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Kleiner Eingriff, große Wirkung
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Zu Tode sanierte Gründerzeithäuser gibt es zur Genüge. Wenn das Ziel der Besitzer nicht die große Rendite, sondern die pflegliche Erhaltung ist, bleibt ihre Ausstrahlung jedoch bewahrt und ihre Zukunft gesichert. Ein gelungenes Beispiel aus dem Wiener Servitenviertel.

29. April 2021 - Franziska Leeb
„Tuberkelburg“ lautete einst ein Spottname für mehrstöckige Zinskasernen, deren „architektonischer Ausdruck lediglich in möglichst vielen Fenstern und zahlreichen Stockwerken gipfelte“. Denn „wer diese Burgen öfters ersteigt, unterliegt der Möglichkeit, die Lungenschwindsucht zu bekommen“, erklärt der Wiener Lokalhistoriker Wilhelm Kisch in seiner in den 1880er-Jahren erschienenen Kulturgeschichte „Die alten Straßen und Plätze von Wien's Vorstädten und ihre historisch interessanten Häuser“. Etliche davon entstanden auf dem Teil des Wiener Glacis, der 1853 zwischen Berggasse und Türkenstraße zwecks Finanzierung von Arsenal und Franz-Josefs-Kaserne zur Parzellierung und Bebauung freigegeben worden war.

Neu-Wien benannte man den neuen Stadtteil, der auf 60.000 Quadratmetern als Generalprobe für die Stadterweiterung der Ringstraßen-Ära entstand. Der erste Investor war der General Franz Schlik zu Bassano und Weißkirchen, der sich über die Jahre 1956 bis 1958 von Carl Tietz ein repräsentatives Mietpalais errichten ließ, auf das der despektierliche Spitzname nicht zutrifft.

Ob Tuberkelburg oder nicht – das Flair des Grätzels, das heute als Servitenviertel unter den beliebtesten Wiener Wohngegenden rangiert, machen nicht nur die zahlreichen kleinen Läden aus, sondern auch die gut erhaltenen Häuser aus der Gründerzeit. In einem davon revitalisierte kürzlich Architekt Karl Langer eine Wohnung im Hochparterre. Das geschah – wie es bei Arbeiten im Bestand immer sein sollte, aber selten passiert – erst nach einer gründlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte und Struktur des Gebäudes. Auf den ersten Blick im Vorbeigehen fällt daran nichts Besonderes auf. Es ist Teil einer gründerzeitlichen Straßenfront, ähnlich den Nachbargebäuden, doch im Innehalten lässt sich rasch ablesen, dass es hier nicht bloß um möglichst viele Fenster und Stockwerke ging.

Für eine wohlhabendere Schicht

Mit drei Obergeschoßen hat es um eines weniger als die Nachbarhäuser, mit sieben Fensterachsen zwei weniger als das gleich breite Haus gegenüber. Dass es für eine wohlhabendere Gesellschaftsschicht gebaut wurde, darauf deuten auch Fassadengliederung und -dekor hin. Die Betonung durch Eckrisalite und eine zumindest dezente Akzentuierung einer Beletage – die Bezeichnung trifft hier nicht zu.

Das Haus wurde 1871 nach Plänen des an der Akademie der bildenden Künste bei Pietro Nobile ausgebildeten Architekten Anton Baumgarten errichtet, etwa zeitgleich mit seinem Palais Esterházy in Budapest. Obwohl er das Bild der Wiener Ringstraßen-Zone mit zahlreichen Mietshäusern mitprägte, ist Baumgarten wenig bekannt – wohl auch, weil seine Bauten zu Lebzeiten wenig publiziert wurden. Wie ein Blick in die historischen Adressbücher zeigt, waren es in den ersten Jahrzehnten vornehmlich Kaufleute, Banker und Akademiker, die das Haus bewohnten.

Im ursprünglichen Grundriss wurde pro Wohnung ein ganzes Geschoß eingenommen. Auch hofseitig wurde auf Fassadendekor nicht verzichtet. Ende des 19. Jahrhunderts wurden nachträglich zarte Eisenbalkone angefügt. Da sie nicht den Hauptwohnräumen zugeordnet sind, dienten sie wohl als Wirtschaftsbalkone. Und doch sind sie um so vieles eleganter – und vermutlich auch nicht schwieriger zu montieren gewesen – als die heute so beliebten Fertigbalkone aus feuerverzinktem Stahl, die allerorts die Gründerzeithäuser um private Freiräume „aufwerten“, dem Straßenbild aber den Charme einer Legebatterie verleihen. Spätestens 1905 kam das Haus für längere Zeit in den Besitz der Familie des Textilfabrikanten Ludwig Ritter von Liebieg. Deren Wappen findet sich bis heute an der Verglasung des Tors zum Hof, wo noch die ehemalige Kutschenremise und der Zugang zum Pferdestall im Keller erkennbar sind.

