Artikel

Bauausstellung der Superlative
Neue Zürcher Zeitung

Ein Blick auf die IBA Emscher Park im Ruhrgebiet

Die Internationale Bauausstellung Emscher Park geht 1999 zu Ende. In den letzten zehn Jahren erhielten Baudenkmale des Industriezeitalters im Ruhrgebiet neue Funktionen, wurden brachliegende Areale zu einer zusammenhängenden Parklandschaft verknüpft. 120 Projekte geben dem Strukturwandel im grössten Ballungsraum Europas eine eigene Note.

2. Juli 1999 - Oliver G. Hamm
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Ruhrgebiet zur bedeutendsten Industrieregion in der Mitte Europas aufgestiegen. Kohle und Stahl bescherten dem losen Verbund kleinerer Orte eine sprunghafte Entwicklung zur grössten städtischen Agglomeration des Kontinents. Doch die Epoche der Industrialisierung brachte den Städten an Rhein, Ruhr und Emscher nicht nur einen enormen Aufschwung und einen beispiellosen Bevölkerungszuwachs. Sie hinterliess auch tiefe Wunden in der Landschaft, die es nach dem Ende des klassischen Industriezeitalters zu schliessen gilt. Der tiefgreifende Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Mediengesellschaft prägt mittlerweile viele Regionen in Europa. Im Ruhrgebiet hat der Prozess vergleichsweise früh eingesetzt. Wie schon vor 150 Jahren, zum Beginn der Industrialisierung, nimmt «der Pott» auch diesmal eine Vorreiterrolle ein. Das Ruhrgebiet verfügt heute über Erkenntnisse einer tiefgreifenden wirtschaftlichen, kulturellen und ökologischen, aber auch städtebaulichen und landschaftsplanerischen Revitalisierung, die sich auch andere Regionen Europas zunutze machen könnten.


Eine neue Qualität

Noch Anfang der neunziger Jahre wurde der Strukturwandel im Ruhrgebiet hart bekämpft. Doch die Besetzung der Rheinbrücken aus Protest gegen die Schliessung des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen markierte den Wendepunkt. Denn zur gleichen Zeit, als die Kumpel noch für einen Erhalt der Montanindustrie votierten, erlebte die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park ihre Geburtswehen. Sie sollte sich schliesslich als grösstes Investitionsprogramm der Region und des Landes Nordrhein-Westfalen entpuppen.

Bauausstellungen haben in Deutschland Tradition. Doch während Darmstadt (Mathildenhöhe, 1901), Stuttgart (Weissenhofsiedlung, 1927) und Berlin (Interbau, 1957) vor allem die neuesten architektonischen Stile und städtebaulichen Leitbilder feierten, wies erst die IBA 1984/87 in Berlin eine Alternative zur baukünstlerischen Leistungsschau. Zwar frönte auch sie mit der «IBA neu» der damals aktuellen Mode, nämlich der Postmoderne. Doch sie bändigte diese gleichsam mit dem städtebaulichen Paradigma der «kritischen Rekonstruktion», mit deren Hilfe die durch Bomben, Mauerbau und Abriss ganzer Strassenzüge entstellte Stadt geheilt werden sollte. Mit der «IBA alt» legte sie zudem grossen Wert auf die erhaltene, oft marode Bausubstanz, auf Nutzerbeteiligung und Selbsthilfe.

Die IBA Emscher Park, vor zehn Jahren vom damaligen nordrhein-westfälischen Bauminister Christoph Zöpel auf den Weg gebracht, orientierte sich an der Berliner «IBA alt» - und musste doch ganz neue Wege einschlagen. Denn im Ruhrgebiet ging es nicht, wie in Berlin, um die Revitalisierung einzelner Stadtteile, sondern einer aus 17 Städten bestehenden Region. Es ging nicht um die Frage, wie einzelne Gebäude zu sanieren oder einzufügen und Plätze zu gestalten seien, sondern darum, Konzepte für den «Wandel ohne Wachstum» einer durch 150 Jahre Industriegeschichte geprägten Stadtlandschaft zu finden. Zum ersten Mal stand nicht das Bauen, sondern das wohlüberlegte Zurückbauen und Uminterpretieren von ehemaligen Industriebauten und Industriearealen im Mittelpunkt einer Bauausstellung. Und zum ersten Mal waren nicht die Stadtplaner und Architekten tonangebend, sondern die Landschaftsarchitekten.


