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Auf nach Arles: Zum Picknick mit Annie Leibovitz, Gilbert & George oder Philippe Parreno
Neue Zürcher Zeitung

Mit dem Parc des Ateliers wird die südfranzösische Kleinstadt Arles noch etwas mehr zum Mekka für Kultur- und Kunstinteressierte. Die Gründerin Maja Hoffmann hat damit Massstäbe gesetzt.

20. September 2021 - Nina Belz
Sieben Jahre hat der Turmbau zu Arles gedauert. Sieben Jahre lang haben Besucher wie Anwohner über die Baustelle gestaunt, gerätselt und manchmal auch gelästert. Doch je besser seine Konturen erkennbar wurden, desto klarer wurde für Kritiker wie Bewunderer: Der Bau, entworfen vom amerikanisch-kanadischen Architekten Frank Gehry und finanziert durch die Roche-Erbin Maja Hoffmann, würde zum Wahrzeichen der 54 000-Einwohner-Stadt in der Provence werden.

Einerseits, weil er mit 56 Metern Höhe aus den Häusern herausragt und seine Fassade aus fast 11 800 Platten aus rostfreiem Stahl von weitem unweigerlich den Blick auf sich zieht: So oft wie in Arles die Sonne scheint, so oft glitzert und funkelt der Turm. Anderseits, weil der Kulturcampus Parc des Ateliers, zu dem der Turm gehört, schon während seiner Entstehungsphase grosse Namen aus diversen Genres der Gegenwartskunst angezogen hat: Annie Leibovitz etwa, Gilbert & George oder die L. A. Dance Company.

Mit der Eröffnung des Gehry-Turms ist eine lange Entwicklungsphase zu Ende gegangen. Zu einem Zeitpunkt, der nicht viel besser hätte fallen können: nämlich im vergangenen Juni, als das Leben in Frankreich nach einer dritten pandemiebedingten Ausgangssperre wieder langsam Fahrt aufnahm.

Seither bilden sich jeweils zur vollen Stunde kleine Gruppen vor dem Eingang des Turms: Es sind Neugierige aus der Umgebung, aus dem ganzen Land, auch Englisch, Deutsch und Niederländisch wird gesprochen. Nach den ersten Schritten durch die Tür wandert der Blick unweigerlich nach oben, zum Licht hin. Die ersten beiden Stockwerke des Turms sind umgeben von einem riesigen runden Glassockel, Trommel hat sein Schöpfer ihn genannt. Er macht den Übergang in den Turm fliessend: Man steht drin und doch erst davor.

Und nun? Nirgendswo gibt es Pfeile, die eine Richtung vorgeben. Dafür freundliche Angestellte, die Faltblätter verteilen. Darauf sind die verschiedenen Projekte aufgelistet, die es hier gibt, im Turm, aber auch auf dem grossen Gelände, das ihn umgibt: Virtual-Reality-Erlebnisse, Kurzfilme und längere Stücke, Wandfresken; Werke von Fotografen sowie aus der Sammlung von Maja Hoffmann und der Stiftung ihres Grossvaters, Emanuel Hoffmann. Schnell wird klar: Es stellt sich die Qual der Wahl. Zumal die Reihenfolge des Besuchs selbst in Pandemiezeiten den Besuchern überlassen wird.

Sich von den Schöpfern des Bauwerks ihre Motive und gemeinsame Erlebnisse erzählen zu lassen, ist kein schlechter Einstieg, um sich Gehrys Werk und dem Parc des Ateliers als Ganzem zu nähern. Zumal Maja Hoffmann und Frank Gehry nie die Öffentlichkeit gesucht haben. Im Erdgeschoss stehen sie nun, jeder in einem Raum für sich, in aufgezeichneten Interviews Red und Antwort.

Frank Gehry, der inzwischen 92 Jahre alte Meisterarchitekt, erzählt, wie er sich beim Entwurf des Turms von der Umgebung inspirieren liess: vom besonderen Licht des Südens, von van Goghs Werken und den Steinen der Gegend. Und er betont, dass Maja Hoffmann für ihn mehr als eine Auftraggeberin war; er spricht von gegenseitiger Inspiration.

