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Casablanca - Mythos und gebaute Realität
Neue Zürcher Zeitung

Marokkos Metropole in einer Pariser Ausstellung

19. Juni 1999 - Hans Hartje
Pünktlich zum Marokko-Jahr ist jüngst das Buch «Casablanca, mythes et figures d'une aventure urbaine» von Monique Eleb, einer Psychologin und Soziologin, und Jean-Louis Cohen, dem umtriebigen Direktor des Institut français d'architecture, erschienen. Man kann sich kaum eine bessere Einführung in die komplexe Materie dieses Buches vorstellen als die Ausstellung, die zurzeit - ebenfalls im Rahmen des Marokko-Jahres - im Pariser Espace Elektra, einem Kulturzentrum des staatlichen französischen Energiekonzerns EdF an der Rue Récamier 6, zu sehen ist. Dort erfährt der Besucher auf drei Etagen und in zehn Kapiteln das Wesentliche zur Vorgeschichte und vor allem zum städtebaulichen Werden der heute grössten Stadt Marokkos und des bedeutendsten Seehafens Afrikas.

Um die Jahrhundertwende zählte die Stadt am Atlantik rund 30 000 Einwohner: heute sind es - je nach Einzugsgebiet - zwischen 3,5 und 6,5 Millionen. Dazwischen stand Marokko von 1907 bis 1956 unter französischem Protektorat, wovon noch immer zahlreiche Gebäude der damaligen Kolonialverwaltung zeugen. Deren Bauweise war stilbildend für das gleichwohl noch immer unverwechselbar nordafrikanisch erscheinende Stadtbild Casablancas. Wie diese einzigartige Synthese zustande gekommen ist, das haben Eleb und Cohen untersucht. Dabei sind die beiden von ihnen herausgearbeiteten, deutlich voneinander unterscheidbaren Phasen in der städtebaulichen Entwicklung nicht zuletzt deshalb interessant für den europäischen Betrachter, weil sie auf ganz spezifische Weise Tendenzen widerspiegeln, die die moderne Architektur entscheidend mitbestimmt und geprägt haben.

Nun überlagerte sich diese Entwicklung allerdings im Falle Casablancas mit ganz bestimmten kolonial-, wirtschafts- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen. Das Resultat waren städtebauliche Einheiten, wie man sie wohl nur selten auf so engem Raum und in so gut erhaltenem Zustand zu sehen bekommt. Da sind zunächst einmal die Villenviertel südlich des Stadtkerns, wo bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts aus Frankreich stammende oder dort ausgebildete Architekten grosszügige, den lokalen Gegebenheiten (Topographie, Klima usw.) angepasste Privathäuser errichteten. Anschliessend waren in Casablanca der international noch immer kaum bekannte Marius Boyer, aber auch Marcel Desmet, Charles Abella, Louis Fleurant und sogar Auguste Perret tätig. Mit ihren Bauten, die oft in Zusammenarbeit mit Bauunternehmern italienischer oder spanischer Herkunft realisiert wurden, haben sie das in den zwanziger Jahren allmählich grossstädtische Züge annehmende Stadtbild im Zentrum geprägt. In diese Zeit fallen jedoch auch die ersten Schritte zur «Ghettoisierung» der Medina. So dokumentieren historische Aufnahmen, wie die streng geometrische Place de France zeitweise durch eine hohe Holzbarrikade gegen das anarchische Gassengewirr des arabischen Stadtteils abgeschottet war.

Die Entwicklung zur räumlichen Trennung der als heterogen empfundenen Bevölkerungsgruppen wurde in der ersten Phase begünstigt durch radikale Eingriffe in die bestehende Bebauungsstruktur. Hier lassen Ausstellung, Katalog und Monographie gleichermassen deutlich werden, wie die Kolonialverwaltung unter General Hubert Lyautey und den federführenden Planern Henri Prost oder Michel Ecochard die Stadt hemmungslos für ihre Experimente brauchte. Die zweite Phase war dann von starken Spannungen sozialer und politischer Art geprägt. Vor allem der durch den Hafenausbau - 1916 entstanden die Docks von Perret - bewirkte wirtschaftliche Aufschwung zog die mittellose Landbevölkerung magnetisch an. Diese Zuwanderung förderte den Bedarf an billigem Wohnraum in grossem Mass. Wenn auch zahlreiche Dokumente belegen, mit wieviel Sorgfalt und Rücksicht auf die traditionelle Formensprache die neuen Siedlungen geplant wurden (als Architekten verantwortlich zeichneten u. a. Gaston Jaubert, Léonard Morandi und Jean- François Zévaco), so führte diese Art sozialen Wohnungsbaus in den betroffenen Quartieren doch zu einem Anwachsen der Unzufriedenheit.

Ein vorläufig letzter bedeutender Eingriff in die städtebauliche Struktur der Innenstadt von Casablanca setzte Mitte der achtziger Jahre ein, als Hassan II. das damals grösste afrikanische Meerwasserschwimmbad (mit einer Beckenlänge von 300 Metern) am Strand zuschütten liess, um auf der so gewonnenen Esplanade nach den Plänen des Pariser Architekten Michel Pinseau die 1993 geweihte Hassan-Moschee errichten zu lassen: ein gigantisches Monument und nebenbei ein lukrativer Bauauftrag an ein Konsortium unter Führung des französischen Baulöwen Bouygues. Den grössten Teil der Zeche (die Rede ist von rund 400 Millionen Franken) zahlten dann im Rahmen einer landesweiten Subskription die marokkanischen Gläubigen. (Bis 18. Juli)


[ Katalog: Casablanca. Portrait de ville. fFr. 130.- (in der Ausstellung fFr. 100.-). - Monique Eleb und Jean-Louis Cohen: Casablanca, mythes et figures d'une aventure urbaine. Editions Hazan, Paris 1999. 480 S., fFr. 350.-. ]

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