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Die Himmelsstürmer von Chicago
Neue Zürcher Zeitung

Chicago gilt als Geburtsort der Hochhäuser. Inzwischen werden die höchsten Gebäude der Welt zwar in Asien gebaut, aber jüngst sorgte die Stadt am Michigansee mit den ersten Wolkenkratzern einer Frau für frischen Wind in einer ehemaligen Männerdomäne.

26. Mai 2021 - David Signer
Eine Katastrophe war zugleich die Geburtsstunde des modernen Chicago. Vor 150 Jahren, am 8. Oktober 1871, brach in der Stadt am Michigansee ein gewaltiger Brand aus, der drei Tage lang wütete und einen grossen Teil der Stadt zerstörte, die vor allem aus Holzhäusern bestand. Etwa 300 Einwohner kamen ums Leben, 18 000 Gebäude wurden vernichtet, 100 000 Menschen wurden obdachlos. Der Schaden belief sich auf 200 Millionen Dollar, das war ein Drittel des gesamten Stadtwerts. Chicago war damals vor allem berühmt für seinen Schlachthof, den grössten der Welt. Tausende von Arbeitern töteten hier Schweine und Rinder, buchstäblich am laufenden Band. Die Fliessbänder in den berüchtigten «Union Stockyards» inspirierten Henry Ford später zur industriellen Automontage.

Architektur-Hochrüsten zwischen New York und Chicago

Die Verwüstung Chicagos bot allerdings die Möglichkeit eines radikalen Neuanfangs und zog visionäre Architekten wie Louis Sullivan, den «Vater des Wolkenkratzers», an, die ihre Chance witterten, auf den leeren Flächen der Stadt ihre kühnen Projekte umzusetzen. Auch die zahlreichen und grossen Parks, die Chicago bis heute charakterisieren, gehen auf diesen Kahlschlag zurück. Innerhalb von sechs Wochen begannen die Arbeiten an über 300 neuen Gebäuden.

1880 zählte die wiederauferstandene Stadt bereits 500 000 Einwohner, mehr als vor der Feuersbrunst. Schon bald galt Chicago als erste moderne Grossstadt der Welt. In den nächsten zehn Jahren verdoppelte sich die Einwohnerzahl nochmals, und 1890 war Chicago eine Millionenstadt.

Das ging allerdings einher mit einer Explosion der Grundstückspreise, die sich von 1880 bis 1890 versiebenfachten. Eine naheliegende Folge war, dass man Geld sparte, indem man in die Höhe statt in die Breite baute. Dieser Trend wurde verstärkt durch Erfindungen wie den elektrischen Lift sowie die Verwendung feuerfester, solider Baustoffe, insbesondere von Stahlskeletten. 1885 wurde das Home Insurance Building gebaut, das diese Innovationen in sich vereinigte. Mit seinen 42 Metern Höhe und den 10 Etagen gilt es als erstes modernes Hochhaus. Schon vier Jahre später wurde es noch übertroffen von Sullivans Auditorium Building mit seinen 82 Metern Höhe und 17 Stockwerken; es war zudem das erste Gebäude mit einer Klimaanlage.

1892 stieg New York ins Rennen um das höchste Gebäude ein, und zwar mit dem Pulitzer Building. Aber noch im selben Jahr wurde es von Chicago bereits wieder überholt, und zwar mit dem 22-stöckigen «Freimaurertempel». Es kam zu einem erbitterten Streit, ob man die Antenne auf dem New Yorker Gebäude mitzählen könne – wenn ja, wäre es weiterhin der Rekordhalter gewesen.

Chicago war 1910 immerhin die viertgrösste Stadt der Welt – nach London, New York und Paris, und es hoffte, New York irgendwann den Rang ablaufen zu können. Aber bald schon übernahm New York im Wolkenkratzer-Rennen definitiv die Führung, vor allem mit dem Bau des Empire State Building im Jahr 1931. Erst 1974 wurde in Chicago noch einmal ein Weltrekord aufgestellt, mit dem 442 Meter hohen Sears-Tower, der heute Willis Tower heisst. Er ist ein berühmt-berüchtigtes Ausflugsziel, weil man im 103. Stock auf einen gläsernen Balkon hinaustreten und zwischen seinen Füssen schwindelerregende 412 Meter in die Tiefe blicken kann.

Inzwischen werden die höchsten Wolkenkratzer in Asien gebaut. In Chicago ist der Höhe wegen der starken Winde sowieso eine Grenze gesetzt. Nicht umsonst wird die Millionenstadt «Windy City» genannt, im übertragenen Sinne wegen der Gangstervergangenheit mit Al Capone und all den anderen windigen Gestalten, aber durchaus auch wörtlich, wegen der beissend kalten Winterbisen. Trotz der sturmbedingten Obergrenze steht Chicago in der Rangliste der Städte mit den meisten Wolkenkratzern allerdings immer noch auf dem sechsten Platz (auf dem ersten liegt Hongkong).

