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„Aufgewachsen bin ich im Wald“
Der Standard

Helmut Richter ist der Schrat der österreichischen Architektur. Er ist völlig kompromißlos, komplett unberechenbar und stets auf Witterung nach dem Neuen, dem Einfachen und dem Besten. Er ist also genau das, was die Architektur braucht, um vorwärtszukommen.

19. Juni 1999 - Ute Woltron
So wie der Mensch ist, so sind auch seine Taten. Wäre zum Beispiel Helmut Richter eine Fabrik, so würde er mit minimalen Mitteln feinmechanische Instrumente produzieren, auf tausendstel Millimeter genau. Wäre er ein Tier, so würde er als Fregattvogel in den Lüften kreisen, denn der verfügt über das extremste Verhältnis zwischen Körpergewicht und Flügelspannweite von allen Vögeln und bedarf nur ganz weniger Fische, um seine grazile Konstruktion zu nähren. Zum Glück ist Helmut Richter aber Architekt geworden, deshalb macht er Häuser, und die sind stets so außergewöhnlich und von so komplizierter Einfachheit wie er selbst.

Zur Zeit läuft es für Richter, dem als Kompromißlosem der Rest der Welt natürlich nicht hürdenfrei zu Füßen liegt, ganz gut im Architekturrennen: Demnächst erscheint im Birkhäuser Verlag endlich ein Buch - das erste, das umfassend über seine bisherigen Arbeiten informieren wird, und das der bewährt kompetenten Feder des Architekturkritikers Walter Chramosta entstammt. Außerdem geht ein neuer Wohnbau aus Richters Ideenwerkstätte gerade der Vollendung entgegen, und darüberhinaus sind diverse andere schöne Projekte, wie etwa die Erneuerung der Fassade des Neuen Institutsgebäudes der Wiener Uni im Stadium des Ausfeilens begriffen.

Der Architekt, der in Wien lebt und arbeitet, ist eine der kantigsten Persönlichkeiten, die die österreichische Baukünstlerschaft bevölkern. Das schlägt sich nicht nur in den liebenswerten und bizarren Schnurren nieder, die man sich über ihn erzählt, sondern vor allem in dem Beitrag, den er seit Jahren für die Architekturszene leistet. Der setzt sich einerseits aus seiner Lehrtätigkeit an der TU Wien zusammen, wo er die Jungspunde der Branche in die Geheimnisse von Form und Konstruktion einweiht und keineswegs von der Wildheit befreit, die für viele anderen Professoren eine zu schräge Strebe im Persönlichkeitskonstrukt der Studenten ist. Andererseits sind seine Gebäude stets ganz und gar ungewöhnlich, insbesondere was Materialwahl und Konstruktion anbelangt. Was Richter seinen Studenten beizubringen versucht, nämlich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln möglichst sparsam und klug umzugehen, setzt er selbst unter großer Anstrengung und Selbstausbeutung mit seinen international vielbeachteten Projekten um, wie dem Lärmschutzhaus in der Brunnerstraße oder der Schule im XIV. Bezirk Wiens.

Dabei schöpft er nicht nur aus dem üblichen Baustoffangebot, sondern schaut sich in den Materialmusterbüchern und auf den Baustellen der Industrie um. Und er nimmt nicht die erprobten statischen Systeme zur Grundlage seiner Häuser, sondern berechnet gemeinsam mit Bauingenieurbüros neue, kühnere und gegebenenfalls preiswertere Varianten.

Kurzum: Helmut Richter ist das Gegenteil des etablierten, ruhigen Gebrauchsarchitekten. Er ist einer derjenigen, denen Architektur nicht Geschäft sondern Mission ist. Davon gibt es in Österreich zwar gar nicht so wenige, doch kaum einer geht der Suche nach dem Neuen, dem Unerprobten, dem Noch-Besseren, Noch-Schlaueren verbissener nach als der schmale, scheue Mann aus Wien.

