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Landschaft sei Natur, so glauben wir. Georges Descombes gewinnt ihr viel mehr ab
Neue Zürcher Zeitung

Der Genfer Landschaftsgestalter arbeitet sogar mit Schockmomenten, um die Wahrnehmung der Umwelt zu intensivieren.

22. September 2021 - Susanna Koeberle
Was ist eine Landschaft? Die meisten Menschen haben eine Antwort darauf: Landschaft ist Natur. Was Natur sei, meinen wir ebenfalls zu wissen. Genau diese Form der Zuweisung und Definition ist allerdings Teil eines Problems, vor dem wir heute nicht mehr die Augen verschliessen können.

Die Idee von Natur ist eine Konstruktion – beziehungsweise eine Erfindung des Abendlandes. Denn Landschaften sind stets Teil einer permanenten Transformation, an der auch der Mensch beteiligt ist. Auch im negativen Sinne, wenn man bedenkt, dass unsere Zivilisation die Erde als unbelebte Materie versteht; als unerschöpflichen Pool an Ressourcen, bei dem sich die menschliche Spezies einfach bedienen kann.

Mehr als Kosmetik

Natur und Kultur, natürlich und künstlich als gegensätzlich zu verstehen, schafft eine problematische Trennung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Die Folgen dieses Missverständnisses sind nicht zuletzt der Klimawandel, der Rückgang der Artenvielfalt oder die Verschmutzung von Naturräumen und Städten, um nur grob zusammenzufassen. Genauer betrachtet lässt sich diese Trennung nicht aufrechterhalten, wir leben ja schliesslich alle auf dieser einen Erde und sind Teil eines Systems von Prozessen. Wir sind eben nicht bloss Zuschauer.

Dieses Weltbild zu verstehen, ist das eine, das andere ist, es zu verändern. Beides interessiert den Landschaftsarchitekten Georges Descombes (* 1939), eine bescheiden wirkende Persönlichkeit mit einer wunderbaren Ausstrahlung und Präsenz. Doch schon die Bezeichnung Landschaftsarchitekt macht ihn stutzig. Er mag Architektur und Landschaftsarchitektur nicht unterscheiden. Und beim französischen Begriff «paysagiste» müsse er an «visagiste» denken, sagt er im Gespräch.

Kosmetische Eingriffe in die Landschaft sind nicht das, was Descombes mit seiner Arbeit erreichen will. Er würde sich auch niemals herausnehmen, Landschaft «machen» zu wollen. Landschaft sei das, was da sei. Man könne in und mit diesem Territorium arbeiten, aber es sei quasi unmöglich, Landschaft als solche zu verstehen, findet er. Descombes benutzt lieber das Wort «Garten». Es ist auch das Wort, das er für eines seiner grössten Projekte verwendet, die Renaturierung – wobei er die Bezeichnung Restaurierung vorzieht – des Flusses Aire bei Genf.

Ein Flussgarten als Palimpsest

Descombes nennt seine Arbeit einen Flussgarten («jardinrivière», in einem Wort). An diesem Unterfangen arbeitet er seit 2001 in Etappen, 2022 soll das Projekt abgeschlossen sein. Der zeitliche Aspekt ist dabei nicht unwesentlich, denn für Georges Descombes gleicht Landschaft einem Palimpsest, einem zeitlich geschichteten Terrain, dessen Veränderung er durch seine Eingriffe erfahrbar machen möchte. Der Begriff der Erfahrung ist zentral, wenn man die Arbeit dieses Mannes verstehen möchte. Wenn wir in der Landschaft sind, etwa bei einer Wanderung, dann neigen wir dazu, sie von aussen zu betrachten, als etwas Idyllisches und Liebliches.

Wir sind da, und die Natur ist dort, draussen, es entsteht keine wirkliche Interaktion oder Emotion. Um diese Emotionen hervorzurufen, arbeitet Descombes mit dem Mittel des Schocks, mit Gegensätzen und Dissonanzen. Das mag zunächst erstaunen. Wieso Schock? Erst beim Spaziergang entlang der Aire, als wir uns an einem schattigen Tisch niederlassen und Descombes, auf einem Zeichenblock skizzierend, den Entwurf seines Flussgartens erläutert, beginnen wir zu verstehen.

Interessanterweise ist wenig die Rede von Pflanzen oder überhaupt von «Natur», sondern viel mehr von Anthropologie, Literatur, Psychologie, Film und Kunst. Descombes ist ein Denker, ein Landschaftsphilosoph, der seine Gedanken auch gerne schriftlich festhält und dabei stets seine Inspirationsquellen nennt. Gedanklicher Austausch und Vernetzung sind ihm wichtig, er sieht sich nicht als Einzelschöpfer. Wir sprechen etwa über den französischen Anthropologen Philippe Descola oder über die belgische Philosophin Isabelle Stengers, mit denen er seine Haltung teilt. Sein Buch «Laisser faire la rivière» gibt einen vertieften Einblick in seine Gedankenwelt, die auch die Basis für das Aire-Projekt bildet.

