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Matrix der Hoffnung?
Neue Zürcher Zeitung

Möglichkeiten neuer Architektur in Osteuropa

22. Juni 1999 - Ursula Seibold-Bultmann
Die Stadt als Erinnerung und als Traum, als Haus des Daseins und Matrix der Hoffnung: diese Worte Daniel Libeskinds - im Gedanken an die brutalen und zugleich drohend märchenhaften Umrisse von Ceausescus Bauten in Bukarest gelesen - beschwören einen Schwarm urbanistischer, ethischer, ästhetischer und baupraktischer Fragen herauf. Wie kann die Architektur soziale und politische Veränderungen bewirken, begleiten oder krönen? Soll sie Konstanten und Normen zum Ausdruck bringen oder blosse Kontingenz thematisieren? Wo berühren sich Politik und architektonische Schönheit? Und was folgt, wenn sich im Nachdenken über Architektur Utopie und Nostalgie gegenseitig blockieren?


Symbole und Fragmente

In Bukarest fand 1995 mit Unterstützung der Soros Foundation und anderer Geldgeber eine internationale Konferenz von Architekten, Philosophen und Kulturtheoretikern statt, welche die Möglichkeit neuer Architektur im Osten Europas auszuloten suchten. Die Ergebnisse sind jetzt in einem lesenswerten Sammelband veröffentlicht worden. Die einundzwanzig Autoren des locker nach Themengruppen gegliederten Bandes betrachten die oben erwähnten Probleme aus einer Vielzahl konträrer Blickwinkel; gemeinsam ist ihnen dabei höchstens ein betontes theoretisches Interesse. Teile ihrer Debatte klingen in westlichen Ohren nicht ganz neu - so etwa, wenn der Literaturwissenschafter Fredric Jameson gebaute Architektur als semantisch inerte und neutrale Folie beschreibt, die jegliche symbolische Bedeutung erst kraft der Assoziationen ihrer Betrachter gewinne, und wenn ihm Libeskind hierin mit guten Gründen widerspricht. Anderes - zum Beispiel die innenpolitisch gefärbte Breitseite eines jüngeren Akademikers aus Schottland gegen den Thatcherismus und dessen Folgen für Architektur und Stadtplanung - bleibt bei linksideologischen Generalisierungen stehen. Dennoch: Das Buch gibt reichlich Stoff zum Nachdenken, der sich bei der Lektüre entlang aufschlussreichen Schnitten und Konfrontationen immer neu zuschürzt.

So fallen Schlaglichter etwa auf Bernard Tschumis Architektur der Brüche und Spaltungen, obwohl er dieses Konzept in seinem kurzen Beitrag ohne nähere Berücksichtigung spezifischer Gegebenheiten in Osteuropa vorträgt. Inwieweit lassen diese Gegebenheiten Bauformen, die «die Fragmentation und Dissoziation der Kultur insgesamt» spiegeln sollen, tatsächlich zu? Die slowenische Philosophin und Soziologin Renate Selecl gibt ihrem psychoanalytisch orientierten Beitrag «The state as a work of art» zu bedenken, wie leicht der Verlust symbolischer Strukturen und Hierarchien die Kräfte derjenigen, die historische Traumata durchlebt haben, übersteigt. Das Finden neuer, positiver Symbole und Identifikationsmuster gewinnt aus dieser Perspektive ganz vitale Bedeutung.


Grenzen der Postmoderne

Gleichzeitig muss die Macht überlebender totalitärer Zeichen gebrochen werden. Doch wie? «Versuchen Sie sich an postmodernen Konzepten wie dem ‹Ephemeren›, der ‹Differenz›, dem ‹Fragmentarischen› . . .», antwortet der rumänische Architekt Dorin Stefan, «aber nähern Sie sich diesen Konzepten gegen den Strich. Mit anderen Worten: Lassen Sie sich vom Kontext diktieren, anstatt zu versuchen, ihn zu beherrschen.» Und auch in weiterer Hinsicht bietet die Postmoderne in Osteuropa nur begrenzte Anhaltspunkte; Stefans Kollegin Ioana Sandi bemerkt, dass die Intensität dortiger Debatten über Gut und Böse, Wahr und Unwahr von westlich- relativistischem Standort aus schwer zu begreifen sei. In Rumänien gäbe es klare Massstäbe: «People have died for liberty.»

Eine phänomenologisch-anthropologisch ausgerichtete, von Max Scheler und Maurice Merleau-Ponty ausgehende Alternative zu extremen postmodernen Positionen wird von Dalibor Vesely (Cambridge) skizziert. Er warnt vor der Tendenz, eine experimentelle und monologische Repräsentation von Wirklichkeit wichtiger als die Wirklichkeit selbst zu nehmen, und fordert eine Architektur, die - anstatt halluzinatorischen Erfahrungen Vorschub zu leisten - mit konkreten menschlichen Grundsituationen verbunden bleibt. Davon, wie die Grenze zwischen wahnhafter Halluzination und befreiender Vision unter totalitären Bedingungen zu ziehen war, zeugen die Beiträge der rumänischen Autoren.


Bedrohte Identitäten

Aber auch das scheinbar Lebensnahe wirft Probleme auf. Neil Leach (Nottingham) übt Kritik an Rufen nach einer regionalen Architektur, wie sie unter dem Zeichen des «Genius loci» und vor dem Hintergrund von Martin Heideggers Konzept des Wohnens durch Autoren wie Christian Norberg-Schulz und Gianni Vattimo skizziert wurde und heute in Osteuropa gern diskutiert werde. Nicht nur, dass er aus dieser Richtung die Gefahren eines neuerwachten Nationalismus heraufziehen sieht - eine solche Architektur lasse sich überdies mühelos den Wirtschaftsinteressen des «späten Kapitalismus» unterwerfen und drohe somit in historisierenden Disney-Ländern aufzugehen.

Antworten auf die Frage, was die Architektur unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den osteuropäischen Ländern dort jeweils realiter leisten könne, finden sich allerdings in dem Buch nur spärlich. Wie klein die Handlungsspielräume vielerorts angesichts praktischer Probleme sind, macht das Protokoll einer während der Konferenz abgehaltenen Round-table-Diskussion zwischen den Architekten Evgeny Asse und Andrei Bokov sowie den Architekturhistorikern Selim Khan-Megomedov und Vyatcheslav Glazychev (Moskau) über «Architektur in einer posttotalitären Gesellschaft» klar. Bokov zieht eine desperate Summe: «In Russland sind ungeschriebene Gesetze immer besser befolgt worden als geschriebene . . . Aber jetzt gibt es keine mehr.»

Ursula Seibold-Bultmann

[ Routledge, Architecture and Revolution. Hrsg. Neil Leach. London und New York 1999. 238 S., £ 17.99. ]

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