Mehr als hundert Modelle sollen sie zusammen entworfen haben. Einige davon kann man sich im ersten Untergeschoss anschauen: ein Bauwerk, entstanden durch stetigen Wandel, dessen rollende Planung einige Ingenieure nah an die Verzweiflung getrieben haben soll. Das Ergebnis trägt dennoch unverkennbar Gehrys Handschrift – in der asymmetrischen Form wie auch in der Dominanz von Glas, Stahl und Beton.

Mit Blick bis ans Meer

Maja Hoffmann erläutert ihrerseits, was das Projekt über sie und ihre Beziehung zu Arles aussagt. Sie ist in der Camargue gross geworden, wo ihr Vater Lukas Hoffmann ein Naturreservat aufgebaut hat. Von ihm habe sie gelernt, die Natur «anders» zu betrachten und zu schützen; was die Konzeption des Parc des Ateliers demnach ebenso geprägt hat wie ihre Begegnungen mit gewissen Künstlern.

Sie erzählt, wie sie schliesslich diejenigen fand, die nun zu ihrer sogenannten Core-Group gehören und das künstlerische Programm bestimmen: unter ihnen die Kuratoren Tom Eccles, Beatrix Ruf und Hans Ulrich Obrist und Künstler wie Philippe Parreno und Liam Gillick. Und da ist noch dieser Hinweis: Von den oberen Stockwerken des Turms könne man bis ans Meer sehen, schwärmt die 65-Jährige.

Welche Enttäuschung, dass der Aufzug nur bis in den zweiten Stock fährt: Die oberen Etagen sind noch nicht fertig gebaut und daher nicht zugänglich. Der Blick eröffnet trotzdem unbekannte Perspektiven. Im Norden reicht der Blick über die Dächer des antiken Stadtkerns bis an die Kette der Alpilles, an deren Felsformationen sich Frank Gehry inspiriert hat. Im Süden, wo man den Glassockel verlassen und auf eine Terrasse treten kann, überblickt man die Grösse des Parc des Ateliers mit seinen 10 Hektaren.

Bevor Maja Hoffmann sich 2013 mit ihrer Fondation Luma des Geländes annahm, war der grösste Teil davon eine vom Zerfall gezeichnete Industriebrache. Nur eines der sechs Gebäude, in denen die französischen Staatsbahnen bis in die achtziger Jahre unter anderem Züge revidierten, war 2007 im Auftrag der Region renoviert worden. Inzwischen hat die deutsche Architektin Annabelle Selldorf alle mit Sorgfalt und Rücksicht auf ihre Geschichte wieder instand gesetzt.

So hat ein Teil der ehemaligen Schmiede zwar Fassaden und Fenster, aber kein Dach, weil dieses in den achtziger Jahren abgebrannt ist. Ins Auge sticht das satte Grün der Wiesen, Sträucher und Bäume – eine Seltenheit in dieser Gegend, besonders im Sommer.

Um in den Park zu gelangen, kann man entweder die spiralförmige Treppe nehmen (durch einen drehenden Spiegel ins Unendliche verlängert von Olafur Eliasson) oder mit einer Rutschbahn (von Carsten Höller) ins Erdgeschoss zurückgleiten. Ach, vielleicht doch noch einen Blick in die «lebenden Archive» im ersten Untergeschoss werfen?

Oder in die Räume der Bibliothek, die Platz für 20 000 Bücher bietet? Plötzlich singt jemand, nein mehrere Personen. Ah, es sind die Angestellten. Erst später realisieren wir, dass das eine «konstruierte Situation» des deutsch-britischen Künstlers Tino Sehgal war. Sich treiben zu lassen, ist womöglich der beste Vorsatz, den man für den Besuch im Turm fassen kann.

Draussen im Park fällt ein zielgerichtetes Vorgehen leichter. Man entscheidet sich für einen Künstler, bevor man ein Gebäude betritt, derzeit Pierre Huyghe zum Beispiel und Ian Cheng. Man lässt sich von Werken jener Künstler überraschen, die in den letzten zwei Jahren zu einem von Luma finanzierten Werkaufenthalt in Arles gewesen waren. Oder man setzt sich in den Park, in ein Restaurant oder einfach auf die Wiese, schaut und geniesst. Es sei ausdrücklich erwünscht, dass man zum Sport oder zum Picknick herkomme, sagt eine Mitarbeiterin.