Der erste «weibliche» Wolkenkratzer

Interessanterweise werden inzwischen viele der höchsten und aufregendsten Gebäude zwar nicht mehr in Chicago gebaut, aber immer noch hier entworfen. Prominent ist vor allem der Architekt Adrian Smith, der die Pläne für den derzeit höchsten Bau der Welt, den Burj Khalifa in Dubai, gezeichnet hat. Er ist 828 Meter hoch, umfasst 189 Etagen und wurde 2010 fertiggestellt. Auch die Pläne für den Jeddah Tower in Saudiarabien, der erstmals die 1000-Meter-Grenze knacken und 2024 eröffnet werden soll, stammen von Smith.

In Chicago selbst ist die Architektur eher etwas langweilig geworden. Nachdem Ludwig Mies van der Rohe 1938 aus Deutschland nach Chicago emigriert war, setzte sich hier der funktionalistisch-minimalistische Stil endgültig durch, der schliesslich in vulgarisierter Form den Siegeszug durch die ganze Welt antrat, mit seinen uniformen Rechteckformen und kalt-sterilen Glasfassaden. Zum letzten Mal für Aufsehen sorgte der im Jahr 2009 fertiggestellte Trump Tower. Er ist mit seinen 423 Metern das zweithöchste Gebäude Chicagos. Der silberne «Trump»-Schriftzug an der von weit her sichtbaren Fassade mit den sechs Meter hohen Buchstaben stösst in der mehrheitlich demokratischen Stadt nicht auf ungeteilte Begeisterung.

Zu einem Bruch mit der uninspirierten Macho-Architektur kam es, als an bester Lage, am Wacker Drive, mit dem Aqua Tower ein weiterer 08/15-Kasten hingeklotzt werden sollte. Der Entwurf stand bereits, da platzte dem Architekturkritiker der «Chicago Tribune», Blair Kamin, der Kragen. Er sprach von einer stereotypen «Architektur der Ausstechform» und forderte, dass endlich einmal junge, kreative Talente eine Chance bekämen.

Tatsächlich wurde er erhört, und der Auftraggeber holte Jeanne Gang mit an Bord. Die Chicagoer kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus, als der Turm mit seinen 82 Stockwerken 2009 eingeweiht wurde, und der kühne Wurf erhielt unzählige Preise. Jeder der abgerundeten Balkons ist unterschiedlich, was dem Gebäude etwas Wellenförmiges und Dynamisches verleiht. Schon auf den ersten Blick irritiert «Aqua»: Es ist, als ob sich ein gigantischer Vorhang im Wind bewegen würde. Der Aqua Tower war damals das höchste von einer Frau entworfene Gebäude der Welt. Bis dahin waren Wolkenkratzer vor allem eine männliche Domäne, manche sahen ein Symbol von phallokratischem Grössenwahnsinn in ihnen. Gang zeigte, dass es auch anders ging.

Elastische Türme

Inzwischen übertrifft sie ihr eigenes Werk noch, und zwar mit dem St. Regis, einem Hochhaus, das dieses Jahr eingeweiht wird und 101 Etagen umfasst. Wiederum sticht es durch Originalität hervor. Es ist schmaler als die Klötze in der Umgebung und wirkt im Vergleich fast schon filigran. Zudem ist es abermals charakterisiert durch geschwungene Linien und fliessende Abstufungen von Blau und Grün, so dass der Bau trotz seinen imposanten Dimensionen verspielt und leicht wirkt. Eine Besonderheit sind auch die drei «leeren Etagen». Sie lassen den Wind durch, so dass das Gebäude seinem Druck weniger ausgesetzt ist.

Schon beim Bau des Willis Tower hatten die Ingenieure Neues ausprobiert, um den Wolkenkratzer vor den Winden vom Michigansee zu schützen. Anstatt dass sie versuchten, noch stabiler und härter zu bauen, setzten sie im Gegenteil auf Elastizität. Im obersten Stockwerk kann der Bau einen ganzen Meter hin und her schwanken, ganz nach dem taoistischen Motto, wonach ein harter Baum bricht, während sich der Bambus nur biegt.

Die Skyline von Chicago, die mehr oder weniger definiert schien, und das Alphabet der Architektur in der «Windy City» werden gegenwärtig gerade noch einmal aufgemischt. Die Stadt, gebeutelt von Kriminalität, Korruption und Abwanderung, erfindet sich wieder einmal neu.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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