Grünes Rückgrat

Denn der übergreifende Planungsauftrag der IBA Emscher Park lautete, einen zur Abwasserführung missbrauchten und grösstenteils eingedolten Fluss freizulegen und zum Rückgrat einer 320 Quadratkilometer messenden Parklandschaft zwischen Duisburg und Hamm zu machen. Allein für das grüne «Herzstück» wurde seit 1989 eine von insgesamt fünf Milliarden Mark (davon zwei Milliarden Mark Privatinvestitionen) aufgewendet. Die Regenerierung der Emscher wird erst in 20 oder 30 Jahren abgeschlossen sein, doch der aus mehreren regionalen Grünzügen zusammengesetzte Emscher Landschaftspark nimmt mittlerweile konkrete Gestalt an. Damit das von der IBA Emscher Park begonnene Werk fortgesetzt werden kann, hat die nordrhein-westfälische Landesregierung die Gründung einer «Agentur Ruhr» beschlossen, die über jährlich 160 Millionen Mark verfügen soll.

Das Ruhrgebiet stellt sich seit 150 Jahren als extrem domestizierte Landschaft dar. Städte, Zechen- und Hüttenareale breiteten sich immer weiter auf Kosten der Natur aus. In nur zwei Generationen wurde soviel Siedlungsfläche verbraucht wie in viertausend Jahren zuvor. Nun soll das Prinzip der metastasenartigen Wucherung zugunsten der Natur umgekehrt werden. Die zwischen den Agglomerationen liegenden «grünen Inseln» erobern sich einst verlorenes Terrain zurück, indem sie sich auf industrielle Brachflächen ausweiten. Die Natur kehrt zurück in die Städte, deren Mitte - einst kaum zugängliche Industrieareale - sich in öffentliche Parks verwandeln.

Nicht die Rückkehr zur Naturlandschaft vor Beginn der Industrialisierung und nicht das Idealbild einer klassischen Parklandschaft hatten die IBA-Planer im Sinn, sondern die Kultivierung einer «Industrie-Folgelandschaft». Die baulichen Relikte der Industrialisierung spielen dabei eine grosse Rolle: Fördertürme und Hochöfen dienen als Landmarken, ehemalige Werkshallen und Verwaltungsgebäude wurden, meist mit geringem Aufwand, für neue Nutzungen hergerichtet. So dient die ehemalige Kraftzentrale des Hüttenwerks Meiderich in Duisburg seit 1997 als Multifunktionshalle, die auch höchsten akustischen Ansprüchen von Orchestern standhält.


Vom Hüttenwerk zum Landschaftspark

Das 1985 geschlossene Hüttenwerk Meiderich ist heute das Herzstück des rund 200 Hektar grossen Landschaftsparks Duisburg-Nord. Er wurde von dem Kranzberger Landschaftsplanern Latz und Partner unter weitgehendem Erhalt der industriellen Spuren gestaltet. Industriemuseum, Veranstaltungshalle, Volkspark, Abenteuerspielplatz und Spontanvegetation gehen eine Symbiose ein. Die ehemaligen Hochöfen des Hüttenwerks dienen als begehbare Skulptur, die an den Wochenenden nach einem Konzept von Jonathan Park, London, in farbiges Licht getaucht wird.