Hohe Ansprüche

Maja Hoffmann spricht in ihrem Interview im Erdgeschoss des Turms unter anderem von dem Recht, nicht perfekt zu sein. Doch mit den ersten Schritten im Parc des Ateliers beschleicht einen der Eindruck, dass hier nichts dem Zufall überlassen wurde. Selbst die Toilettenräume sind mit bunter Keramik verschönert. Von den Wänden vor den Aufzügen glitzern Salzkristalle. Und die Ansprüche zeigen sich nicht nur in der Ästhetik. Der Parc des Ateliers will mehr sein als eine Ausstellungsfläche: Es soll geforscht, geschaffen, diskutiert, gelebt werden. Und er soll sich so gut wie möglich in seine Umgebung einfügen: in die Natur, aber auch in die Stadt und deren Bevölkerung.

Die Salzkristallwände sind das Ergebnis einer Forschungsarbeit im Atelier Luma, wo Wissenschafter und Designer versuchen, natürliche Materialien aus der Umgebung neuartig zu verwenden. Der künstlich angelegte Teich sowie die Bewässerung der 80 000 Pflanzen im Park werden durch einen Kanal genährt, der in der Nähe des Geländes vorbeifliesst. Für seinen Betrieb hat die Stiftung fast 300 Stellen geschaffen und gezielt in der Umgebung rekrutiert. Und schliesslich: Der Besuch des Turms, des Gartens und der durch die Fondation Luma kuratierten Ausstellungen – es gibt temporäre und permanente – ist kostenlos.

So ist der «milliardaire suisse», wie Hoffmann in den französischen Medien gemeinhin genannt wird, gelungen, dass die Skeptiker leiser wurden. Bedenken gibt es in Arles durchaus. Und sie wurden grösser, als Hoffmann anfing, in der Innenstadt Immobilien und Hotels zu erwerben. Würde Arles zu einer Museumsstadt verkommen? Die einheimische Bevölkerung verdrängt werden? Würde es durch die schätzungsweise 200 000 zusätzlichen Besucher pro Jahr zum Verkehrskollaps kommen?

Auf der anderen Seite standen die, die sich von dem Park – und insbesondere vom Turm – einen «Bilbao-Effekt» erhofften und damit eine dauerhaftere Aufwertung der Stadt, die unter der Deindustrialisierung gelitten hat. Die sich über die neuen Handwerksläden und innovativen Restaurants in der Innenstadt freuen und über die Zuzüger aus Paris.

Man könnte den Parc des Ateliers als Kontrastprogramm zum Rest der Stadt sehen: Hier dieser Campus für Gegenwartskunst, dort der alte Stadtkern mit seinen Relikten aus der Römerzeit. Hier die hippen Kunstfreunde, dort die Bevölkerung, die an ihren provenzalischen Traditionen hängt.

Doch Arles war vor Hoffmanns Projekt keineswegs ein kulturfernes Provinznest. Seit den achtziger Jahren gehören die Relikte aus der Römerzeit zum Unesco-Weltkulturerbe. Bereits 62 Jahre lang ziehen die «Rencontres de la photographie» in den Sommermonaten ein internationales Publikum an, das bis zur Pandemie stetig grösser und breiter wurde.

Das während zwölf Jahren aufwendig renovierte Museon Arlaten hat den verstaubten Geruch eines Heimatmuseums definitiv abgelegt. Und seit Maja Hoffmanns Vater der Stadt 2012 ein Van-Gogh-Museum geschenkt hat, ist auch die moderne Kunst vertreten. Und noch wohnen Einheimische in der Innenstadt, noch müssen die Rencontres sich dem Kalender der traditionellen Feria anpassen.

Das neue Wahrzeichen von Arles steht ausserhalb der antiken Stadtmauer, aber in Gehdistanz zum Stadtzentrum. Die Chancen, dass die beiden zusammenwachsen, sind intakt. Auf der sattgrünen Wiese des Parks haben schon erste Picknicks stattgefunden.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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