Kanal und Fluss als Doppelgänger

Ausgangspunkt dafür war ein Studienauftrag des Kantons Genf zur Renaturierung des Flusses. Descombes und sein Team, die unter dem Namen «Superpositions» operieren, schlugen etwas Ungewöhnliches vor: Descombes hatte die Idee, statt eben zu renaturieren und den zum Schutz vor Überschwemmungen in den 1920er Jahren erbauten Kanal zu zerstören, eine Art Verdoppelung des Flusslaufes vorzunehmen: Er konnte so die bestehende Kanalisierung erhalten und neu gestalten und gleichzeitig daneben den natürlichen Flusslauf wieder ermöglichen. Er erschuf, wie Elissa Rosenberg in ihrem Aufsatz «Kanal und Fluss» ausführt, einen Doppelgänger.

Dadurch macht der Landschaftsarchitekt zum einen die Geschichte der Zähmung des ehemals mäandrierenden Wasserlaufs sichtbar, zum anderen lässt er eine kontrollierte Verwilderung zu; er lässt dort eben den Fluss die Arbeit machen. Durch das Schaffen einer Promenade entlang des Kanals und die Gestaltung des Zwischenstücks entsteht zudem ein öffentlicher Raum mit Aufenthaltszonen. Dieser Aspekt ist für Descombes essenziell. Denn erst durch die Nutzung kann so etwas wie eine Beziehung des Menschen zur Natur entstehen. Erst die Spannung zwischen den Figuren Fluss und Kanal erzeugt die Möglichkeit eines Erfahrungsraumes.

Ein Schock für die Sinne

Und tatsächlich: Entlang des Flussgartens schärft man seine Sinne. Je nach Standort hört man das Rauschen anders, sieht man andere Tiere, strömen der Besucherin unterschiedliche Düfte von Pflanzen entgegen. Descombes’ Garten mit dem unterschiedlich gegliederten Gelände bietet eine Vielzahl an Erfahrungen. Einzelne Zonen beim Kanalteil sind aus Beton. Ich steige ein paar Stufen hinunter, setze mich auf eine Plattform ganz nahe beim Fluss und befinde mich quasi in einem anderen Raum. Die multisensorische Wirkung dieses Ortes ist verblüffend.

Der Einsatz dieses eher im urbanen Umfeld bekannten Materials gehört zum Konzept des Schocks. Die hybride Form der Gestaltung schafft eine alternative Kartografie dieses Ortes. Wir sind kaum erstaunt, als wir erfahren, dass Descombes dieses Territorium seit seiner Kindheit kennt. Gerade diese Vertrautheit ist spürbar in dieser Arbeit: in der Empathie gegenüber dem Fluss, aber auch in der Bestimmtheit und Radikalität, mit welcher der Landschaftsgärtner diesen Raum liest und interpretiert.

Descombes zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz des Historikers Carlo Ginzburg: «Die Spuren lesen, bevor man schreibt.» Er hätte ebenso gut Walter Benjamins Diktum «Was nie geschrieben wurde, lesen» nennen können. Diese paradoxe Figur prägt das Gesamtwerk des Genfers, der mehrere Jahre unter anderem in den USA gelehrt hat und bis heute an internationalen Projekten arbeitet. Der Flussgarten ist für ihn ein Laboratorium unter offenem Himmel, ein Ort des Experimentierens. Mit seiner Arbeit trägt Georges Descombes dazu bei, unseren Lebensraum mit wacheren Augen wahrzunehmen, ihn neu zu entdecken. Er verändert damit die Welt.
Schweizer Grand Prix Kunst / Swiss Art Awards

svf. Der Schweizer Grand Prix Kunst / Prix Meret Oppenheim ging dieses Jahr an den Landschaftsarchitekten Georges Descombes, an die Kuratorin Esther Eppstein und an die Künstlerin Vivian Suter. Er ist einer der bedeutendsten Preise, die der Bund verleiht. Die Preisträgerinnen und der Preisträger sind in filmischen Porträts in der Ausstellung des Bundesamts für Kultur (BAK) an der Art Basel vertreten.

Am Montag verlieh das BAK ebenfalls die Swiss Art Awards, die seit 2012 auch an über 40-Jährige vergeben werden, an elf der 320 Bewerberinnen und Bewerber aus den Bereichen Kunst, Architektur sowie Kritik, Edition, Ausstellung. Am Dienstag würdigte die Jury der Schweizer Designpreise 17 Projekte: 6 Preise im Grafikdesign, 3 in der Fotografie, 3 im Produktdesign, 3 im Textil- und Fashiondesign und 2 in der Vermittlung.

«Swiss Art Awards 2021», 20. bis 26. September, Halle 3, Messe Basel. Der Eintritt ist frei.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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