Eine ähnliche Metamorphose wie das Hüttenwerk Meiderich machte auch die 1986 stillgelegte Zeche Zollverein Schacht XII in Essen durch. Die Essener Architekten Heinrich Böll und Hans Krabel liessen das 1930 von Fritz Schupp und Martin Kremmer errichtete zwölfteilige Bauensemble restaurieren und für neue Nutzungen herrichten. Vor allem Künstler, etwa der Bildhauer Ulrich Rückriem, wissen die enormen Hallen kreativ zu nutzen. In das ehemalige Kesselhaus, das Norman Foster umbaute, zog 1997 das Design-Zentrum NRW ein. Inzwischen regt sich auf dem gesamten Areal neues Leben; entlang des Ende 1998 eröffneten Denkmalpfads lässt sich gut erkennen, dass sich die Natur mittlerweile grosse Teile der Zeche zurückerobert hat.


Kreislaufwirtschaft für Gebäude

Ein drittes IBA-Projekt ragt aus dem umfangreichen Bauprogramm besonders heraus - im wörtlichen Sinn: Der ehemalige Gasometer in Oberhausen, 1928/29 mit über 100 Metern der grösste Scheibengasometer der Welt, dient seit 1994 als aussergewöhnlicher Ausstellungsraum, der andernorts undenkbare Inszenierungen ermöglicht. Bis zum 3. Oktober ist dort Christos Installation «The wall» zu sehen, eine 26 Meter hohe Wand aus 13 000 farbigen Ölfässern. Weithin sichtbar wirbt der Gasometer für das IBA- Konzept, mit minimalen finanziellen und baulichen Mitteln ein Maximum an Effekt zu erzielen. Demonstrativ kehrt er damit das Prinzip des nur wenige hundert Meter entfernten «CentrO» um, der künstlichen «Neuen Mitte Oberhausens» und des grössten Einkaufszentrums Europas.

Der vielgelobte IBA-Direktor Karl Ganser wies zum Auftakt des IBA-Abschlussjahres Ende April in Duisburg darauf hin, dass sowohl das Hüttenwerk Meiderich als auch die Essener Zeche und der Gasometer ursprünglich hätten abgerissen werden sollen. Die IBA habe schnell handeln müssen und schliesslich den Beweis erbracht, dass sich für jeden alten Industriebau ein neuer Nutzen finden lasse - meist zu geringeren Kosten als für einen Neubau. Ganser warb auf der gleichen Veranstaltung für eine Kreislaufwirtschaft nicht nur bei ökologischen Systemen, sondern auch bei Gebäuden und im Flächenmanagement. So sei für keines der IBA-Projekte neues Bauland ausgewiesen, sondern grundsätzlich auf vorhandene, ehemals industriell genutzte Flächen zurückgegriffen worden.

So wird zum Beispiel der Innenhafen Duisburg seit 1992 nach einem Masterplan von Norman Foster zu einem Wohn- und Büroquartier mit Freizeiteinrichtungen umgestaltet. Hinter den umgenutzten Industriebauten entsteht ein neues Wohnareal, und demnächst wird ein von Dani Karavan gestalteter «Park der Erinnerungen» eröffnet, in den Gebäudefragmente ehemaliger Lagerhallen («künstliche Ruinen») einbezogen sind. Bereits eingeweiht wurde die von Zvi Hecker entworfene Synagoge und das Grothe- Museum in der ehemaligen Küppersmühle von Herzog & de Meuron.

Die Vielfalt, die sich im neuen Duisburger Innenhafen findet, steht symptomatisch für die Projekte der IBA Emscher Park. Eine Vielfalt, die auch das Programm «Finale IBA 99» prägt. Mit vier Ausstellungen, darunter der zentralen im Landschaftspark Duisburg-Meiderich, die bis zum 3. Oktober einen Überblick über die 120 Projekte gibt, und mit zahlreichen dezentralen Veranstaltungen feiert die grösste und ungewöhnlichste Bauausstellung aller Zeiten noch einmal ein rauschendes Fest. Sie hat Massstäbe gesetzt für einen neuen Typus von Bauausstellungen, für den Nachhaltigkeit und Innovation kein Gegensatzpaar bilden.

Oliver G. Hamm

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: