der Wiener Vorortelinie mit der U3 in Ottakring hat das Umfeld der beiden Stationen aufgewertet. Diese Chance wurde von den Architekten Nehrer &Medek erkannt und vorausblickend umgesetzt.

19. Juni 1999 - Walter Zschokke
Vor etwas mehr als einem Jahrzehnt waren die Straßengevierte entlang der stillgelegten Vorortelinie in der Gegend von Ottakring mehrheitlich zu Industriebrachen verkommen. Neben den Geleisen zog sich über Hunderte Meter eine hölzern eingezäunte Gstätten hin, auf der – zwischen verdorrten Gerippen hochgeschossener Pioniervegetation – aufgebrochene Kassen von Zeitungsverkaufstaschen herumlagen.

Die Gegend schien von allen guten Geistern verlassen, in der Thaliastraße sperrten die Geschäfte eins nach dem andern zu. Abgewohnte Zinshäuser der Gründerzeit förderten den Eindruck des Niedergangs genauso wie früh vergreiste Wohnanlagen aus den sechziger und siebziger Jahren. Ein drastisches Bild des Zerfalls, dem die Melancholie würdigen Alterns – die den Betrachter manchmal mit absehbaren Verlusten versöhnt – in jeder Beziehung abging.

Als jedoch gesichert war, daß die U3 bis Ottakring geführt würde, um dort mit Schnellbahn und Straßenbahn verknüpft zu werden, konnte ein in Stadtentwicklungsfragen erfahrener Fachmann wie Manfred Nehrer vorausahnen, welche Chancen für den Stadtorganismus und für den Stadtraum hier auf Verwirklichung drängten. Nun ist es eine alte Weisheit, daß Städtebau nicht bloß das mehr oder weniger ansprechende Verteilen von Gebäuden und das normengerechte Verlegen der Verkehrsbänder umfaßt. Vielmehr geht es um eine kluge Anordnung von Nutzungen ebenso wie um die Sicherstellung und Planung im Exkursionsprogramm urbaner Freiräume: der Gassen, Straßen, Höfe, Plätze und Parks, denn diese bilden die Voraussetzungen für eine Entwicklung urbanen Lebens.

Als Herzstück schlugen Nehrer &Medek daher einen Platz vor, der im Westen von den mit Geschäften und Gastronomiebetrieben angereicherten Bögen der Substruktion der Vorortelinie begrenzt wird. Im Norden verläuft tangential die Thaliastraße; dahinter eine erneuerte Blockrandbebauung, die mit den benachbarten gründerzeitlichen Häusern korrespondiert.

An der Ostseite befinden sich die Gebäude der ehemaligen Tabakregie. Heute enthalten die zur Thaliastraße vorgeschobenen Flügelbauten Geschäfte, Büros und Wohnungen, während das Hauptgebäude für die Höhere Technische Bundelehranstalt Wien XVI adaptiert und erweitert wurde. Der Zaun, der früher das Gelände der Aubstria Tabak umschloß, und sogar ein städtebaulich etwas verirrtes Gebäude aus jüngster Zeit wurden entfernt, sodaß der Platzraum über die auf ihre Wirkung als Verkehrsband reduzierte Paltaufgasse hinüberfließt und bis an die hohe Seitenfassade des nunmehrigen Schulgebäudes reicht.

An der Südseite erhebt sich, 22 Geschoße hoch, über linsenförmig ausbauchendem Grundriß ein neues Appartementhaus für das Personal des AKH, wofür Manfred Nehrer den hochhauserfahrenen Harry Seidler als Berater beizog. Ein kostenmäßig und funktionell extrem schlankes Konzept resultierte aus dieser Zusammenarbeit. Auf dem leicht ansteigenden Platz wirkt die aufragende, plastisch verformte Scheibe als Abschluß und als steigernder Gegensatz. Ihr Sockel enthält auf zwei Geschoßen gastronomische Einrichtungen sowie eine ausgedehnte Terrasse, die von Morgen und Abendsonne beschienen wird. Vor der harten Mittagssonne schützt der Hochhausschatten.

Wie bei allen Bauwerken ihres Büros haben Nehrer &Medek sich auch hier bemüht, Künstler mit ihren Werken direkt auf Raum und Bauwerk wirken zu lassen. Drei in Vitrinen gefaßte Plastiken von Manfred Wakolbinger gruppieren sich an und vor der Terrassenbrüstung. Etwas verschlossener gibt sich die Arbeit von Leo Zogmayer auf dem platzartigen Hof zur Thaliastraße vor dem ehemaligen Hauptgebäude der Austria Tabak: Mächtige, in der ansteigenden Platzfläche eingelassene Betonblöcke in Sitzhöhe bilden vielgliedrige Zwischenräume, die bei näherem Hinschauen als Buchstaben lesbar sind. Zusammen ergeben sie das Wort JETZT. Damit bezieht sich Zogmayer auf städtebauliche Prinzipien, in dem mit nutzbaren Volumen Zwischenräume gebildet werden, die einzeln und im Zusammenhang einen interpretierbaren Sinn ergeben. Stadträumlich betrachtet besteht das neue urbane Zentrum von Ottakring aus einem großen und einem kleinen Platz, die untereinander in Verbindung stehen. Diese städtebauliche Figur findet sich in zahlreichen urbanen Zentren nördlich und südlich der Alpen.

Als Besonderheit, die für eine gedeihliche Entwicklung des urbanen Charakters von nicht geringer Bedeutung ist, stellt sich die Hochlage der beiden Verkehrsträger Schnellbahn und U-Bahn dar: Die U-Bahn-Trasse trennt nicht, sondern beschirmt mit ihrem Brückenbauwerk den öffentlichen Raum – übrigens ein bestens geeigneter Ort für einen Markt mit Frischgemüse. Die vertikale Überlagerung der Verkehrsebenen wird von dem von Hermann Czech entworfenen „Haus, das im Obergeschoß die UBahn schluckt“, symbolhaft ausgedrückt.

Obwohl oder gerade weil Ottakring vom Zentrum relativ weit entfernt ist – im Westen beginnen die Ausläufer des Wienerwaldes –, konnte an dieser Stelle mit ihren optimalen Voraussetzungen die urbane Verdichtung gelingen. Hier war kein Kraftakt nötig, vielmehr galt es, die Dynamik der Entwicklung geschickt aufzunehmen und zu einer vernünftigen städtebaulichen Figur hinzuleiten. Das ist „Judo“, der sanfte Weg, im Städtebau; das weise Spiel der Körper und Nutzungen unter dem harten Licht ökonomischer und politischer Realitäten. Und es funktioniert sofort: Die Gastronomie und die Geschäfte erhalten Zulauf, der Stadtteil lebt auf, die Krisenstimmung der achtziger Jahre ist verabschiedet, da sind keine zusätzlichen Fördermaßnahmen erforderlich.

Städtebau bedingt Mitdenken und kluge Voraussicht. Kraftmeierei, Partikulärinteressen und Objektfixiertheit sind fehl am Platz. Es ist die vorausblickende komplexe Zusammenschau, jene wesentliche Fähigkeit eines guten Architekten, die durch kein elektronisches Hilfsmittel, keine Umfrage ersetzt werden kann, welche die Voraussetzung bildet für ein unmittelbar lebensfähiges Resultat. Eindimensionale, undifferenzierte Planungen benötigen dagegen Jahrzehnte, bis der urbane Organismus die vergessenen oder vernachlässigten Aspekte assimiliert hat.

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