Gerade eben wird in Favoriten wieder ein Richter-Bau fertiggestellt, zu dem in den kommenden Monaten Scharen von Studenten und Kollegen pilgern werden, weil das so üblich ist, wenn der Richter wieder irgendwo was gebaut hat. Dieses Haus an der südlichen Stadtperipherie veranschaulicht exemplarisch, was Richters Qualitäten ausmacht.

Die „Thermensiedlung Oberlaa“ zwischen Grundäckergasse, Hämmerlegasse und Bahnlende im zehnten Wiener Gemeindebezirk ist einer jener Wohnbauflecken, wie sie die Gemeinde Wien seit geraumer Zeit in Auftrag gibt. Ein Architekt erstellt den städtebaulichen Masterplan der Siedlung. Die einzelnen Wohngebäude werden dann von diversen Architekten geplant und in Zusammenarbeit mit einem Generalunternehmer draufgestellt. Das Ganze hat eine einzige Priorität: Billig, billig, billig muß es sein. Was der Architekt aus den zur Verfügung stehenden Mitteln, sprich den Quadratmeterbaukosten, herausholt, bleibt eigentlich ihm überlassen.

In der Thermensiedlung Oberlaa kann man nun den Unterschied zwischen „preiswert“ und „billig“ im Planquadrat abspazieren. Neben einfallsloser 0-8-15-Ware stehen dort hochanständige, sorgfältig gemachte Bauteile, etwa von Albert Wimmer oder Otto Häuselmayer und als nördlichster Abschluß der 170 Meter lange und 13 Meter breite Richter-Bau. Die Fassade ist wie gewöhnlich ungewöhnlich, nämlich mit Industriestahlblech verkleidet, die Konstruktion ausgefallen: Ein Rückgrat aus fein dimensionierten, mit A-Böcken ausgesteiften Betonteilen erstreckt sich über die gesamte Nordlänge, es dient als Erschließungstrakt und hält das gesamte Gebäude, das ohne diese Konstruktion wie ein Kartenhaus umklappen würde. Der Vorteil: Die Mieter der 67 Wohneinheiten können ihre Grundrisse frei gestalten, da sie nicht von tragenden Mauern verstellt werden. Jedes Appartement verfügt über mindestens eine Loggia oder Terrasse, kann quergelüftet werden und wird durch großzügige Fensterflächen besonnt. Eine ausgezeichnete Planungsleistung für vergleichsweise lächerliche Nettoherstellungskosten von etwa 11.500 Schilling pro Quadratmeter.

Daß einem Architekten, der derart sorgfältig plant und jedes Detail millimetergenau dimensioniert, vom Honorar so gut wie nichts bleibt, steht fest. Wie man solchermaßen überlebt? „Ganz schlecht.“ Und warum man sich das dann überhaupt antut? „Weil es wichtig ist, daß was weitergeht.“

Richter stammt aus dem Ort Ratten in der Steiermark. „Aufgewachsen bin ich im Wald“, sagt er. Dort stand neben Bäumen auch ein Kohlebergwerk samt den dazugehörigen Maschinerien und Werkstätten. Das Industrieklima, wo Gerät und Bau möglichst ökonomisch, möglichst einfach sind, hat ihn geprägt. Wie auch der Zeichenlehrer, der seine Schülern in den 50er Jahren mit Bildern von Le Corbusiers Kirche von Ronchamp fasziniert. „Eigentlich wollte ich dann Künstler werden, hab mich aber nicht getraut und wurde deshalb Architekt.“ Dem Studium in Graz folgen Jahre in Kalifornien und in Paris. Dort wird gerade das Centre Pompidou gebaut, Richter kennt alle Mitarbeiter von Rogers und Piano, wohnt im selben Haus. Zurück in Wien verblüfft er mit Projekten wie dem Haus Königseder, wo er Paraschalen aus dem Industriebau als Dachelemente einsetzt, oder einem Badezimmer, das er komplett mit Nirosta auskleidet. Aus dem Staunen ist man bis heute zum Glück nicht herausgekommen, und was auch immer ihm als nächstes einfällt - es wird kopiert werden und in den allgemeinen Architekturgebrauch eingehen.

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