Das Haus ist dank der Obsorge der privaten Besitzerinnen in einem großartigen Zustand. Nicht geschleckt zu Tode saniert, sondern gut gepflegt und trotz vieler Veränderungen über anderthalb Jahrhunderte ein Paradebeispiel für die Flexibilität und Qualität der guten Gründerzeitbauten. An Nutzungen finden sich unter anderem wechselnde Textilfirmen, ein technisches Büro, ein Radiogeschäft, ein Schuhsalon sowie ein Hutmodenhaus.

Der Modisterei wurde auch in jenen Räumlichkeiten nachgegangen, die Karl Langer nun fit für die Anforderungen des 21. Jahrhunderts machte. Erreichbar sind sie durch einen eigenen Zugang gegenüber dem Hauptstiegenhaus. Schon der kurze Treppenaufgang kündigt eine große architektonische Virtuosität an. Über einen seitlich verglasten Windfang mündet er in einen überhohen Vorraum, von dem über ein paar Stiegen Richtung Hof zwei weitere Zimmer erreichbar sind. Zuletzt als Hausmeisterwohnung genutzt und in recht desolatem Zustand wären die Qualitäten dieser Rauminszenierung leicht zu übersehen gewesen. Darum, sie wieder ins Licht zu rücken und mit seinen eigenen Implantaten möglichst minimalistisch zu bleiben, ging es Langer zum einen. Zum anderen war es ihm daran gelegen, dass im Hinblick auf eine langfristige flexible Nutzbarkeit hier sowohl gewohnt werden als auch ein Büro eingerichtet werden kann.

Ursprünglich reichte die Wohnung bis zur Straßenfassade. Im Zuge eines Geschäftseinbaus im Erdgeschoß wurde Ende des 19. Jahrhunderts straßenseitig ein Teil als Lagerfläche abgetrennt. Entlang dieser fensterlosen Wand wurde eine dienende Nebenraumgruppe mit Küche und Bad angeordnet, die als liegendes niedriges Prisma dem hohen stehenden Prisma des einstigen Vorraums eingeschrieben ist. Sein oberer Abschluss wurde aus schwarzen Aluminium-Lamellen gebildet, womit der Luftaustausch nach oben gewährleistet ist, das Bad aber von der im rechten Winkel dazu eingefügten Galerie nicht von oben einsehbar ist. Eine Latexbeschichtung und einbrennlackiertes Glas markieren diese Nebenzone außen wie innen in zartem Grün.

Neues Tafelparkett

Am gegenüberliegenden Ende ist eine Treppe eingefügt, die das im rechten Winkel dazu liegende „schwebende Galerieprisma“ zugänglich macht, mit dem dank der Raumhöhe zusätzliche Quadratmeter gewonnen werden konnten. Es wurde aus Buchenfurnierschichtholz konstruiert, das über hohe Festigkeit und Steifigkeit verfügt und materialsichtig eingesetzt werden kann, ohne an wohnlichem Charakter einzubüßen.

Was vom alten originalen Parkettboden noch zu verwenden war, wurde in diesem ersten Raum verlegt. In den beiden anderen Räumen kam ein neues Tafelparkett im gleichen Muster zum Einsatz. Kastenfenster, Flügeltüren und der luftig wirkende Zugangsbereich wurden sorgfältig instand gesetzt, die Decke zum Keller sicherheitshalber verstärkt. Es sind sparsame Eingriffe von großer funktionaler Wirkung, ohne die Ausstrahlung der Originalsubstanz zu mildern.

Umbau statt Abriss, bedachter Materialeinsatz, statt künftigen Sondermüll zu produzieren, und weiterverwenden, was noch gut ist – so einfach ist es, Bestehendes tauglich für heutige und zukünftige Zwecke zu machen. Um die notwendige Dekarbonisierung des Gebäudesektors zu erreichen, braucht es nicht nur neue Technologien, sondern Hirn sowie Zuwendung zu den Dingen, die da sind.

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